„Kirche im Dienst am Glauben“
(Bezugsstelle: J. Ratzinger, Kirche als Ort des Dienstes am Glauben in: Joseph Ratzinger Gesammelte Schriften 8/1 Kirche - Zeichen unter den Völkern; Hrsg. v. G. Müller Freiburg i. Brg. 2010)
„Das Wort Kirche hat heute keinen guten Klang... Täglich hören wir von neuen Unzulänglichkeiten ihrer Amtsträger: Bald stört uns die Starrsinnigkeit derer, die die Tradition verteidigen, bald nötigt uns dann doch auch wieder die Eigenmächtigkeit anderer ein Kopfschütteln ab, die ihrer persönlichen Probleme wegen die ganze Öffentlichkeit glauben alarmieren zu müssen. Die Institution Kirche erscheint uns veraltet, oft kleinkariert; nur mühsam setzt sich ein modernes Rechtsbewusstsein und die Einsicht in die sozialen Konsequenzen der christlichen Botschaft durch. Oft haben wir den Eindruck, als würden überholte oder durchaus überholbare Forderungen der Kirche mit einer uneinsichtigen Hartnäckigkeit verteidigt, die den Menschen Lasten auferlegt, statt ihnen zur Freiheit zu verhelfen…“
Liebe Schwestern und Brüder,
ahnen Sie, wer eine solche harsche Kritik am Zustand der Kirche formuliert? Papst Benedikt! Zugegeben, die Worte stammen noch aus seiner Zeit vor dem Pontifikat, aber sie stehen durchaus in einer Tradition, die einmündet in die bitteren Betrachtungen des Kreuzweges, den er 2005 für die Feier am Abend im Colosseum noch zur Amtszeit seines Vorgängers, Papst Johannes Paul II., formulierte und in dem er v.a. im dritten Fallen Jesu den Schmutz und die Schuld von Verantwortlichen in der Kirche anprangerte. Die Gedanken des jungen Theologen Ratzinger scheinen heute im Blick auf Kirche aktueller denn je. Die Gräben sind tief zwischen denen, die die Tradition verteidigen, die tridentinische Messe als die einzig wahre Form propagieren und jeden Gedanken an Reform als Glaubensabfall verteufeln, und anderen, die gleichsam den Resett-Knopf drücken und eine neue Kirche schaffen wollen, die vom Nullpunkt beginnend jetzt alles anders und besser macht. Zu Recht fragt Papst Benedikt, ob wir einer solchen Hoffnung wirklich vertrauen können: „Wer bürgt denn für die Qualität der Kirche der Zukunft? Und worauf stützt sie sich? Wenn schon, so möchte man sagen, aus dem Werk Jesu und der Apostel nichts dauerhaftes Gutes hervorkommen konnte, wer sind denn die Propheten, denen wir jetzt uns anvertrauen können? So muss ein Engagement für eine nun endlich ganz anders werdende Kirche erst recht als ein ungedeckter Wechsel erscheinen, zu dem uns nichts Überzeugendes ermutigen kann.“ Zugleich aber sieht er die Gerichtsworte Jesu über den scheinheiligen Dogmatismus der religiösen Führer seiner Zeit auch in Richtung der „Diener der Kirche“ gerichtet. Das Dilemma zwischen den Parteien in der Kirche, die sich immer unerbittlicher gegenüberstehen und durch ihre Fixierung auf eigene Interessen die Kirche lähmen, ist also nicht neu, aber zu unserer Zeit scheint es auf eine dramatische Eskalation zuzusteuern. Viele Gemeindemitglieder fühlen sich verletzt durch die ständige Kritik an der Kirche und eine Wortwahl, die oft die Grenzen des guten Geschmacks überschreiten, wenn die gesamte Kirche pauschal als „Täterorganisation“ oder „Alt-Herren-Club“ abgewertet wird. Dennoch diese Einseitigkeiten nicht zum Kriterium werden, um berechtigte Kritik an Skandalen, mangelnder Aufklärung und selbst verschuldeter Unbeweglichkeit zu unterbinden. Papst Benedikt hat immer auch eingestanden, dass in der Geschichte der Kirche Verbrechen geschehen sind, die nie hätten geschehen dürfen und unentschuldbar bleiben, z.B. die antisemitische Hetze gegen Juden und das Vorgehen gegen Frauen und Andersdenkende. Er verweist aber auch darauf, dass es überheblich ist, die Kirche der Vergangenheit als ein völlig verfehltes Unternehmen zu verdammen, das zwingend den Schluss nahelegt, völlig neu beginnen zu müssen. Vielmehr gibt es in der Kirchengeschichte auch immer eine Lichtspur der Hoffnung, die mitunter sehr schmal wird, aber nie ganz verschwindet. So verweist er darauf, dass 217 mit Calixt ein entflohener Sklave den Bischofsstuhl von Rom besteigt, zu einer Zeit, in der Sklaven in der Gesellschaft noch nicht die Würde einer Person zukam, aber auch auf Franziskus, Bartholomé de Las Casas, die stabilisierende Kraft der Kirche in der Zeit der Völkerwanderung und den Beitrag der großen Ordensgründer für eine solidarische Gesellschaft. Für Benedikt ist Kirche „paradox“: „zweigestaltig aus Versagen und Segen gemischt.