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Predigt Silvester 2021

Welches Lied haben Sie für den Abschied vom Jahr 2021?“

2021_Du_hast_den_Farbfilm_vergessen.pdf

(Kantor spielt „Du hast den Farbfilm vergessen...“)

 

Liebe Schwestern und Brüder

 

Haben Sie erkannt, was unser Kantor gerade eingespielt hat? „Du hast den Farbfilm vergessen“, eines von drei Werken, die sich die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel zum großen Zapfenstreich aus Anlass ihres Ausscheiden aus dem Amt wünschte. Ergänzt wurde der Song durch Hildegard Knefs „Für mich soll's rote Rosen regnen“ und den großen Dankchoral „Großer Gott, wir loben dich“. So schön und bedeutend die beiden anderen Werke sind, die Sensation war doch „Du hast den Farbfilm vergessen“. Selbst das Stabsmusikcorps der Bundeswehr war überrascht und musste dafür ein neues Arrangement schaffen. Aber es passte gut für den Abschied der Kanzlerin, die ja aus der Region stammt, die Schauplatz der Beziehungskrise ist, die im Lied besungen wird. Angela Merkel hat zugegeben, dass der Schlager, den Nina Hagen berühmt gemacht hat, ein Highlight ihrer Jugend in der DDR war. Die „Mutter des Punk“ hat als 19 Jährige v.a. die Sehnsucht auf Ausbruch aus dem tristen und grauen Alltag ihrer DDR-Jugend mit dem Lied verbunden. Nach 16 Jahren an der Spitze der Macht nimmt Merkel Abschied und alle warten auf einen fulminanten Schlusspunkt mit rührenden Szenen. Angeblich hat sie tatsächlich Emotionen erkennen lassen, aber möglicherweise sahen manche Redakteure und Fotografen auch einfach das, was sie später schreiben wollten. Wahrgenommen habe ich diese Rührung nicht sehr, vielmehr schien es mir, als ginge sie mit jener gleichmütigen Gelassenheit, die wir an ihr in vielen anscheinend berührenden Situationen erlebt haben. Mit Ausnahme von Siegen der Nationalmannschaft war es ihre Stärke, nicht die Fassung zu verlieren, sich übermäßig zu freuen oder zu ärgern. Da passt es gut, dass sie Abschied genommen hat von 16 Jahren, einer politischen Ära, mit diesen drei Liedern. Möglicherweise kann ihre Liedauswahl auch uns helfen, gelassen von diesem Jahr 2021 mit seinen Höhen und Tiefen, seinen Enttäuschungen und Freuden, Abschied zu nehmen.

 

1. „Du hast den Farbfilm vergessen, mein Michael“

Die Versuchung ist groß, hinter dem Lied mit dem Mix aus mitreißender Melodie und aggressiven Text einen tieferen Sinn zu suchen als die Verärgerung der Freundin über ihren Freund, der nur Schwarz-Weiß-Bilder von ihrem Urlaub auf Hiddensee machen kann. Ist es eine Anklage gegen die Mangelwirtschaft in der damaligen DDR? Irgendeine tiefere Botschaft muss sich doch dahinter verstecken! Ich glaube, dass es einfach die Sehnsucht nach Unbeschwertheit, Farbe im Leben und Ausgelassenheit ist. Trüb und grau ist genügend in diesen Tagen. Mancher mag geneigt sein, diese Tage auch nur in Schwarz-Weiß zu sehen.
Es gab aber auch die unbeschwerten Momenten, die unser Leben bunt gemacht haben: Feiern, Urlaub, glückliche Augenblicke, in denen Corona, Sorgen und Probleme ganz weit weg waren. Das gehörte auch zu diesem komplizierten Jahr, das uns so schwer enttäuscht hat, weil es die Erwartung auf Besserung nicht erfüllt hat.

Auch in unserer Pfarrei haben wir unbeschwerten Momente erlebt, die ein buntes Gemeindeleben erlaubt haben: Wir konnten wieder auf Reisen gehen, haben gefeiert, v.a. die Familien haben in der Adventszeit ein wunderbares Programm geschafft, das die Gemeinschaft förderte. Wir konnten Gottesdienst feiern und uns gerade auch an Weihnachten über volle Christmetten und Gottesdienste freuen.

Nina Hagen hat nach Bekanntgabe der Liedauswahl von Angela Merkel an der Unbekümmertheit ihres eigenen Schlagers gekratzt und darauf hingewiesen, dass der Verfasser des Textes, Kurt Demmler, ein vom Regime in Ostberlin begünstigter Künstler war und später wegen Missbrauch angeklagt wurde.

