headeroben

Predigt 3. Sonntag im Jahreskreis A

„Reden wir über das Himmelreich“

 

Liebe Schwestern und Brüder

vor etwa 70.000 Jahren wurde die Religion „erfunden“, behauptet zumindest der israelische Historiker und Erfolgsautor Yuval Noah Harari in seinem Bestseller „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ (Harari; Eine kurze Geschichte der Menschheit. Pantheon-Verlag 2015).

Zur Beruhigung: Es geht um Religion als das System von Worten, Lehren, Ritualen und Traditionen, nicht um den Glauben an Gott. Über den Glauben spricht Harari nicht, auch wenn man ihm aufgrund seiner sonstigen Äußerungen durchaus unterstellen kann, dass er auch darin keine ursprüngliche Haltung des Menschen sieht. Vor 70.000 Jahren, so Harari, muss etwas in der Entwicklungsgeschichte des Menschen geschehen sein, dass ihn vom unbedeutende Tier zum „homo sapiens“ werden ließ. Damals wurde er erst fähig, über Gott zu reden. Sprechen konnte der Mensch sicher schon lange. Unsere Sprache ist nicht das erste Kommunikationssystem. Jedes Tier kann sich verständigen. Auch der Mensch war in der Lage, seinen Artgenossen mitzuteilen, was er gesehen hatte, und sie gegebenenfalls vor Gefahren zu warnen. Der Signalruf „Vorsicht Löwe an der Flussbiegung“, war keine große Revolution. weil jeder Bewohner des Dorfes schon einmal einen Löwen gesehen hatte und an der Flussbiegung gestanden war. Aus welchen Gründen auch immer begann der Mensch aber zu einem bestimmten Zeitpunkt seiner Geschichte, weit abstraktere Vorstellungen in Sprache zu fassen. Er redete jetzt von Ideen, die man nicht sehen, nicht anfassen und nicht in Atome aufspalten konnte: Gott, Menschenrechte, Hoffnungen. Harari nennt diesen Augenblick die „kognitive Revolution“, also den Moment, in dem das Denken auch in der Sprache über das, was mit Augen und Händen erfassbar ist, hinausgeht und Abstraktes, das nicht greifbar ist, in Worte bringt, die dennoch seine Artgenossen verstehen und mit denen  sie etwas anfangen konnten. Harari nennt das Ergebnis dieser „kognitiven Revolution“ die „fiktive Sprache“. Das klingt ein wenig nach Mythen und Märchen. Das kann man bei Harari durchaus mithören, so radikal objektiv er die Wirklichkeit erfasst. In jedem Fall steht am Ende eine Sprache, in der der Mensch sich selbst überschreitet und nicht mehr gebunden ist an das, was die Sinne festhalten. Jetzt kann er weiterdenken, philosophieren, nach dem Sinn fragen und eine Vorstellung von Gott formulieren. Ohne diese Fähigkeit kann der Mensch keine Menschenrechte postulieren. In einer Sprache, die nur Materielles zum Inhalt hat, kann man nicht über die Würde des Menschen, seine Freiheiten und Grundrechte nachdenken. Dazu muss ich eine Idee vom Menschen entwickeln. Auch wenn dieser Prozess sich über viele Jahrtausende hinzog, begonnen hat er mit der Überschreitung des begrenzten Erfassens und dem Abenteuer einer neuen Weite des Denkens. Nur auf diesem Hintergrund kann der Mensch auch die Rede von Gott beginnen: Wie wollen Menschen, die gänzlich im Irdischen verhaftet sind, über etwas nachdenken und reden, was jede Vernunft übersteigt. Diese Fähigkeit zu einer neuen Sprache etabliert auch Formulierungen, die nicht mit Augen und Ohren wahrnehmbar sind. „Was ist Himmelreich?“, müsste ein Mensch fragen, der vor dieser kognitiven Revolution gelebt hat. Er kann dazu letztlich keinen Zugang finden, wenn er nicht sich selbst überschreitet, Erfahrungen deutet und seine Hoffnungen ins Wort bringt.

Ein Israelit zur Zeitenwende dagegen ist mit dieser Botschaft vertraut. Wenn Jesus heute seinen ersten großen Auftritt nach der Taufe und der Wüstenzeit hat, dann verkündet er mit dem Ruf, dass das Himmelreich nahe ist, eine Botschaft, die sofort bei den Menschen Anklang finden kann. Er muss das Wort „Himmelreich“ nicht erklären. Jeder Zuhörer verbindet damit eine Vorstellung, Hoffnung oder Erwartung.

