Wahrheit_Benedikt.pdfLiebe Schwestern und Brüder
Sodom und Gomorrha in einem ehrwürdigen Benediktinerkloster: Häresien, weltliche Verfehlungen und ermordete Mönche, deren Tod apokalyptische Bilder wecken. Das Tatmotiv: Die Menschen vom Lachen abhalten.
Mancher hat es schon erkannt: Es geht um den Roman „Der Name der Rose“ von Umberto Eco, der vor 40 Jahren in deutscher Sprache erschien. Der Mittelalter-Krimi wurde ein Bestseller, der bis heute in den Leselisten einen hohen Platz einnimmt. Der Schauplatz für Ecos Erzählung ist eine prächtige Abtei an den Hängen des Apennin, die sich rühmen darf, eine der wertvollsten Bibliotheken der Welt zu besitzen. In ihr soll ein Buch aufbewahrt sein, das eigentlich als verschollen gilt: Das zweite Buch der Poetik des Aristoteles. In diesem Buch soll der große Philosoph über die Komödie und das Lachen nachgedacht haben. Da die mittelalterliche Philosophie des Thomas von Aquin stark von Aristoteles beeinflusst war, könnte diese Schrift das Wesen des christlichen Glaubens von einer ernsthaften und strengen Mahnung, unterstützt durch viele Drohungen und Höllenvisionen, umkehren zu einer frohen Botschaft, die das Leben leichter macht. Das will ein uralter Mönch, Jorge von Burgos verhindern und ermordet dafür fast den halben Konvent. Sein Gegenspieler ist der Franziskaner William von Baskerville, ein kluger Theologe und Detektiv, der in früheren Zeiten für die Inquisition tätig war. Oberflächlich geht es um eine Mordserie. Tiefer aber spinnt Eco noch Erzählfäden, in denen die Auseinandersetzung zwischen Papst und Kaiser im 14. Jh. und der Streit um die echte Armut zwischen Franziskanern und Kirchenleitung thematisiert werden. Eco, der sich selbst als Agnostiker bezeichnete, hat seinen Roman auch als flammendes und kluges Plädoyer gegen Fanatismus und Fundamentalismus als Gefahren des Glaubens geschrieben. Der Roman endet fulminant in einem Meer aus Blut und Flammen. Der grausame Inquisitor Bernardo Gui stirbt auf der Flucht vor der wütenden Bevölkerung des nahen Dorfes, Jorge von Burgos, der mordende Greis, der die Ernsthaftigkeit des Glaubens verteidigen will, kommt mit dem Buch in den verworrenen Gängen der Bibliothek um und die Abtei mit ihren prächtigen Gebäuden geht in Flammen auf. Mit Blick auf die zerstörte Bibliothek gibt William seinem Schüler Adson einen wichtigen Rat für seinen Glauben und das Leben: „Vielleicht gibt es am Ende nur eins zu tun, wenn man die Menschen liebt: sie über die Wahrheit zum Lachen bringen, ja die Wahrheit zum Lachen bringen, denn die einzige Wahrheit heißt: lernen, sich von der krankhaften Leidenschaft für die Wahrheit zu befreien.“
„Lernen, sich von der krankhaften Leidenschaft für die Wahrheit zu befreien“ - ist die Mahnung nur an den jungen Adson gerichtet oder nicht eine Weisung an alle Menschen? Geht es im Glauben nicht darum, nach einer letztgültigen Wahrheit zu suchen, ja sogar zu behaupten, sie gefunden zu haben und zu besitzen? Ohne Zweifel gehört diese Versuchung zu den Gefahrenquellen der Religion. In Geschichte und Gegenwart können wir unzählige Beispiele dafür finden, dass Menschen in der Überzeugung, dass sie allein die Wahrheit haben, Leid und Tod über andere Menschen gebracht haben und es als Selbstmordattentäter noch immer tun. Das ist nicht das Problem einer einzigen Religion, sondern Versuchung aller Glaubensüberzeugungen. Die Fixierung auf die Wahrheit, so der Einwurf vieler Kritiker, führt zu Fundamentalismus und fanatischem Terror.
