Predigt 19. Sonntag im Jahreskreis C
„Kleine Herde - ein (Alb)traum?“
Liebe Schwestern und Brüder
Erinnern Sie sich noch an Egon Krenz? Egon Krenz ist das letzte Fossil der DDR. Er ist mittlerweile 85 Jahre alt und lebt ein mehr oder weniger beschauliches Leben als Rentner an der Ostsee. Bekannt wurde er als Kronprinz und Nachfolger von Erich Honecker. Als das Staatsschiff der DDR im Oktober 1989 schon am Sinken war, putschten die steinalten Funktionäre gegen Honecker und machten den „Jungstar“ Krenz zum neuen Generalsekretär des ZK der SED und zum Staatsratsvorsitzenden. Der ewig lächelnde „Chef“ der DDR-Jugendorganisation „FDJ“ sollte für die alten Betonköpfe retten, was nicht mehr zu retten war. Den Verlauf der Geschichte kennen wir. Krenz scheiterte, die Wiedervereinigung kam, Honecker flüchtete schließlich nach Chile und Krenz musste vor Gericht. Schon damals leugnete er den Schießbefehl an der Mauer und verteidigte den Sozialismus. Nach einigen Jahren Haft kam er wieder in Freiheit, musste miterleben, wie die offizielle Führung der Nachfolgepartei der SED, die Linke, auf Distanz zu ihm ging und schmollte aufgrund des abrupten Endes des Paradieses der Arbeiter und Bauern auf deutschen Boden. Jetzt hat sich der alte Mann wieder einmal zu Wort gemeldet und den ersten Teil seiner Memoiren vorgelegt, dem noch zwei folgen sollen. Noch immer leugnet er die historischen Wahrheiten, hält daran fest, dass es das Ziel der Politik in der DDR war, dass es allen Menschen gut gehen sollte, und die friedliche Revolution ein Unrecht war. Man könnte lächeln über die wirre Geschichtsverfälschung eines ewig Gestrigen, aber da gibt es nun einmal auch einen Kreis von Gleichgesinnten, v.a. in den östlichen Bundesländern, die genauso denken. In der Regel müsste man doch meinen, so ein „kranker Unfug“ auf Papier wie die Memoiren von Egon Krenz könnte man gleich wieder einstampfen, weil sie höchsten dazu dienen, sich darüber lustig zu machen, aber es gibt tatsächlich einen kleinen, aber hartnäckigen Kern von Anhängern des Sozialismus, die sich auch heute noch die DDR zurückwünschen. In dieser Gruppe spielen die Toten an der Mauer keine Rolle, auch nicht die Mangelwirtschaft und das Unrecht gegen Kritiker und Andersdenkende. Sie sehen immer noch in den mehr als vierzig Jahren der DDR das Ideal für einen Staat auf deutschem Boden. Klingt verrückt, aber diese „Ostalgiker“ stehen ja nicht allein. Noch schlimmer erscheint mit die Gruppe in der Bevölkerung, die sich offen zu rechtsextremen Gedankengut bekennen und die Zeit des Nationalsozialismus verherrlichen. Wir haben Gruppen von Verschwörungstheoretikern, Esoterikern und Sekten, die zwar oft nur eine überschaubare Anzahl von Mitgliedern aufweisen, aber in der Summe durchaus ein beachtliches Potential von Querdenkern in der Bevölkerung bilden. Diese unterschiedlichen Gruppen sind gekennzeichnet durch eine einseitige Weltsicht, ein Menschenbild, das klar trennt zwischen gut und böse, eine generelle Abschottung gegenüber der Allgemeinheit und einer geschlossenen Ideologie. Manche von ihnen, gerade die politisch fanatisierten am rechten und linken Rand, sind sogar eine massive Bedrohung für unseren Staat. Kleine Gruppen können gefährlich werden, weil sie die große Masse als minderwertig und feindlich ablehnen.
Wird zu diesen Gruppen auch bald die katholische Kirche gehören? Wir stehen ja an einem entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte der katholischen Kirchen in Deutschland: Die Zeit der Volkskirche ist bald vorbei. Wir bilden mit den evangelischen Christen zwar noch gerade ein wenig mehr als die Hälfte der Bevölkerung, aber es ist abzusehen, wann wir dauerhaft unter die 50 Prozent-Marke rutschen und noch schlimmer eine kleine Minderheit werden. Die Austrittszahlen sind so rapid in beiden Kirchen, dass wir unser Schicksal als Randerscheinung schon voraussehen können. Ist das ein Unglück oder ein Segen?