Den Hintergrund bilden zum einen die Überlieferungen der jüdischen Bibel, aber nicht weniger das konkret erlebte politische System, also die Fremdherrschaft durch die Römer, die nach dem Tod Herodes des Großen noch direkter und drückender wurde. Auch ein frommer Jude gehörte politisch zum Römischen Reich, das von Augustus regiert und in dem er durch seinen Glauben als Sonderling abgestempelt war. Als Untertan des römischen Reiches blieb er aber doch verwurzelt in der langen Geschichte des Volkes Israels mit seinem Gott. Für jeden Juden ist es die Grundwahrheit seines Glaubens, dass das Himmelreich am Ende über alle Reiche dieser Erde triumphieren wird.

Kardinal Christoph Schönborn weist darauf hin, dass Jesus niemals sagt: „Das Reich Gottes ist das oder das“. Vielmehr beschreibt er sein Wachsen und sein Nahekommen in Bildern aus dem alltäglichen Leben. (https://www.erzdioezese-wien.at/site/glaubenfeiern/christ/bibel/gedankenzumevangelium/article/66258.html) Jeder Jude, so Kardinal Schönborn, verband mit dem Wort „Himmelreich“ sofort drei Bedeutungen:

  • Gott ist der König schlechthin. Es gibt keinen anderen Herrn über Leben und Tod. Der römische Kaiser kann einen das Leben nehmen, aber letztlich kommt es aus Gottes Hand und kehrt in seine Hand zurück.
  • Gott übt seine Herrschaft auch aus. Gott lässt sich die Macht über das Leben nicht nehmen. Immer wieder erinnern die biblischen Schriften daran, dass Gott in die Geschichte des Volkes Israel und in das Leben eines Menschen machtvoll eingreift und Freiheit schenkt. Er holt das Volk aus Ägypten und gibt ihm sein Land. Er gebietet den Babyloniern Einhalt, zerstört ihre Herrschaft und lässt Israel aus dem Exil zurückkehren. Er wird sich als der große Befreier auch in dieser Situation erweisen.
  • Gottes Herrschaft streckt sich über alles, was lebt, aus. Es gibt für ihn keine Grenzen von Religion, Kultur, Hautfarbe oder Lebensformen. Auch wenn er seinen Bund mit Israel schließt, streckt sich seine Herrschaft über Himmel und Erde aus.

In dem Moment, in dem Jesus den Menschen die Hinwendung zur frohen Botschaft vom Himmelreich verkündet, das nahe ist, ja schon mit ihm begonnen hat, war davon so wenig zu spüren wie zu unserer Zeit. Wenn „Himmelreich“ heißt, dass Gottes Herrschaft sich ausbreitet, dann trifft das sicher die Sehnsucht vieler Menschen, aber muss sich auch den enttäuschten Hoffnungen stellen, die die Wirklichkeit vielen Menschen geraubt hat. Wenn wir täglich im „Vater unser“ um das Kommen des Reiches Gottes beten, dann stellen sich doch einige unbequeme Fragen, die Kardinal Schönborn sehr offen benennt: „Hat er die Herrschaft über seine Schöpfung verloren? Muss er sie erst wiedergewinnen? Oder ist es so, dass wir uns seiner Herrschaft entzogen haben? Ist sein Reich bei uns noch nicht angekommen?“

Man könnte versucht sein, jede dieser Fragen mit „Ja“ zu beantworten und frustriert die Hoffnung aufzugeben. Ganz offensichtlich beherrscht alles andere nur nicht Gott unsere Welt: Feindseliger Neid auf den Wohlstand anderer Menschen, Angst vor dem Fremden, Erfolgsdruck, Machtspiele, Kriegslust. Die Herzen vieler Menschen werden von Egoismus, Misstrauen, Eifersucht und Missgunst so besetzt gehalten, dass sie nur noch in Angst leben können, etwas zu verpassen und von anderen übertrumpft zu werden.  Das ist die schmerzliche Erfahrung unserer Zeit, aber auch die offene Wunde des Glaubens im Israel der Zeitenwende.

Jesus erzählt den Menschen keine Vertröstungen im Auftrag der Mächtigen, er weckt in ihnen die Hoffnung auf Veränderungen. Das kann er, weil für ihn „Himmelreich“ keine leere Theologen-Floskel ist, ein Füllwort, mit dem man alles begründen kann, sondern weil es die Kraft ist, die ihn selbst antreibt. Er ist nicht nur gekommen, das Reich Gottes zu predigen, sondern es erlebbar zu machen: Kranke werden geheilt und Menschen, die von Dämonen der Angst besessen sind, zu neuen Lebensmöglichkeiten befreit.

