Tagesimpuls 10. Mai 2021 – Montag der sechsten Osterwoche
Lesung aus der Apostelgeschichte – Apg 16,11-15
11Wir brachen von Troas auf und fuhren auf dem kürzesten Weg nach Samothrake und am folgenden Tag nach Neapolis.
12Von dort gingen wir nach Philippi, in eine Stadt im ersten Bezirk von Mazedonien, eine Kolonie. In dieser Stadt hielten wir uns einige Tage auf.
13Am Sabbat gingen wir durch das Stadttor hinaus an den Fluss, wo wir eine Gebetsstätte vermuteten. Wir setzten uns und sprachen zu den Frauen, die sich eingefunden hatten.
14Eine Frau namens Lydia, eine Purpurhändlerin aus der Stadt Thyatira, hörte zu; sie war eine Gottesfürchtige, und der Herr öffnete ihr das Herz, so dass sie den Worten des Paulus aufmerksam lauschte.
15Als sie und alle, die zu ihrem Haus gehörten, getauft waren, bat sie: Wenn ihr überzeugt seid, dass ich fest an den Herrn glaube, kommt in mein Haus, und bleibt da. Und sie drängte uns.
Impuls:
„Ins Wasser fällt ein Stein, ganz heimlich, still und leise. Und ist er noch so klein, er zieht doch weite Kreise“ – Der Stein, der vor dem Grab Jesu stand und ins Rollen kam, hat weite Kreise gezogen. Immer weiter dringt das Evangelium vor bis zum Ende der Erde, wohin Paulus es tragen will. Der entscheidende Schritt ist in der Sicht des Lukas gemacht. Nach einer nächtlichen Vision setzen Paulus und seine Begleiter von Asien über auf den europäischen Kontinent.
Sie landen in Neapolis, heute Kavala, dem Hafen von Philippi. Dort findet sich heute noch ein eindrucksvolles Mosaik, das die Ankunft des Paulus zeigt. Sie betreten also griechischen Boden, der ihnen nicht wirklich fremd ist, denn auch die Städte und Landschaften, die sie in der Provinz Asien besucht hatten, sind gänzlich von griechischer Kultur geprägt. Aber jetzt kommt es zu einer noch weitreichenderen Begegnung mit der römischen Kultur. Philippi ist zur Zeit des Paulus eine Siedlung, in der v.a. Veteranen des römischen Heeres nach ihrer Entlassung eine Heimat finden. Hier gelten römische Bräuche, römisches Denken und römisches (italisches) Recht. Auf der via Egnatia, die die Adriaküste mit dem Bosporus verband, gelangen sie vom Hafen Kavala in die Stadt, die 355 v. Chr. von Philipp II. gegründet und 30 v. Chr. als „Colonia Iulia Augusta Philippensis“ von den Römern wiedergegründet wurde. Hier begegnen sich also christliche Missionsarbeit und heidnisch-römischer Glaube und Staatsmacht erstmals in direkter Konfrontation ohne die Klammer der griechischen Kultur.
Es scheint eine sehr bescheidene jüdische Gemeinde in Philippi gegeben zu haben. Groß kann sie nicht gewesen sein, denn Lukas spricht nicht von einer Synagoge. Außerdem bildet nur ein kleiner Kreis von Frauen die Gebetsgemeinschaft am wöchentlichen Ruhetag.
Aber unbemerkt von der Weltöffentlichkeit vollzieht sich für Europa eine Zeitenwende. Letztlich erleben wir die Geburtsstunde des „christlichen Abendlandes“ mit, auch wenn von einem schnellen Wachstum nicht die Rede sein kann. Der erste Mensch in Europa, der Christ wird, ist die Purpurhändlerin Lydia, keine Jüdin, sondern eine Gottesfürchtige, die mit dem Judentum sympathisiert. Das ist kein Zufall. Wie er den Jüngern von Emmaus die Augen geöffnet hatte, so öffnet der Herr nun Lydia das Herz, das in der biblischen Sicht als Sitz des Verstandes gilt. Sie wird gläubig und lässt sich taufen. Lydia muss eine sehr selbstbewusste Frau gewesen sein. Alles, was von ihr erzählt wird, lässt sie wie der Vorstand ihres Hauses erscheinen. Was sonst dem „pater familiae“ zukommt, entscheidet sie: Die Taufe der Familie und aller, die zum Haus gehören, und die Aufnahme der christlichen Missionare. In ihrem Haus findet die erste christliche Gemeinde auf europäischen Boden ihre Heimat.
Wieder zeigt uns Lukas, dass Gott seine ganz eigenen Pläne hat. Weder durfte Paulus seinem Willen folgen und tiefer in Richtung Schwarzes Meer vordringen, noch trifft er in Philippi auf die zu erwartenden „Funktionäre“ der Gemeinde. Der Geist des Herrn führt ihn nach Europa zu einer Purpurhändlerin, die zur tatkräftigen Unterstützerin der Missionsarbeit des Paulus wird. Der Stein des Glaubens, der ins Wasser der Welt fiel, zieht noch immer weite Kreise.
Sven Johannsen, Pfarrer