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Predigt 1. Advent - „Wie geht Gerechtigkeit?“

Pfr. Sven Johannsen, Lohr

1._Advent_2021_Wie_geht_Gerechtigkeit.pdf

Liebe Schwestern und Brüder,

 

Wie geht Gerechtigkeit?“ - eine eigentümliche Frage. Müsste sie nicht eher lauten „was ist Gerechtigkeit?“ Eine Definition des Begriffs Gerechtigkeit ist im Laufe der Menschheitsgeschichte von vielen großen Denkern vorgelegt worden. Die klassische Antwort auf die Frage „was ist Gerechtigkeit?“ hat der römische Jurist Ulpian vorgelegt und gesagt: iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi („Die Gerechtigkeit ist der feste und beständige Wille, jedem sein Recht zu gewähren“). Kurz wurde diese Definition, die bis heute Gültigkeit besitzt, in die sehr vergröbernde Formel gepresst „suum cuique“ („Jedem das Seine“), die dann missbraucht wurde, um über dem KZ Buchenwald oder über Townships prangte und legitimieren sollte, warum Menschen aufgrund ihrer Religion, ihrer Hautfarbe oder ihres Geschlechts diskriminiert oder verfolgt werden. Aber selbst die umfassende Beschreibung Ulpians lässt Fragen offen, wie dieser Wille, jedem seine Recht zu gewähren, konkrete Wirklichkeit wird.

Ich habe einige Wochen mit meinen Kommunionkinder in der Schule das Thema „Gerechtigkeit“ besprochen und es zeigte sich schnell, dass nicht die Frage „was ist Gerechtigkeit“, sondern „wie geht Gerechtigkeit“ die Erfahrung von Kindern berührt:

Wie wird gerecht geteilt unter Geschwistern?

Wie werden Schüler mit unterschiedlichen Stärken und Schwächen von ihren Lehrerinnen gerecht behandelt und gefördert?

Wie kann Freundschaft gelingen, wenn nicht jeder respektiert und fair behandelt wird?

Das sind nicht nur Fragen von Kindern. Der indische Wirtschafts-wissenschaftler und Philosoph Amartya Sen, der 1998 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt, hat sich sein Leben lang mit der Problematik von Armut und Wohlfahrt beschäftigt. Im fortgeschrittenen Alter hat er seine Überlegungen in einem Buch „Die Idee der Gerechtigkeit“ zusammengefasst. Er erzählt am Anfang ein Gleichnis. „Es handelt von drei Kindern und einer selbst gebastelten Blockflöte. Der Streit geht um die Frage: Wem gehört diese Blockflöte? Anne meldet sich als erste und sagt: „Natürlich gehört die Blockflöte mir, denn ich bin die einzige, die auf dieser Flöte spielen kann.“ „Nein, nein“, wendet Carla ein, „selbstverständlich gehört sie mir, denn ich bin schließlich diejenige, die diese Blockflöte gemacht hat.“ „Keine Rede davon“, meldet sich schließlich Bob, „diese Blockflöte gehört klarerweise mir, denn ich bin schließlich der ärmste unter uns dreien:“ (zit: Wolfgang Huber; Ethik; Die Grundfragen unseres Lebens, München 2015, 2. Aufl., S. 79)

Jeder von den Dreien kann mit Fug und Recht seinen Anspruch auf die Flöte erheben. Gerechtigkeit erschöpft sich nicht in der Frage, wer ist der Besitzer. Was nützt Carla die Flöte, wenn sie nicht spielen kann und auch nicht vor hat, es zu lernen? Ist es dann nicht gerecht, dass sie an Anne gegeben wird, die das Instrument beherrscht? Vielleicht könnte Bob es auch lernen, aber er hat die finanziellen und materiellen Voraussetzungen nicht, um überhaupt so ein Instrument zu bauen. Ist es nicht gerecht, dass ihm als Ärmsten unter den Dreien das Instrument und damit überhaupt die Chance, es zu erlernen, gegeben wird? Sie merken, dass es darauf keine eindeutige Antwort geben kann. Es spielen philosophische, psychologische und soziale Kriterien mindestens so eine große Rolle wie juristische Besitzrechte. So wichtig eine Theorie der Gerechtigkeit für menschliches Zusammenleben ist, entscheidend sind Kriterien, nach denen der einzelne Mensch und ganze Völker einschätzen können, wie sie einander gerecht werden im Verhalten, in der Politik und in ihren Entscheidungen.

 

Dreimal wird in der ersten Lesung aus dem Buch des Propheten Jeremia heute die Tugend der Gerechtigkeit herangezogen, um uns auf den Weg des Advents zu schicken:

Der kommende Messias ist der Spross der Gerechtigkeit.“

Er bringt Recht und Gerechtigkeit für sein Volk.“

Sein Name wird sein „Der Herr ist Gerechtigkeit““.

