„Und die anderen 99?“
St. Michael Lohr am Main, 11.09.2022
Katechese zum 24. Sonntag im Jahreskreis
24._Preeigt_Tobais_Hernrich.pdf
Reinhard Mey. Es soll nicht gleich zu Beginn ein falscher Eindruck entstehen: Ich bin kein Fan dieses bekannten Liedermachers. Nicht, weil ich seinen Liedern die Tiefgründigkeit, Relevanz oder den bisweilen aufkommenden charmanten Schalk absprechen möchte. Nein, seine Lieder lösen bei mir schlicht stilistisch keine Resonanz aus.
Bei meiner Mutter ist das anders. Deshalb stellt sich zumeist jedes zweite Jahr die Frage, wer sie zu den Konzerten begleitet. Vor Jahren war ich an der Reihe. Und mir imponierte die Herzlichkeit, mit der er zu Beginn seines Konzerts erzählte, dass die Menschen, die seine Konzerte besuchten, immer wieder bei ihm am Küchentisch saßen. Und ich kaufte ihm ab, dass das kein billiger PR-Gag war, sondern aufrichtig gemeint war. Diese Menschen spielten und spielen eine Rolle für ihn, auch zuhause. Sie begleiten ihn, unterstützen ihn, inspirieren ihn.
Ich erzähle diese Erinnerung, weil es mir in diesem Jahr ähnlich erging. Als an einem Januartag der Anruf aus dem Bistum Würzburg kam und ein Name fiel. Sinngemäß etwa so: „Wir könnten uns vorstellen, dass Sie nach Lohr am Main passen würden!“ Da saßen Sie alle schlagartig am Küchentisch. Da wo sonst meine Frau Carina, mein Sohn Liam und meine Tochter Paula sitzen. Und da entstanden im Gespräch erste Gedanken, Ideen und Fragen. Und eine Präsenz!
Es ist übrigens der gleiche Küchentisch, der mich am heutigen Evangelium zweifeln lässt. Den meisten - gerade den jüngeren Familien - werde ich nichts Neues erzählen. Sie kennen das wahrscheinlich so oder so ähnlich:
Die Kinder - auf das Essen wartend - vertreiben sich die Zeit, Autos durch die Gegend zu schieben und in ausgedachten Garagen unter einem Sofakissen zu parken und dabei lautstark eine Geschichte oder ein Lied aus der Toniebox zu hören. Und in dieses Getümmel aus Straßen und Musik die Aussage: „Schaust du ein bisschen auf Paula.“ Der Kletterversuch auf den Hochstuhl. Und während diese Gefahr gebannt ist, kann man sicher sein, dass dem Große, dem Spielen überdrüssig, mit Sicherheit auch eine waghalsige Idee kommen wird. „Keine ruhige Minuten ist seit dem mehr für mich drin…“ Diese Textzeile von Reinhard Mey ist uns durchaus vertraut.
Sind das nicht ganz und gar schlechte Aussichten für das heutige Evangelium? „Wenn einer von euch hundert Schafe hat und eins davon verliert, lässt er dann nicht die neunundneunzig in der Steppe zurück und geht dem verlorenen nach, bis er es findet?“(Lk 15,4)
Meine Küchentischerfahrungen - ich sage es vorsichtig - sind problematisch, auch mit Blick auf diese rhetorisch anmutende Frage von Jesus. Damit ist die fragliche Fraglosigkeit aufgebrochen und jetzt nimmt die Bibelstelle Platz an meinem Küchentisch. Gut, dass wir da seit Januar gemeinsam sitzen!
Da ist zunächst mal das Setting des Gleichnisses. Jesus meint es Ernst mit seiner Botschaft. Er sagt, was er glaubt und tut was er sagt:
Die Herrschaft Gottes soll bis zu den Unscheinbaren der Gesellschaft scheinen. Bis zu denen, die ganz am Rande stehen. Folgerichtig also auch zu Zöllnern und Sündern. Und gegen alle Regeln isst er auch mit ihnen.
Das gefällt nicht jedem. „Die Pharisäer und die Schriftgelehrten empörten sich darüber.“(Lk 15,2a) Wörtlich: Murren. Ich habe das mal nachgelesen: Sein Missfallen mit undeutlicher Stimme äußern. Wobei: So undeutlich sind die Pharisäer und Schriftgelehrten in ihrer religiösen Manöverkritik nicht. Diese Verbundenheit und Akzeptanz Jesu gegenüber den Sündern durch das gemeinsame Essen stellt sie vor eine Herausforderung. Als Schriftgelehrte und fleißige Beter kennen sie ihr Gebetbuch, die Psalmen. Und da steht nun mal im ersten Psalm „Wohl dem Mann, der nicht dem Rat der Frevler folgt, nicht auf dem weg der Sünder geht, nicht im Kreis der Spötter sitzt.“(Ps 1,1) Diesen Psalm kennen die Schriftgelehrten. Die Pharisäer auch. Jesus auch. Keine Angst. Es besteht aber ein signifikanter Unterschied, bei Spöttern zu sitzen, oder einer zu sein. Das wissen die Schriftgelehrten. Die Pharisäer auch. Jesus, gewiss, auch. Keine Angst.
