Macht Liebe blind?
Osterimpuls zum Tagesevangelium
Wir alle brauchen Kontakte mit Menschen und die Erfahrung von Gemeinschaft. Wir sehnen uns nicht nur nach realen, sondern auch nach echten Begegnungen. Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber hat es einmal so ins Wort gebracht: Alles wirkliche Leben ist Begegnung.
In den Evangelien können wir lesen, wie die Jünger - und zwar jeder auf seine Weise - dem Auferstandenen begegnet ist und wie jeder ihn erst neu entdecken und erkennen musste. Gerade diese Begegnungen mit dem, der ja von sich einmal gesagt hat: Ich bin das Leben (Joh 14,6), führen seine engsten Vertrauten auch in eine neue Dimension von Leben.
Heute nehmen wir an einer besonders innigen Begegnung des Auferstandenen teil, nämlich an der mit Maria Magdalena. Man möchte fast das gute, alte Sprichwort bemühen und es selbst auf diese biblische Szene anwenden: Liebe macht blind! Aber kann das wirklich sein? Man hat fast den Eindruck, denn sie erkennt Jesus nicht.
Ausgerechnet die Frau in der Nähe Jesu. Die, die sich in besonderer Weise durch ihre Verehrung und Hingabe an die Person des Meisters ausgezeichnet hatte. Sie wird zum Beispiel mit der namenlosen Frau identifiziert, die im Lukasevangelium plötzlich und unaufgefordert an Jesus herantritt, ihm die Füße mit kostbarem Öl salbt, selbige mit ihren Tränen benetzt und diese schließlich mit ihren Haaren abtrocknet - sehr intim. Jesus kommentiert dieses Schauspiel einem Pharisäer gegegnüber, „weil sie viel geliebt hat“ (7,47). Ist es vorstellbar, dass gerade diese Frau Jesus nicht erkennt? Macht Liebe im wahrsten Sinne des Wortes also blind?
Im Johannesevangelium (Joh 20,11-18), das heute in der katholischen Messfeier verkündet wird, sieht diese Szene so aus: Maria Magdalena - weinend vor dem leeren Grab - sie beugt sich hinein. Sie sucht Jesus, den sie aus dem Grab fortgenommen glaubt. Dann kommt es zur österlichen Begegnung:
14 […] Da wandte sie sich um und sah Jesus dastehen, wusste aber nicht, dass es Jesus war. 15 Jesus sagte zu ihr: Frau, warum weinst du? Wen suchst du? Sie meinte, es sei der Gärtner, und sagte zu ihm: Herr, wenn du ihn weggebracht hast, sag mir, wohin du ihn gelegt hast. Dann will ich ihn holen. 16 Jesus sagte zu ihr: Maria! Da wandte sie sich ihm zu und sagte auf hebräisch zu ihm: Rabbuni!, das heißt: Meister.
Maria erkennt Jesus zunächst nicht, sie hält ihn für den Gärtner. Macht Liebe blind? Im Gegenteil!
Maria erkennt Jesus als er sie bei ihrem Namen ruft: Maria! Als ob er sie an den Schultern schütteln wollte! Maria - mit welcher Zärtlichkeit.
Am Klang der Stimme, in der Art wie mein Name ausgesprochen wird, kann ich jemanden erkennen. Im Mund von Liebenden hören sich deren Namen anders an als wenn ein Schalterbeamter sie ausspricht. Maria fallen die Schuppen von den Augen ihres Herzens und ihres Glaubens als sie ihren Namen hört und sie antwortet mit „Rabbuni!“, das heißt eigentlich richtiger übersetzt: „mein Rabbi“, „mein Meister“. Und so erkennt Maria auch die österliche Dimension, die neue Wirklichkeit des Lebens Jesu, versteht immer besser, was sie da am Grab erlebt. Alles wirkliche Leben ist Begegnung - Maria findet Jesus neu und wieder in dieser Begegnung.
Liebe macht also nicht blind - Liebe sieht mehr! Liebe Schwestern und Brüder, ein solches Sehen, ein solches Finden und ein solches Erfahren des Auferstandenen wünsche ich uns allen in einer Zeit, in der wir uns besonders nach Begegnungen sehnen. Denken wir daran, dass jede und jeder Einzelne von uns im österlichen Sakrament der Taufe vom auferstandenen Jesus bereits mit Namen gerufen wurde!
Frohe Ostertage wünscht Ihnen
Ihr
Pfarrvikar Christian Nowak