Liebe Schwestern und Brüder
„Jesus“ oder „der Gott“ - Kinder sind schlau und wissen ganz genau, dass sie mit diesen beiden Antworten mindestens 2/3 aller Fragen des Pfarrers im Religionsunterricht mit Bravour meistern können.
Gemäß der Wahrscheinlichkeits-rechnung eines strategisch denkenden Schülers kann man nur in den seltensten Fällen falsch liegen mit diesen beiden Antworten, höchstens wenn der Pfarrer fragt, warum Muslime fasten oder Juden Pessach feiern. Alles dreht sich in der Kirche um Jesus, daran lässt kein Papst, Bischof oder Theologe je einen Zweifel. Dennoch bleibt Jesus seltsam blass in Predigten, kirchlichen Positionspapieren oder päpstlichen Lehrschreiben. Es regt sich manchmal der Verdacht, dass Jesus und die Evangelienoft nur als Argument dienen, um die eigene Sicht der Welt, der Kirche und des Lebens zu bestätigen. Die Jesus-Überlieferung wirkt dann wie ein Steinbruch, aus dem das Material abgebaut werden kann, das dann zum Bau des eigenen Denk- und Lehrgebäudes dient. Ich unterstelle einmal, dass wir in einer gottesdienstlichen Versammlung ganz schnell ein buntes Album von Jesus-Erzählungen sammeln könnten: Manche bewundern Jesus für seine beeindruckende Zuwendung zu den Menschen am Rande, Armen, Ausgestoßenen und Frauen. Andere lieben die großen Wundererzählungen und Heilungen oder sind fasziniert von seiner Souveränität gegenüber Gegnern im religiösen Judentum. Jesu ungewöhnliches Handeln im Umgang mit Zachäus und anderen Sündern ist eine wichtige Mahnung, im eigenen Leben Grenzen zu überwinden. Seine Bereitschaft, das Kreuz anzunehmen, offenbart uns, wie sehr Gott sich für uns Menschen hingibt. Viele Mosaiksteine von Erzählungen prägen unser Jesusbild, aber oft geben sie nur einen kleinen Ausschnitt und kein Gesamtbild, weil ein umfassender Blick auf Jesus als den wahren Gott und wahren Mensch fehlt. Jesus ist nicht nur ein guter Mensch, ein Rebell gegen menschenfeindliche Strukturen, ein neuer Mann, der für ein ganz anderes Miteinander der Geschlechter steht, ein faszinierender Prediger, der in einer neuen Sprache von Gott redet, ein gescheiterter Weltverbesserer, der Opfer von Strukturen und menschlicher Unbarmherzigkeit wird. Alle diese Zugänge sind nur kleine Scheinwerfer, die nie das Ganze erfassen.
Nach der Überlieferung der ersten drei Evangelien fragt Jesus eine Woche vor der Verklärung auf dem Berg Tabor, von der wir heute hören, die Jünger in Caesarea Philippi: „Ihr aber, für wen haltet ihr mich?“ (Mt 16,15) Petrus antwortet ihm: „Du bist der Messias, der Sohn Gottes“. Papst Benedikt hat diese Frage Jesu nach seiner Identität als die „Stunde des Examens“ für die Apostel bezeichnet. Petrus und die Jünger können die Prüfung nur bestehen, weil sie schon einen reichen Schatz an Erfahrungen mit Jesus gemacht haben. Die Jünger haben mit eigenen Augen gesehen: Er lässt Menschen die liebende Gegenwart seines Vaters spüren, indem er Kranke heilt, in Gleichnissen die Zuhörer auf die Gegenwart Gottes hinweist, schuldig gewordene Menschen durch seine Vergebungsworte aus ihrer Verstrickung befreit und Ausgestoßene an seinen Tisch einlädt. Auf dieser Basis können sie es wagen, über das Erzählen von besonderen Geschichten hinauszugehen und ein eigenes Bekenntnis zu formulieren: „Du bist der Sohn Gottes, der Messias, der den Vater offenbart und uns ein neues Leben ermöglicht.“ Ich bezweifle, dass die Art, wie Jesus im Augenblick in der Kirche verkündet wird, Menschen eine Hilfe ist, solche Erfahrungen zu machen, die sie selbst zu der Überzeugung kommen lässt, wer Jesus für sie ist. Eugen Biser, der große Vordenker einer Erneuerung der Sprache des Glaubens, hat immer wieder gemahnt, den „Geglaubten“ neu zum „Anstifter des Glaubens“ werden zu lassen, also Christus als den „Inhalt“ des Glaubensbekenntnis wieder als Beweger zum Glauben erstrahlen zu lassen. Wir predigen und lehren Christus, aber der „Geist der Schwere“, der über der Glaubensverkündigung in unserer Zeit liegt, wird sich nur heben, wenn Jesus wieder selbst predigt und lehrt. Wir