In das Unbeschwerte mischt sich das Belastende. Im privaten Leben waren mitunter auch die Tage der Ausgelassenheit von Schicksalsschlägen, Todesfällen, Sorgen um Beruf und Familie überschattet.

Mit Blick auf unsere Pfarrei muss ich zugeben, dass mir die sehr hohe Zahl von Kirchenaustritten zwar nicht den Spaß an der Arbeit und die Freude über viele Ehrenamtliche und Gottesdienstbesucher verderben kann, aber schon Sorgen bereitet für die Zukunft der Kirche. 41 Kirchenaustritte im Stadtgebiet Lohr sind erschreckend, v.a. wenn man sieht, dass es sich mitunter um ganze Familien handelt, die jetzt keinerlei Bezug mehr zur Katholischen Kirche vor Ort haben. Auch die bundesweiten Zahlen machen nachdenklich. Erstmals stellen Christen am Ende des Jahres nicht mehr die Hälfte der deutschen Bevölkerung. Wir werden zur Minderheit und das wird auch das Leben der Gemeinden vor Ort beeinflussen. Finanzielle Mittel werden knapp, das Interesse an unserer Botschaft nimmt ab, viele Rituale und christliche Feiertage werden immer mehr entleert. Es ist sicher unfair, alle Schuld auf Kardinal Wölki zu schieben, auch wir als Pfarrer und Team schaffen es nicht ausreichend die Brücke zu manchen Menschen zu finden. Aber ohne Zweifel haben die Vorgänge und die Austrittswelle in Köln viele Menschen mitgerissen. Von daher mag ich mich nicht in Selbstzweifeln und trübsinnigen Gedankenspielen verlieren. Es war für unsere Gemeinde durchaus ein gutes Jahr, aber kein sorgenfreies. Wir stehen sicher vor großen Herausforderungen in der Zukunft.

 

2. „Für mich soll's rote Rosen regnen“

Ist das nicht ein wenig egoistisch für eine Kanzlerin? „Für mich soll's rote Rosen regnen!“ Muss eine Staatsdienerin nicht immer nur an das Wohl des Landes und aller Bürgerinnen und Bürger denken? Das will ich ihr in ihrer unaufgeregten Art durchaus als Leitmotiv ihrer politischen Arbeit unterstellen. Dennoch bleiben auch die Mächtigen Menschen mit Sehnsüchten, mit Wünschen, Hoffnungen, Enttäuschungen und bitteren Erfahrungen. Wenn der Wunsch nach dem Rosenregen ihr politisches Handeln bestimmt hätte, dann wäre es tatsächlich ein falscher Leitgedanke. Wenn der Wunsch aber davon spricht, dass auch Politikerinnen und Politiker keine Roboter sind, sondern auch Menschen, die Entscheidungen manchmal mehr mit dem Herzen als mit dem Verstand treffen, wie z.B. 2015 am Beginn der Flüchtlingskrise, dann halte ich es für sehr passend.
Persönlich werden wohl die meisten von uns sagen, dass ihr Lebensmittel-punkt andere Menschen sind, ihre Familie, Freunde, aber auch - ich denke da an Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Krankenhäusern, Seniorenzentren, Sozialstationen, Hilfsorganisationen und Kirchengemeinden - Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind. Oft habe ich beim Abschied von älteren Frauen von ihren Kindern gehört, dass sie ganz für die Familie gelebt hat. Das glaube ich unbedingt. Dennoch bin ich überzeugt, dass auch Helfer und Menschen, die ganz für andere da sind, keine Computer sind, sondern Wünsche und Hoffnungen haben. Manchmal sind die roten Rosen einfach der Dank, ob in Wort, in Blicken oder Gesten, den man erfährt. Ich hoffe, dass Sie auch erlebt haben, dass es in diesen Jahr für Sie hin und wieder rote Rosen geregnet hat, der Alltag nicht nur trüb und grau war, sondern aufgeheitert wurde durch schöne Begegnungen, Ereignissen und Erlebnissen in den vergangenen Tagen.