“ Die Kirche ist nur heilig von Gott her, wie wir es im Credo bekennen, denn in ihr wirkt Gottes Erbarmen. „Heilig“ kann nie eine Aussage über die Qualität ihrer Amtsträger, ihrer Handlungen oder ihrer Mitglieder sein. Dass es gleichzeitig in der Kirche Sünde gibt, ist seit den ersten Anfängen der Kirche unübersehbar, und bis heute müssen wir erschrocken zur Kenntnis nehmen, dass das Göttliche zu oft in unwürdigen Händen präsentiert wird, wie es Papst Benedikt eingesteht. Gerade der Missbrauchsskandal hat ihn immer öfter über die Wirklichkeit der „sündigen Kirche“ nachdenken lassen und über die Frage, ob nicht auch im Reden über die Kirche Fehler gemacht wurden. Der Hirtenbrief Benedikt XVI. an die Katholiken Irlands vom 19. März 2010 geht bereits auf diese Frage ein und stellt klar, dass die Opfer im Mittelpunkt stehen müssten, dass eine schonungslose Aufklärung der Vergehen notwendig sei, dass mit den Behörden zusammengearbeitet werden müsse, dass die Kirchenleitungen Fehler begangen haben und dass auch ein fragwürdiges Kirchenbild eine Rolle gespielt habe. „Dennoch“, dieses Wort zitiert Benedikt häufig, bleibt Christus in dieser beschmutzen und fehlerbehafteten Kirche am Wirken, z.B. im Einsatz für die Armen und die menschliche Würde, die immer auch trotz vieler Fehler die geistige Kraft des Glaubens auszeichnete, den sie bewahrt. So schreibt er: „In der Kirche gibt es das ständige Dunkel schweren menschlichen Versagens, aber in ihr ist auch eine Hoffnung beheimatet, die der Mensch braucht, um leben zu können.“ (126) Es ist unsere Verantwortung für die Kirche, die Gott uns in die Hände gegeben hat, die „Kraftquellen menschlichen Lebens zugänglich zu machen, ohne die dieses Leben leer wird und die Gesellschaft zerfällt.“ Der wesentliche Dienst von Kirche liegt zu allen Zeiten darin, Gott unter den Menschen erkennbar und erfahrbar zu machen.
Nehmen wir diesen Faden des Denkens von Papst Benedikt auf, stellt sich die Frage, wie dieser Dienst der Kirche wieder neu für Menschen fruchtbar wird? Letztlich nur durch den Rückgriff auf den Ursprung, wie ihn uns Lukas in der heutigen Lesung aus der Apostelgeschichte vorstellt. Natürlich ist die Beschreibung der Jerusalemer Urgemeinde, der Keimzelle der Kirche, idealtypisch. Es gab, das wissen wir u.a. von Lukas selbst und v.a. aus den Briefen des Apostels Paulus, auch Konflikte und Spannungen, die die Apg mitunter glättet, aber nicht verschweigt. In diesem zusammenfassenden Bericht über die Gemeinde, die Lukas bewusst nach dem Pfingstbericht platziert, treten aber die fünf Merkmale hervor, die zu allen Zeiten das Wesen von Kirche prägen:
Lehre / Glaubenszeugnis - Gemeinschaft - Eucharistie - Gebet - Heilkraft
Die Erfahrung von Menschen wie Thomas, Petrus, Johannes und Maria von Magdala bürgen für das authentische Zeugnis von der Auferstehung Jesu und seiner Botschaft für die Welt, nicht klug formulierte Lehrsätze. Es ist uns nicht überliefert, dass sich die Apostel am Abend des Pfingsttages zusammengesetzt und dogmatisch verbindliche Leitsätze aufgeschrieben haben, die alle Jüngerinnen und Jünger Jesu ab dem nächsten Tag zu predigen haben, wenn sie aufbrechen zur Mission in alle Himmelsrichtungen. Es gibt ein gemeinsames Bekenntnis, in dem alles wurzelt: „Er ist Mensch geworden zu unserem Heil, hat die frohe Botschaft verkündet und Menschen geheilt, wurde gekreuzigt, begraben und am dritten Tage auferweckt von den Toten.