 

Der Prophet greift eine ältere Verheißung auf, die er im Namen Gottes dem Volk verkündete, das von seinen Mächtigen in eine Katastrophe geschickt wurde, die mit der Zerstörung Jerusalems und dem Exil in Babylon endete. Ganz offensichtlich war die Erfahrung des Volkes mit seinen Königen von ungerechtem Verhalten, Machtmissbrauch und Korruption geprägt. Nicht nur das politische Unvermögen des Hofes, sondern auch die immer weiter auseinanderklaffende Schere zwischen Arm und Reich weckte im Volk die Sehnsucht, dass endlich Rettung und Gerechtigkeit durch den Gesandten Gottes kommen möge. Durch den Prophet Jeremia lässt Gott dem Volk sagen, dass ihm Gerechtigkeit widerfahren wird. „Gerecht“ meint im Hebräischen die Gemeinschaftstreue und Solidarität sowie ein soziales Handeln, das die Schwachen stärkt. Es geht also nicht um ein kluges Gesetzeswerk, sondern um die konkrete Erfahrung von Sicherheit, Solidarität und Stärkung.

Gott kommt, um die Gerechtigkeit aufzurichten, so die Botschaft am Anfang der Adventszeit.

Cur deus homo“, „warum musste Gott Mensch werden?“ fragt vor mehr als 900 Jahren einer der klügsten Denker des Mittelalters, Anselm von Canterbury, der Begründer der Scholastik. Und er gibt in seinem umfangreichen Werk die Antwort: Jesus Christus, der Sohn Gottes, musste Mensch werden, weil nur erlöst werden kann, was angenommen ist. Wenn dem Menschen die Würde zukommt, Abbild Gottes, ja sein Ebenbild, zu sein, dann kann der Mensch nicht gerettet werden durch Scheinattacken und Taktiken, dann muss Gott voll ins Leben eintauchen, ohne Vorbehalte und Hintertürchen. So wird Gott seinem Ebenbild gerecht. Kardinal Lehmann hat das einmal in einer Weihnachtspredigt wunderbar erläutert: „Jesus ist ein wirklicher Mensch wie wir alle. Die Evangelien beschreiben ihn in seiner ganzen Menschlichkeit: er wird von einer menschlichen Mutter geboren, wächst und reift heran, lernt einen Beruf, hat Hunger und Durst, wird versucht, wird müde, stellt Fragen, spürt Mitleid, freut sich besonders an Kindern, er wird aber auch zornig, vor allem über die Hartherzigkeit der Menschen, er hat Angst, leidet Schmerzen, wird ungerecht bestraft und stirbt schließlich am Kreuz. Jesus ist ein Mensch mit Leib und Seele, er hat die Höhen und Tiefen des Menschseins durchlebt und durchlitten. Er ist unser Bruder.“ (Kardinal Karl Lehmann, Predigt Weihnachten am 25.12.2013) Gott wird sich selbst und dem göttlichen Kern im Menschen gerecht, indem er Mensch wird, sein Los teilt und eine neue Hoffnung bietet. Der Advent steuert nicht nur auf Weihnachten zu, sondern nimmt Ostern in den Blick. Wie geht Gerechtigkeit? Gott macht es vor, er wird menschlich, teilt das Leben des Menschen, versetzt sich in seine Situation und sieht die Welt und ihre Ordnung aus dessen Perspektive. Der Kirchenvater Cyrill von Alexandrien konnte so weit gehen, dass er dieses gerechte Handeln Gottes mit Worten beschreibt, die aufhorchen lassen: „Gott wird Mensch, damit wir Menschen Götter und Söhne werden.“ Das kann man leicht missverstehen im Sinne einer Überheblichkeit des Menschen, der sich selbst an Gottes Stelle setzen will. Was aus so einem Denken folgt, haben wir leider nur zu oft erleben müssen, nicht nur in der Geschichte, sondern auch in der Gegenwart, wenn der Mensch keine Grenzen mehr kennt. Richtig verstehen kann man dieses Wort nur, wenn man Gott nachahmt: Er wird Mensch, menschlich, mit- und einfühlend. Das ist der Weg, wie Gerechtigkeit geht.

Ich habe mit meinen Schülerinnen und Schülern auf die Frage „wie geht Gerechtigkeit“ eine Idee kennengelernt, die auf der Theorie von Gerechtigkeit als Fairness aufbaut, die der Philosoph John Rawls vorgelegt hat. Sie basiert auf der Annahme, dass Gerechtigkeit nur gelingen kann, wenn man sich in den anderen Menschen hineinversetzt. Rawls sprach von einem „Schleier der Unwissenheit“ als Voraussetzung für gerechtes Handeln. Man solle sich, so der Philosoph, vorstellen, dass man nicht wüsste, als welcher Mensch man am nächsten Tag aufwache. Ob man reich oder arm, krank oder gesund, jung oder alt sei. Wer auf dieser Denkvoraussetzung Regeln für das Zusammenleben von Menschen und der Schöpfung sucht, der kann gar nicht anders als sich um Gerechtigkeit und Fairness zu bemühen.

 

Der Advent lädt uns ein, dieses Gedankenexperiment mit Blick auf Weihnachten zu wagen. Wir haben in der letzten Zeit sehen müssen, wie schnell sich das Leben und die Lebensumstände von Menschen ändern können, weil ein Virus die Welt auf den Kopf stellt und gesunde Menschen schwer erkranken lässt, Menschen, die das Leben genießen, eingesperrt und viele Menschen in ihrer materiellen Sicherheit erschüttert hat. Keiner der Propheten konnte ahnen, in welcher Gestalt der Messias, der endzeitliche König, kommen würde. Letztlich kam er als Kind in einer Familie, die alle Bedrohungen von Flucht, Armut und Leid erleben musste. Gerechtigkeit heißt daher, dem Menschen gerecht werden, indem wir selbst mehr Mensch und so menschlicher werden. Amen.

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