Gerade in unserer Zeit sind auch die Zweifel größer geworden, ob es überhaupt eine letzte Wahrheit geben kann. Wir werden in unserem Alltag begleitet vom Phänomen der Fake-News und der Neigung vieler Menschen, nur noch das für wahr zu halten, was ihrem Denken entspricht. Wir fragen uns beim Lesen von Nachrichten, ob wir das jetzt für wahr halten können oder von Politikern, Kirchenvertretern, Wirtschaftsbossen oder sogar Pressemitarbeitern nicht schamlos belogen werden. Wir erleben mit Kopfschütteln, wie manche Menschen sich ihre eigene Wahrheit gegen jedes bessere Wissen zimmern und krude Verschwörungstheorien in die Welt posaunen. Gibt es wirklich eine einzige, allgemein gültige Wahrheit oder müssen wir nicht akzeptieren, dass alle Religionen, Philosophien, Weltanschauungen und Kulturen, die für ihre Ideen und Lehren einen Wahrheitsanspruch erheben, nur eine „Teilwahrheit“ berühren?
„Zu lernen, sich von der krankhaften Leidenschaft für die Wahrheit zu befreien,“ ist dann die Botschaft für eine moderne Welt, die erkennen muss, dass es viele Vorstellungen von Glück und Sinn gibt. Der Rat Williams würde dann doch bedeuten, dass wir akzeptieren, dass keiner die volle Wahrheit und jeder ein bisschen Wahrheit besitzt, die aber eben nur auf eine bestimmte Gruppe von Menschen, auf eine Zeitspanne und einen überschaubaren Bereich begrenzt ist. Meine persönlichen Wahrheiten können sich diametral unterscheiden von denen eines anderen Menschen, der einen anderen religiösen und kulturellen Hintergrund hat. Solange wir uns nicht gegenseitig das Leben schwer machen, soll jeder nach seiner Fasson selig werden, wie es Friedrich der Große einmal als Toleranzkonzept für Preußen ausgegeben hat. Das Leben könnte so einfach sein, wenn wir demütig darauf verzichten, eine letzte, verbindliche Wahrheit zu fordern, und uns damit begnügen, dass es die Wahrheit nicht geben kann, sondern nur die Wahrheiten, also Überzeugungen und Meinungen von Menschen, die alle ihre Berechtigung haben. Dann wäre Jesus ein religiöses Genie wie Konfuzius und seine Lehren können als Wahrheit für all die gelten, die sie bejahen, mehr aber auch nicht. Aus dem Rückblick des Historikers wird sich dann später einmal zeigen, ob es nicht doch nur ein Trugschluss und Hirngespinst war.
Spätestens jetzt würde Papst Benedikt XVI. massiven Einspruch erheben. Das Leben wird nicht einfacher, es würde sinnloser ohne zumindest die Ahnung um eine letzte Wahrheit, die alles erklärt und verständlich macht. Ich kann Wahrheit nicht machen, erklären oder definieren. Ich bekommen Wahrheit geschenkt von einem Größeren. Für Papst Benedikt war es ein roter Faden seines Denkens, dass es eine letzte Wahrheit geben muss, die uns bindet. Man hat ihn deswegen oft Starrsinn und Fundamentalismus vorgeworfen, aber meist falsch verstanden. Papst Benedikt hat nie erklärt, dass die Lehren der katholischen Kirche die letzte Wahrheit darstellen, sondern ausschließlich die Offenbarung Gottes, aber nicht als Text, sondern als persönliche Begegnung mit dem Gott, der sich mir zeigen und zu mir sprechen will. Ich habe schon in der letzten Predigt darauf hingewiesen, dass es der Schlüssel zum Denken des Papstes ist, Christus wieder Einlass in die Herzen zu