“ Das können sie übereinstimmend verkünden, weil sie es gemeinsam erlebt haben, aber jeder von ihnen hat seine eigene Lebens- und Glaubensgeschichte. Thomas wird von Zweifeln sprechen, Petrus von seinem Versagen, Maria von ihrer Liebe, Johannes von der inneren Kraft des Glaubens. Ihr Zeugnis wird sich nicht widersprechen, aber es wird auch ganz persönliche Akzente setzen. Es kann keine Glaubenslehre geben, die nicht auf einer gemeinsamen Basis beruht, aber Weitergabe des Glaubens ist nicht Indoktrination, sondern geschieht durch Menschen an Menschen. „Cor ad cor loquitur“, „das Herz spricht zum Herzen“, hat John Henry Newman gesagt. Zeugnis entscheidet sich nicht zuerst am Kriterium „richtig oder falsch“, sondern „authentisch oder unglaubwürdig“. Deswegen muss auch eine Kirche, die weltweit agiert, nicht überall in der gleichen Art und Weise sich präsentieren. Es ist wichtig, dass der gleiche Glaube an Jesus Christus geteilt wird, aber viele Lehren, die wir heute für unendlich wichtig halten, sind wohl in den Augen Gottes eher unbedeutend. Ob Laien einen Bischof mitwählen, wie es schon in der Antike üblich war, bringt die Weltkirche nicht zum Einsturz. Da wünschte ich mir mehr Vertrauen Roms in die rechte Gesinnung mündiger Gläubiger vor Ort. Das Zeugnis der Apostel hatte sicher in Petrus einen wichtigen Bezugspunkt, aber kein Apostel wird auf seinen Missionsreisen ständig in Jerusalem oder Rom gefragt haben, ob er das jetzt so sagen darf oder nicht. Da dürfen Kirchen vor Ort, wenn sie sich der Einheit mit der Weltkirche bewusst sind, m.E. durchaus Mut zeigen.
Entscheidend bleibt die Verbindung in der Feier der Eucharistie als Zentrum der Kirche, in der die Gemeinschaft mit Jesus und untereinander begründet ist. Die Feier der Eucharistie schlägt die Brücke über Raum und Zeit und verbindet uns mit Jesus und den Jüngern im Abendmahlsaal, aber auch mit allen Schwestern und Brüder rund um den Erdkreis. Darum ist es nicht in unserer Beliebigkeit, wie wir feiern. Unser Gottesdienst muss ansprechend und einladend sein für Menschen vor Ort, v.a. darf niemand die Angst haben, dass er aufgrund seiner Art zu leben, hier nicht willkommen ist, aber er muss auch geistige Heimat sein für jeden Christen, der aus einem anderen Kulturkreis kommt und hier mit uns die Eucharistie feiert, die ihn / sie schon ein Leben lang prägt.
Schließlich ist eine lebendige Gottesbeziehung, die sich immer aus dem Gebet speist, entscheidend für unser Leben als Kirche. Kirche kann nicht nur sein, was Papst, Bischöfe, Priester und viele Pastoralstrategen in klugen Papieren entwerfen, sondern das, was sich im Innersten jedem Gläubigen von Gott her eröffnet. Deshalb ist das Wesen der Kirche v.a. Ort der Begegnung mit Gott.
Mit Sicherheit würde Papst Benedikt nicht jeder meiner Schlussfolgerungen seine Zustimmung schenken, aber ich bin mir sicher, dass im wesentlichen Kern Einigkeit besteht. Ich stimme ihm zumindest voll umfänglich zu, wenn er in seinen Gedanken über die Kirche an der Schwelle des 3. Jahrtausends schreibt:
„Deswegen muss die Kirche sich selbst daran messen und daran gemessen werden, wie weit in ihr die Gegenwart Gottes, seine Erkenntnis und die Annahme seines Willens lebendig sind. Eine Kirche, die nur sich selbst betreibender Apparat wäre, wäre eine Karikatur von Kirche. Soweit sie um sich selbst kreist und nur auf die Zwecke ihrer eigenen Erhaltung schaut, macht sie sich überflüssig und verfällt, selbst wenn ihr große Mittel und ein geschicktes Management zur Verfügung stehen. Sie kann nur leben und fruchtbar werden, wenn der Primat Gottes in ihr lebendig ist.“
Diese Priorisierung der Begegnung mit Gott vermisse ich im Augenblick in unserer Kirche. In den Grabenkämpfen, die wir zurzeit erleben, und den großen Strategieprozessen, die aus den Schaltzentralen der Macht kommen, offenbart sich mehr Gruppeninteresse als das Bemühen, die Kirche so zu verändern, dass Menschen, die zweifeln und fragen, hier wieder Gott begegnen können. Wenn es eine Reform der Kirche braucht (davon bin ich überzeugt), dann muss sie von diesem Leitinteressen der Gegenwart Gottes in ihr getragen sein, nicht von der Frage, wer jetzt wem die Macht aus den Händen nimmt. Denn darin liegt der Dienst am Glauben, der der Kirchen aufgetragen ist. Amen.
Sven Johannsen, Pfarrer