haben eine Lehre über Jesus, die wir „Christologie“ nennen, aber letztlich ist er der einzige „Lehrer“ (Mt 23,10). Ähnliches hat Papst Benedikt XVI. schon in den siebziger Jahren während der sog. Würzburger Synode angemahnt: „Die Krise des kirchlichen Lebens beruht letztlich nicht auf Anpassungsschwierigkeiten gegenüber unserem modernen Leben und Lebensgefühl, sondern auf Anpassungs-schwierigkeiten gegenüber dem, in dem unsere Hoffnung wurzelt und aus dessen Sein sie ihre Höhe und Tiefe, ihren Weg und ihre Zukunft empfängt: Jesus Christus mit seiner Botschaft vom Reich Gottes“ (zit. in: Kurt Koch; Bund zwischen Liebe und Vernunft, Freiburg i. Br. 2016; S 117). Ich würde dem Theologen Joseph Ratzinger nicht folgen, wenn er mit diesen Worten sich gegen jede Öffnung der Kirche für Veränderungen positionieren will, aber ich stehe ganz bei ihm, wenn ich aus seinen Worten höre, dass es nicht reicht, moderner zu reden und zu handeln, sondern die eigentliche Herausforderung für die Kirche viel tiefer liegt, nämlich Christus so zu bezeugen, dass er selbst wieder zu den Menschen spricht. Er ist nicht Objekt des Christentums, er ist das Subjekt: Wir sind Christen, weil wir von ihm in der Taufe zu Schwestern und Brüder gemacht wurden, ihn in unserem Leben erfahren und davon sprechen können. Wir müssen Jesus nicht beweisen oder seine Taten und Lehre rechtfertigen, wir bezeugen sie. Dazu brauchen wir aber ein eigenes Bild von Jesus, das auf unserem oft sehr begrenzten Wissen aufbaut, und wir brauchen eine verantwortete Überlieferung vom historischen Jesus, der als Mensch vor 2000 Jahren in Israel lebte. Um diese letzte Dimension bemüht sich die sog. „historisch-kritische“ Exegese, die die Texte des Neuen Testaments erforscht, nach dem fragt, was geschichtlich Bestand hat, und versucht, die ursprüngliche Jesus-Botschaft von Zusätzen und Erweiterungen zu reinigen. Dazu hält sie sich an strikte Regeln der Literatur- und Geschichtswissenschaften, um im Dialog der Forschung glaubhaft zu bleiben. Besonders in den letzten 150 Jahren wurden dabei viele Thesen aufgestellt, die ein zu verklärtes Jesusbild ins Wanken gebracht haben. Wir können heute dank der historisch-kritischen Exegese die Wurzeln Jesu im jüdischen Denken viel besser erkennen als früher und so auch Brücken bauen zu unseren älteren Geschwistern. Wir sehen unterschiedliche Schwerpunktsetzungen bei den vier Evangelisten, die mit ihren Gemeinden und deren Umfeld zu tun haben. Wir verstehen die Gründe für den Tod Jesu neu als römische Reaktion auf die Gefahr eines Aufruhrs und verhindern so eine Diffamierung jüdischer Gläubige als „Gottesmörder“. Die historische Erforschung der Texte der Bibel und des Lebens Jesu haben uns viele Erkenntnisse gebracht, aber auch ratlos gemacht. In seinem Vorwort zu seinem ersten Jesus-Buch, das ja eigentlich den zweiten Band darstellt, weist Papst Benedikt XVI auf ein großes Dilemma hin, das sich mit der wissenschaftlichen Forschung verbindet: „Der Riss zwischen dem „historischen Jesus“ und dem „Christus des Glaubens“ wurde immer tiefer; beides brach zusehends auseinander. Was aber kann der Glaube an Jesus den Christus, an Jesus den Sohn des lebendigen Gottes bedeuten, wenn eben der Mensch Jesus so ganz anders war, als ihn die Evangelisten darstellen und als ihn die Kirche von den Evangelien her verkündigt?“ (Joseph Ratzinger Benedikt XVI., Jesus von Nazareth Erster Teil: Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung; Freiburg i. Br. 2007; S. 10) Viele heutige Gläubigen können dieser schmerzhaften Beobachtung eines Risses im Jesusbild teilen: Jesus ist sprachlos und abstrakt geworden, weil man kaum noch weiß, was man gesichert über ihn sagen darf, wenn wir nie genau wissen, ob es historisch ist oder nicht. Jesus rückt in eine weite Ferne und wirkt uns dadurch entzogen wie eine Figur der Geschichte, von der man zwar weiß, dass sie gelebt hat, aber nicht bestätigen kann, was sie wirklich gesagt und getan hat. Jedes Bemühen, Jesus wieder stärker als Mitte des christlichen Glaubens