Es gibt innerhalb der katholischen Kirche eine markante Zahl von Gläubigen, die sich über das „Gesund-Schrumpfen“ freuen. Die Einleitung des heutigen Evangeliums ist ihnen dabei ein Leitwort: „Fürchte dich nicht, du kleine Herde! Denn euer Vater hat beschlossen, euch das Reich zu geben.“ (Lk 12,32) Ihre Hoffnung fokussiert sich auf eine neue Glaubwürdigkeit und Eindeutigkeit der Katholischen Kirche. Wenn einmal all die Taufscheinchristen weg sind, die nicht konsequent den Gottesdienst besuchen und v.a. nicht streng die katholische Morallehre in ihrem Leben beherzigen, dann gibt es keine falschen Kompromisse mehr. Wer dann zur Kirche gehört, wird es mit ganzer Kraft und Überzeugung tun. Natürlich wird auch in einer kleineren Herde einmal die Frage nach Macht nicht die Bedeutung haben wie in der noch bestehenden „Volkskirche.“ Wenn die Kirche auf dem Niveau eines Randphänomens angekommen ist, dann werden die Bischöfe keine Dienstwägen mehr fahren, der Staat nicht mehr für die Prälaten im Domkapitel bezahlen und die Hierarchie automatisch schlanker werden. Eine Kirche, die finanziell gar nicht mehr die Möglichkeiten dazu hat, wird auch nicht möglichst alle Kindergärten besitzen und so viele Pflegeeinrichtungen und Krankenhäuser unterhalten wie im Augenblick. Daher, so die Überlegung, kann sie sich dann auch ihre Personal besser auswählen, das zu ihr passt, ihre Wertvorstellungen teilt und entsprechend lebt. Jetzt findet sich ja in katholischen Einrichtungen das ganze Spektrum von Lebensentwürfen, das auch unsere Gesellschaft prägt, und, zugegeben, die Gruppe derer, die wirklich noch aus dem Glauben handeln, ist die Minderheit. Wäre es nicht ein Segen für die Kirche, wenn sie den Ballast der Volkskirche abwerfen kann, sich innerlich reinigt und danach als „Kleine Herde“ wieder strahlend Zeugnis für das Evangelium ablegt, weil sie es selbst glaubwürdig und konsequent lebt? Eine schöne Vorstellung, die durchaus prominente Befürworter hat.
Schon 1970 hat die damalige Professor Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI, in einem Aufsatz mit Blick auf die Entwicklung der katholischen Kirche in Deutschland die Vision entwickelt: „Aus dieser Krise wird eine Kirche morgen hervorgehen, die viel verloren hat. Sie wird klein werden, weithin ganz von vorne anfangen müssen. Sie wird viele der Bauten nicht mehr füllen können, die in der Hochkonjunktur geschaffen wurden. Sie wird mit der Zahl der Anhänger viele ihrer Privilegien in der Gesellschaft verlieren. Sie wird sich sehr viel stärker gegenüber bisher als Freiwilligkeitsgemeinschaft darstellen, die nur durch Entscheidung zugänglich wird. Sie wird als kleine Gemeinschaft sehr viel stärker die Initiative ihrer einzelnen Glieder beanspruchen.“ (Glaube und Vernunft, Regensburg 1970, zit: https://www.die-tagespost.de/kirche/weltkirche/joseph-ratzinger-der-visionaer-art-217525) Zweifelsohne beeindruckt der erstaunliche Weitblick des späteren Papstes zu einem Zeitpunkt, an dem die volkskirchlichen Strukturen zwar hinterfragt wurden, aber noch in voller Kraft standen. Immer wieder, auch beim seiner Rede in Freiburg, hat Papst Benedikt ermahnt, im Prozess der Verkleinerung die Chance für ein kraftvolleres Christsein zu entdecken. Ich will dem emeritierten Papst nicht unterstellen, dass er sich über den Verlust von Mitgliedern freut, aber er dient natürlich denen als Anwalt, die von einer frommen und heiligen Gemeinden träumen. Ist es das, was Jesus wirklich wollte, wenn er heute die „kleine Herde“ preist?