Sicher hat dieses Gefühl vom Rosenregen auch die „mutigen“ vier Paare begleitet, die in diesem außergewöhnlichen Jahr ihre Trauung gefeiert haben, und die Eltern der siebzehn Kinder, deren Geburt wir gefeiert und sie getauft haben. Geburtstage, Geburten, Jubiläen, schöne Tage - rote Rosen hat es wohl für jeden von uns geregnet.
Auch in unserer Gemeinde hat es rote Rosen geregnet. Neue Ehrenamtliche im Team des Blumenschmucks, acht neue Ministrantinnen und Ministranten, die voller Eifer ihren Dienst versehen, ein Kinderkirchenteam, das mit Elan die Adventszeit gestaltet hat, ein Liturgiekreis, der wieder starke Akzente setzt, z.B. das Gebet nach Ladenschluss, die Feier am Dreikönigstag oder die Evensongs, die jetzt mit dem Fest Mariä Lichtmess starten.
Es hat für uns rote Rosen geregnet, aber Rosen haben auch Dornen und manchmal schmerzt es, wenn es Streit gibt oder Menschen sich zurückziehen.

 

3. „Großer Gott, wir loben dich…“

Am Ende der Vigil, der klösterlichen Nachtwache, steht das „Te Deum“ als Dank für die Sicherheit in der Nacht und den Beginn des neuen Tages. Die ganze Schöpfung lobt nun den dreifaltigen Gott und vereinigt sich mit dem Lobgesang der Apostel, Propheten, Engel und Heiligen. Außerhalb der Klöster ist der Hymnus der feierliche Dank- und Lobgesang an großen Festen und besonderen Ereignissen. Nach der Wahl eines neuen Papstes stimmen die Kardinäle noch in der Sixtinischen Kapelle das „Te Deum“ an. In unserer Liturgie gehört es zu jedem Hochfest als Schlussgesang von Gottesdiensten und Prozessionen, zu dem das volle Geläut der Stadtpfarrkirche ertönt. Das „Te Deum“, einer der ältesten Lobgesänge der Kirche, ist uns vertraut in seiner Liedfassung von Ignaz Franz „Großer Gott, wir loben dich.“ Es ist der stimmgewaltigste Dank, den wir vor Gott bringen können. Wenn wir den Hymnus nach alter Tradition an das Ende dieses Jahres setzen, dann bekennen wir auch, dass wir bei allen Widrigkeiten und Enttäuschungen Grund zum Danken haben für diese Zeit. Sie ist Geschenk. Wir können nicht die Umstände, die die 365 Tage begleiten, aber es liegt in unserer Hand, diese Zeit zu nutzen zum Leben. Wahrscheinlich hat auch die Kanzlerin mit dem Choral „Großer Gott, wir loben dich“ nicht nur an ihre Herkunft aus einer Pfarrersfamilie erinnern wollen, sondern auch sich bewusst gemacht, dass neben Logik, Diplomatie und kluger Politik viele Geschicke nicht in unserer Hand liegen. Sie hat ihre Amtszeiten immer mit der Beifügung zur Eides-formel „so wahr mir Gott helfe“ begonnen. Mehr können wir auch nicht tun. Unser Handeln ist nicht perfekt, aber wir können vertrauen, dass er hilft, wenn wir ihn lassen. Und am Ende dürfen wir danken für das Schöne und Gute in diesem Jahr, sicher nicht für das Böse und Schwierige, aber für die Kraft sie zu bestehen und daran zu reifen.

 

Welche Lieder fallen Ihnen ein zum Abschied vom Jahr 2021?

Vielleicht Peter Alexanders „Die kleine Kneipe“ als Sehnsucht nach einem unbeschwerten Besuch im Gasthaus? Oder Reinhard Meys „Über den Wolken“ als Hoffnung auf Reisen und Entdecken neuer Kulturen?

Als Pfarrer kommt mir ein Lied von Georg Neumark in den Sinn: „Wer nur den lieben Gott lässt walten.“ Es ist ein Lied mit fast kindlichem Gottvertrauen, das aber einen sehr dramatischen Hintergrund hat. Neumark wird auf der Reise nach Königsberg überfallen und ausgeraubt. Mittellos kommt er erst nach Hamburg und später nach Kiel, wo er eine Stelle als Hauslehrer findet, die ihn wieder in ein ordentliches Leben zurückkehren lässt. Mit diesem Lied kann ich mich gut von 2021 verabschieden: Es war sicher nicht das glücklichste und beste Jahr im Blick auf die äußeren Umstände, aber es war auch kein Abgrund. Es war ein Jahr, an dessen Ende ich mit der letzten Strophe von Neumarks Lied bekennen kann:

 

Sing, bet und geh auf Gottes Wegen / Verricht das Deine nur getreu / Und trau des Himmels reichem Segen / So wird Er bei dir werden neu. / Denn Welcher seine Zuversicht / Auf Gott setzt den verlässt Er nicht.

 

Einen besseren Rat kann uns 2021 nicht mitgeben für das neue Jahr. Amen.

 

Sven Johannsen, Pfarrer Lohr

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