Welcher Funke muss da übergesprungen sein, als Jesus am Ufer des Sees Genezareth stand und den Brüderpaaren Simon und Andreas, Johannes und Jakobus die Botschaft vom Himmelreich verkündete? Sie lassen alles los, was ihnen bisher Halt gegeben hat und was sie auch gebunden hat: Simon und Andreas lassen allen materiellen Besitz zurück, Jakobus und Johannes geben alle familiären Bindungen auf und verlassen das Boot ihres Vaters. Es ist weit weniger die Lehre vom Himmelreich als vielmehr das Beispiel des Lebens Jesu, das ihnen diesen Mut schenkt. In Jesus begegnen sie einem Menschen, der ohne Angst, mit aufrechter Haltung und voller Vertrauen in Gott als freier Menschen lebt, weil sein Leben ganz unter der Herrschaft Gottes steht. Ihm kann kein Mächtiger Angst machen, keine Macht verlocken und kein politischer Druck zerbrechen, weil er sein Leben ganz in den Händen Gottes weiß. Er spricht ganz anders von Gott als die Lehrer seiner Zeit. Es ist kein Gott, der kleinlich auf die Reinheit der Herzen bedacht ist und immer noch mehr Opfer fordert, sondern eine liebende Mutter und ein sorgender Vater. Jesus verkündet Gott nicht als Dämon, der die Menschen in Angst und Schrecken versetzt, weil sie ja nie vor ihm mit ihrem Leben bestehen können, sondern als barmherzigen und heilenden Arzt der Herzen, der aufrichtet und nicht niederdrückt. Jesus selbst kommt nicht, um die Sünde zu bestrafen, sondern um sie zu vergeben. Er ist nicht zuerst darauf erpicht, sie aufzudecken und zu brandmarken, sondern die Herzen von schwachen Menschen zu heilen. Eben diese Botschaft muss  die zwei Brüderpaare erreicht haben, denn nur deshalb können sie es wagen, sich auf diesen neuen Weg Jesu einzulassen. Sie werden nicht so konsequent wie Jesus diese Freiheit der Kinder Gottes leben. Immer wieder ist ihr Glaube vom  Zweifel bedroht und droht ihnen das Scheitern. Aber sie werden ihren Weg gehen vom See Genezareth über Golgatha bis in den Pfingstsaal.  Am Ende wird ihre Hoffnung stärker sein als ihre Angst. Nur so können sie selbst Menschen für das Evangelium gewinnen.

In unserer Zeit halten sich viele Menschen für aufgeklärt und modern, wenn sie solche Verheißungen als Vertröstungen und Märchen abtun. Ich glaube, dass wir keine Chance auf Frieden, Freiheit und Glück haben, wenn wir nicht weit denken, und Hoffnungen vertrauen, die sich nicht im Materiellem festmachen, sondern über die bittere Realitäten von Leid und Gewalt hinausschreiten und sich festmachen im Glauben, dass der Mensch, der sich Gott öffnet, wirklich frei werden kann von der Angst vor dem Scheitern unseres Lebens. Der große Religionsphilosoph Eugen Biser hat immer betont, dass Religion, die etwas taugen will, Stellung nehmen muss zur Frage, warum Menschen Angst vor dem Leben und dem Tod haben.

Es ist verwunderlich, dass das „Himmelreich“ in der Verkündigung Jesu den zentralen Platz einnimmt, aber nie Eingang gefunden hat in unser „Glaubens-bekenntnis“.  Wir dürfen nie der Versuchung erliegen, dass der Glaube an Gott sich im Bejahen aller Lehraussagen erschöpft. Sie sind sicher ein gutes Geländer, um uns der Größe Gottes und seines Handelns durch die Geschichte hindurch zu vergewissern. Entscheidend aber ist es, Gott zuzutrauen, dass er in unsere Wirklichkeit hineinwirkt und ihn unsere Herzen ergreifen zu lassen. Manchmal ist der Platz, den wir Gott in unserem Herzen geben neben allen Sorgen so klein, dass er dem berühmten Senfkorn im Evangelium gleicht. Aber es kommt gar nicht darauf an, wie vorbehaltlos wir uns öffnen, auch der kleinste Spalt reicht für Gott, dass er die Hoffnung auf sein Reich in uns wachsen lassen kann wie den Baum im Evangelium, der alles überragt. Gelegenheit dazu haben wir immer. Wenn Jesus uns heute zuruft „Kehrt um, Denn das Himmelreich ist nahe“, dann besteht nicht die Gefahr, dass wir unsere  Chance verpassen. Seine Einladung hat kein Verfallsdatum. Sie gilt immer. Amen.                                                             Sven Johannsen, Pfarrer

3_Himmelereich.pdf

­