geben und so das Leben zu gewinnen. Lehren, die von Menschen formuliert werden, können nur so weit einen Wahrheitsanspruch erheben, wie sie die Offenbarung Gottes transparent machen. Wir glauben nicht an Buchstaben, sondern an einen Gott, der lebendig ist und nicht ein in Stein gehauenes Gesetz. Aber um als Gott erkannt zu werden, muss sich in der Begegnung mit ihm auch die letzte Wahrheit meines Daseins, der Sinn meines Lebens, offenbaren. Wie auch andere Religionen erhebt der christliche Glaube den Anspruch, wahr zu sein. Es gibt einen Pluralismus von Wegen der Suche nach der Wahrheit. Das hat die Kirche auf dem II. Vatikanischen Konzil anerkannt in ihrer Erklärung über die „Nichtchristlichen Religionen“ (Nostra Aetate). Ich muss einen Menschen nicht ablehnen, weil er die Wahrheit des christlichen Glaubens nicht anerkennt, einer anderen Religion angehört oder seine Werte aus philosophischen Überlegungen gewinnt. Es gehört zu unserer Menschheit, dass es viele Arten der Suche nach der Wahrheit gibt. Religionen und Weltanschauungen sind hier durchaus auch Konkurrenten, v.a. aber sollen sie Dialogpartner sein, um in Gesprächen und gemeinsamen Bemühungen um ein gerechteres und friedlicheres Leben diese Wahrheit mehr zum Leuchten zubringen. Das ist ein deutlicher Unterschied zu einer Haltung, die Papst Benedikt immer wieder als „Diktatur des Relativismus“ gegeißelt hat, also eine falsch verstandenen Toleranz, die letztendlich nur ein Desinteresse für den anderen ist und auf der falschen Prämisse aufbaut, wenn jeder den anderen in Ruhe lässt, kann jeder in Frieden leben. Das ist eine Täuschung, denn Gleichgültigkeit kann niemals zur Basis für ein gutes Miteinander von Menschen werden. Der „Wahrheitsanspruch“ des Glaubens ist kein Totschlagargument, mit dem man ein Bollwerk der Selbstverleugnung und Selbsttäuschung aufbauen kann. Wahrheit im Glauben braucht die Vernunft, die nachdenkt über die Offenbarung, die wir empfangen haben. Papst Benedikt sieht für die Kirche und die Theologie eine wesentliche Vorannahme: Unser Glaube kommt nicht aus unserem Denken, das sich dann einen Gott schafft. Vielmehr geht das Wort Gottes voraus und wird durch das „nachdenkliche Verstehen“ zum Impuls für den Glauben. Ich erfinde mir keine Wahrheiten über Gott und presse sie dann in Lehrsätze, sondern werde angesprochen vom Wort Gottes, das in mir ein Nach- und Umdenken auslöst, weil ich erfahre, dass hier eine letztgültige Wahrheit über Leben und Welt zu hören ist. Gott zeigt sich als unendliche Liebe und der Mensch ist kraft seiner Vernunft fähig, diese Offenbarung zu verstehen.
In seiner Rede im deutschen Bundestag am 22.9.2011 vor den Abgeordneten und den Mitgliedern der deutschen Regierung verwies Papst Benedikt auf das Vorbild von König Salomo, der Gott nicht um Reichtum und Macht bat, sondern um ein „hörendes Herz“ (1 Kön 3,9). Der Papst zeigte auf, dass das hebräische Wort für Herz „leb“ auch den Sitz des Verstandes beschreibt. Für Benedikt ist der Mensch, ausgestattet mit natürlicher Vernunft, wahrheitsfähig und empfänglich für das Gute und Schöne.
Ein Vorbild für das Entdecken der Wahrheit in Jesus zeigt uns das heutige Evangelium von der Begegnung Jesu mit der Frau am Jakobsbrunnen auf.