Vielleicht ist Angst aber ein gutes Stichwort. Murren ist ein zutiefst biblischer Begriff. Er findet sich an prominenter Stelle im Alten Testament. Sie kennen das: Ägypten. Sklaverei. Pharao. Mose. Auszug. Wüste. So die stenografische Kurzversion. Und da sitzt das Volk. Tolle Freiheit in der Hitze. Schweißtreibend auch die kulinarischen Aussichten. Da heißt es „Da murrte das Volk gegen Mose.“(Ex 15,22) Die Israeliten haben sicher guten Grund zu murren. Es geht ums Überleben. Hinterm Murren steht eine grandiose Grunderfahrung des Menschen: Angst. Sei es auch religiöse Angst. Und sei das Motiv noch so einem hehren Ziel verpflichtet: Gottes Gebote zu erfüllen. Wir erleben das bis in unsere Tage.
In diesem Setting tut Jesus etwas Besonders: Er erklärt sein Handeln. In einem Bild, das alle verstehen können. Es zeigt sich seine Beobachtungsgabe und seine Liebe zur Realität. Aber auch seine Schriftkenntnis. Sein Gleichnis hat einen doppelten Boden:
Das Bild vom Schaf und dem Hirten. Da sind keine eingezäunten Wiesen. Auf denen Schafe gefahrlos weiden könnten. Vielmehr unwegsames Gelände. Sie sind angewiesen auf Schutz. Und der Kümmerer ist der Hirte. Und das so ganz ohne romantische Verklärung. Das war ein Fulltimejob. Ein Knochenjob. Und auch da kein besonders ansehnlicher. Unter den Viehwirten dürften sie als schwarzes Schaf gegolten haben. Die Schafe machen beim Fressen wenig Unterschied zwischen Feldwuchs oder Wildwuchs.
Aber da ist der zweite Boden: Die Hirtenmetapher. Sie ist bekannt im Orient. In Israel auch. Spätestens mit König David, dem einstigen Hirtenjungen und Liedermacher, dem auch Psalm 23 zugesprochen wird. Gott ist der Hirte. Er selbst. Der Eigentümer der Schafe passt selbst auf sie auf. Gott ist der Menschenkümmerer. Das verstehen auch die Pharisäer und Schriftgelehrten.
Aber will ich das eigentlich? Kann ich nicht ganz gut für mich selbst sorgen. Will ich mit einem Schaf verglichen werden? Es stimmt. Wir haben gelernt ohne Hirten auszukommen. Und auch im religiösen Kontext: Laufen da nicht auch die Schafe ihren Hirten in Scharen davon?
Vielleicht glückt die Schafmetapher für uns auch heute noch. Nämlich dann, wenn wir Schafe nicht auf naive Nachfolge reduzieren, sondern die Schafmetapher zur Beziehungssache erklären: Eine Vertrautheit zwischen Schöpfer und Geschöpf. Beziehungsstatus? Vertrauend. Dem Menschenkümmerer, auf den im Leben und im Sterben Verlass ist.
Haben Sie mich nun erwischt? Doch eine Hirtenidylle? Zumindest noch nicht.
Denn jetzt kommt der Hochstuhl in den Blick: Jesus - der Menschenkümmerer - geht dem einen verlorenen Schaf nach. Edel und gut. Gewiss. Aber: Was machen die anderen 99? Ist das Gleichnis nicht eine Einladung zum „Ich-gehe-verloren-weil-sich-der-Menschenkümmerer-dann-allein-um-mich-kümmert“?
Exklusive Aufmerksamkeit. Wer wünscht sich das nicht?
Erlauben Sie mir einen weiteren - und für heute letzten Blick - Blick ins Alte Testament. Das Buch Genesis erzählt die Geschichte von Josef. Verkauft von seinen Brüdern fristet er ein Dasein jenseits der Familie. Josef kommt zum Kämmerer des Pharaos. Und Gott? Der war mit Josef: „Der HERR aber war mit Josef, es gelang ihm alles wohl.“(Gen 39,2) Und während Gottes Segen auf Josef in der Fremde ruht, scheint es Jakob und den verbliebenen Söhnen in der Heimat weitaus weniger gut zu gehen: „Und Jakob erfuhr, dass es in Ägypten Getreide zu kaufen gab. Da sprach Jakob zu seinen Söhnen: Was schaut ihr einander an? Und er sprach: Seht, ich habe gehört, dass es in Ägypten Getreide zu kaufen gibt. Zieht dort hinab und kauft für uns Getreide, damit wir am Leben bleiben und nicht sterben.“(Gen 42,2).
Es ist und bleibt zum Murren: Während er beim einen ist, scheint er abwesend beim Anderen. Ist das Gottes Hochstuhlerfahrung?
Nein. Der Fluchtpunkt ist ein Anderer: Es geht um Gottes Anwesenheit im Entfernten. In der scheinbaren Gottesferne. Und die Erkenntnis: Gott - der Menschenkümmerer - ist bei denen, die ihn besonders brauchen. Das sollte aber nicht missverstanden werden als eine ausschließende Exklusivität.
Haben die Pharisäer nun Grund zu murren? Oder stehen sie schon unter der Herrschaft Gottes? Was glauben Sie?
Tobias Henrich, Lohr