Zunächst ist es ja einen Zustandsbeschreibung der Jüngergruppe. Sie ist überschaubar und gefährdet. Was wird passieren, wenn Jesus ihnen genommen wird? Nach dem Karfreitag kommt es fast zur Auflösung der „Jesus-Glaubens-Bewegung“. Am Pfingsttag steht vor uns nicht eine Großkirche, sondern eine Gruppe von Männern und Frauen, sicher mehr als der „Zwölferkreis“ der Apostel, die zutiefst verunsichert und voller Furcht sind. Jesus weiß um die große Zerreißprobe, die auf sie zukommt, und will sie jetzt auf dem Weg, der zum Kreuz führt, schon stärken. Aber er will sie nicht auf einen heiligen Rest begrenzen. Sein Taufauftrag nach Ostern wird heißen: „ Geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe. Seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt.“
Ihm dürfte damals auch schon bewusst gewesen sein, dass mit der Ausbreitung des Evangeliums die Gruppe der Gläubigen bunter und oberflächlicher wird. Jesus will keine Zugehörigkeit zu seiner Gruppe um jeden Preis. Die Jünger sollen die Menschen lehren, das Evangelium verkünden, es ihnen ins Herz einpflanzen. Aber er will auch kein perfektes Team ohne Zweifel und mit absoluten Gehorsam. Das Ziel Jesu ist nicht die Zurückführung der Jünger auf einen kleinen, heiligen Rest, sondern die Verkündigung der frohen Botschaft vom Reich Gottes als Angebot für alle Menschen in den unterschiedlichsten Lebenssituationen.
Auch heute gilt sein Zuspruch uns und allen, die sich Sorgen machen über die Zukunft der Kirche. Wenn wir immer mehr sehen, wie die Kirche in einem Strudel von Skandalen, Krisen und Streitigkeiten zu versinken droht und wir ohnmächtig zuschauen müssen, wie immer mehr Menschen sich abwenden, dann dürfen wir hören, dass die Verheißung des Gottesreiches noch immer gilt. Gott hat sich von seiner Kirche auch in diesen dunklen Zeiten nicht abgewandt, er hat uns nicht aufgegeben, sondern traut uns noch immer zu, seine frohe Botschaft in die Welt zu tragen.
Unsere Hoffnung kann nicht das „Gesundschrumpfen“ sein, ein kleine abgesicherte Gruppe von wahrhaft gläubigen Menschen, die sich von der „Welt“ abgrenzt.
Am Vorabend des letzten Konklaves hat der damalige Kardinal Jorge Mario Bergoglio in einer Brandrede sich gegen eine immer größere Abschottung der Kirche gewarnt. Er führte drei Argumente an, die m.E. auch heute noch für den Weg der Kirche als Verkünderin des Evangeliums gelten.
-
„Evangelisierung setzt apostolischen Eifer voraus. Sie setzt in der Kirche kühne Redefreiheit voraus, damit sie aus sich selbst herausgeht.“ Eine Gruppe, in der man sich selbst genügt, in der alle das Gleiche denken und sich gleich verhalten, wird diesen apostolischen Eifer nicht haben. Sie sucht immer nur Gleichgesinnte und grenzt alle aus, die nicht in ihr Schema passen.
-
„Wenn die Kirche nicht aus sich selbst herausgeht, kreist sie nur um sich. Dann wird sie krank.“ Die Vorstellung, dass es besser wird in der Kirche, wenn wir uns nur noch auf die konzentrieren, die ganz zu uns gehören wollen, macht die Kirche nicht gesund, sondern krank. Sie wird dann selbstverliebt und beweihräuchert sich als der „bessere“ Teil der Menschheit. Solange sie in ihren Reihen auch die vielen Schwachen hat, weiß sie, dass auch sie immer der heilenden Umkehr bedarf.
-
„Die Kirche, die nur um sich kreist, glaubt - ohne dass es ihr selbst bewusst ist, dass sie das Licht aus sich selbst hat.“ Letztlich heißt das, dass sie Gott vergessen wird bzw. ihn zu einem Götzen macht, um sich selbst zu verehren. Diese Gefahr sehe ich auch. Ein „kleine Kirche“ wird nicht automatisch frömmer, sie wird sich selbst genügen, braucht aber dann den Gott nicht mehr, der sie herausfordert, allen Menschen das Evangelium zu verkünden.
Papst Franziskus unterscheidet zwischen zwei Kirchenbildern: „einer verkündenden Kirche, die über sich hinausgeht, und einer mondänen Kirche, die in sich, von sich und für sich lebt.“ (https://weltkirche.katholisch.de/Aktuelles/Brandrede-Bergoglios-aus-dem-Vorkonklave) Es ist eindeutig, welche Kirche Jesus wollte: Eine Gemeinschaft, die keine Angst hat, wenn sie sich in der Rolle der Minderheit befindet, die sich aber auch nicht einsperrt, weil sie sich selbst genug ist, sondern mutig das Evangelium verkündet in einer Menschheit, die dem Glauben nicht feindlich, sondern oft gleichgültig gegenübersteht. Auch wenn wir weniger werden, wir werden als Kirche keine geschlossene Sekte, weil uns Gott in die Wiege schon den Auftrag gelegt hat, seine Frohe Botschaft allen Menschen zugänglich zu machen. Amen. Sven Johannsen, Lohr