Die Frau kommt zur Zeit der größten Mittagshitze. Sie ist sich sicher, dass sie jetzt keinem Menschen begegnet, der auf sie herabschaut, weil er ihren Lebenswandel verurteilt. Und dann sitzt da am Brunnen ein Jude, also ein Mensch, der in den Augen von Samaritern sie grundsätzlich als minderwertig verachtet. Sie wird in ihm einen überheblichen Moralapostel vermuten, der sie im besten Fall bemitleidet, aber eher noch verachtet. Es muss ihr keiner sagen, dass in ihrem Leben einiges schief gelaufen ist. Das weiß sie selbst. In ihrem Kopf werden jetzt die Alternativen durchgespielt: Heimgehen und später wiederkommen oder hingehen, schweigen und Wasser schöpfen. Als Mann und Jude wird er sie sicherlich nicht ansprechen. Das gehört sich nicht. Also entscheidet sie sich, nicht noch einmal den mühsamen Weg zurückzulegen, sondern gleich ihr Vorhaben umzusetzen. Aber der Rabbi überwindet alle Grenzen und spricht sie an. Er konfrontiert sie mit der Wahrheit ihres Lebens, aber nicht belehrend und herablassend, sondern verstehend. Sechsmal hat sie ihr Glück gesucht in der Partnerschaft mit Männern. In der Bibel ist die Zahl „sechs“ immer ein Hinweis darauf, dass eine Sache noch nicht zum Ende gekommen ist (Sieben Wochentage sind der Verweis auf die Vollkommenheit). Jesus tadelt sie nicht, sondern sieht, dass sie sechsmal versucht hat, ihr Leben zu ändern, und noch immer nicht am Ziel ist. Der Hunger nach Leben und der Durst nach Glück und Liebe sind noch nicht gesättigt und gestillt. Sie hat wohl noch immer mit der Enttäuschung zu ringen, dass keiner ihre Partner sich als der erhoffte Traumprinz erwiesen hat, bei dem sie Geborgenheit, Treue und Achtung erfährt, wie sie es sich wünscht. Jesus macht die Frau nicht lächerlich oder verurteilt sie nicht, er zeigt ihr, dass es einen Durst gibt, den menschliches Bemühen niemals stillen kann, sondern nur das Vertrauen zu Gott. Menschen können einander glücklich machen, aber wir überfordern den Partner oder die Partnerin, wenn wir erwarten, dass er / sie all meine Vorstellungen erfüllt. Wir können einander das Wasser der Liebe schenken, aber niemals den Durst nach dem Leben in Fülle stillen. Menschen können miteinander glücklich werden, aber niemals das Leid oder die Enttäuschung ausschließen. Jesus öffnet ihr die Augen dafür, dass sie dennoch hoffen darf. Er spricht die schmerzliche Wahrheit ihres Lebens an, aber lässt sie nicht enttäuscht zurück mit der Botschaft, dass sie sich mit dem zufriedengeben soll, was sie jetzt hat. Es gibt ein Glück in Fülle, das nicht enttäuscht wird und nicht zerbricht. Dieses Glück kann der Mensch erwarten, der sich an Gott bindet, der die Quelle des Lebens und der Wahrheit ist. Zur Wahrheit findet der Mensch, der sein Leben mit den Augen Gottes anschaut und daraus auch die Kraft findet, sein Leben bei aller Begrenzung weiter zum Guten zu entwickeln.
Welche Kraft in der Wahrheit steckt, macht eine kleine Geschichte der Chassidim deutlich: „Rabbi Emelech sagte einmal: Ich bin sicher, der kommenden Welt teilhaftig zu werden. Wenn ich vor dem obersten Gericht stehe und sie mich fragen: „Hast du nach Gebühr gelernt?“, werde ich antworten: „Nein“. Dann fragen sie wieder: „Hast du nach Gebühr gebetet?“, und ich antworte desgleichen: „Nein.“ Und sie fragen mich zum dritten: „Hast du nach Gebühr Gutes getan?“ Und ich kann auch diesmal nicht anders antworten. Da sprechen sie mir das Urteil: „Du sagst die Wahrheit. Um der Wahrheit willen gebührt dir Anteil an der kommenden Welt.“ (Zit.: Kurt Koch; Bund zwischen Liebe und Vernunft, Freiburg 2016, S. 207)
Wahrheit heißt nicht Rechthaberei, sondern Ehrlichkeit in meinem Leben, so dass ich vor Gott bestehen kann. Amen.
Sven Johannsen, Pfarrer