leuchten lassen zu wollen, muss zwei Herausforderungen gerecht werden: der wissenschaftlichen Erkenntnis über das Leben Jesu und dem Glauben an den Sohn Gottes in der Kirche, der über Jahrhundert organisch gewachsen ist und neue Begriffe und Zugänge gefunden hat. Wer von Jesus spricht, muss sich an die Fakten halten, darf sich aber nicht auf die Geschichte allein beschränken. Aber genau über diese Hürde kommt nach Meinung Benedikts die wissenschaftliche Erforschung des Neuen Testaments nicht hinüber. Sie ist gefangen in ihrer rein geschichtlichen Betrachtung. Deshalb bedient er sich in seinen drei Jesus-Büchern einer anderen Methode, der sog. kanonischen Exegese, die diese Grenze überspringt. Sie ist inspiriert vom Gedanken des zweiten Vatikanums, die Schrift in ihrer Ganzheit und in ihrer lebendigen Überlieferung der ganzen Kirche zu achten, d.h. nicht einzelne Schriften separat zu lesen, sondern die ganze Bibel von Jesus als dem Sohn Gottes, der den Vater offenbart, zu verstehen. Ebenso muss die Heilige Schrift als Schrift des wandernden Gottesvolkes gelesen werden, in dem sie lebt, d.h. sie ist nicht ein abgeschlossenes literarisches Werk, dem ich nur gerecht werde, wenn ich das, was ganz am Anfang stand, rekonstruieren kann. Papst Benedikt betont in seinen Jesus-Büchern die Wichtigkeit der historischen Forschung, aber letztlich weist er sie deutlich in ihre Schranken, indem er ihr nur eine begrenzte Aussagekraft zuspricht. Das hat Kritik ausgelöst, auf die ich nicht näher eingehen will. Er selbst macht deutlich, dass seine drei Bücher über Jesus Christus keine lehramtliche Verlautbarung darstellen. Er schreibt keinen Jesus-Katechismus, in dem er aufzählt, was über Jesus aus der Bibel her geglaubt werden muss und was nicht behauptet werden darf. Seine Darstellung des Lebens in einer Zusammenschau der vier Evangelien und der Tradition der Kirche sind weder eine dogmatische Abhandlung noch ein exegetisches Fachbuch, mit dem man eine Examensprüfung am Ende eines theologischen Studiums bestehen kann. Sie ist aber auch kein erbauliches Andachtsbuch, sondern - das ist entscheidend - das Christusbekenntnis des Nachfolgers des Heiligen Petrus, mit dem er seine Schwestern und Brüder stärken will, wie es ihm Christus aufgetragen hat. (Lk 22,32). Ich kann gestehen, dass seine Bücher mir sehr geholfen haben für meinen Zugang zu Jesus Christus, der im Zentrum meines Glaubensbekenntnis steht, aber eben auch immer Thema historischer Forschung ist. Ich sehe auch, dass Benedikt bestimmte Erkenntnisse der historischen Exegese nicht aufnimmt, aber ich achte die Zusammenschau als den gelungenen Versuch des Papstes, am Anfang seines Pontifikates aufzuzeigen, wie er den Christus sieht, den er als Stellvertreter auf Erden in seinen Predigten verkündet. Sein Entwurf ist deshalb so einzigartig, weil er wirklich eine Gesamtschau des Lebens und Lehrens Jesu entwirft, die versucht, wissenschaftlichen Erkenntnissen gerecht zu werden und zugleich das Bekenntnis der Kirche zu Jesus glaubwürdig hörbar zu machen. Er ist sich bewusst, dass er dafür kritisiert werden kann. Wenn Benedikt über Jesus schreibt, dann äußert sich nicht nur das Oberhaupt der katholischen Kirchen, sondern auch ein großer Denker unserer Zeit, der ein langes Leben lang über Jesus nachgedacht hat. Sein Werk ist das Ergebnis eines langen Suchens „nach dem Angesicht des Herrn“ (S. 22). Das macht seine Erkenntnisse schon lesenswert, selbst wenn jemand zu anderen Antworten kommt. Es geht nicht um Streitigkeiten zwischen Wissenschaftlern, sondern um eine Hilfe und Einladung für Christen, selbst aus der Botschaft der Evangelien wieder zu einer persönlichen Erfahrung Jesu in ihrem Leben zu kommen, und so zu wagen, was Benedikt in seiner Einführungspredigt an den Schluss als Wunsch stellte:
„Habt keine Angst vor Christus! Er nimmt nichts, und er gibt alles. Wer sich ihm gibt, der erhält alles hundertfach zurück. Ja, aprite, spalancate le porte per Cristo – dann findet Ihr das wirkliche Leben. Amen.“
Sven Johannsen, Lohr