Liebe Schwestern und Brüder
„Sind Sie glücklich?“ - Jetzt im Augenblick? In ihrer derzeitigen Lebenssituation als Kind, Jugendlicher, Erwachsener, alleinstehend oder in einer Partnerschaft, als Ehepartner, Eltern, Großeltern, Witwe, Witwer, gesund oder zumindest nicht so krank, dass Sie noch das Haus verlassen können?
Hatten Sie eine glückliche Kindheit oder eine glückliche Ehe, die durch den Tod des Ehepartners leider beendet wurde? Können Sie sogar sagen, dass ihr ganzes Leben glücklich war und noch ist? Ich wünsche es Ihnen sehr.
Was macht ein Leben glücklich? Gesundheit? Eine harmonische Ehe und gute Familie? Die Erfahrung, Glück gehabt zu haben, z.B. bei der Vermeidung eines Unfalls, aber auch beim Ergreifen von zufälligen Karrierechancen. Oder einfach Ruhe und Zeit zu haben, ein Buch zu lesen. Jeder hat seine Vorstellung von einem glücklichen Leben. Daher kann wohl niemals ein Rezept für das Glücklichsein gefunden werden, das allen Menschen ein gelingendes Lebens verheißt.
Doch! Seit 85 Jahren forschen Wissenschaftler der berühmten Harvard-Universty in den USA in einer Studie über die Frage „Was ist ein glückliches Leben?“. Es ist die am längsten laufende wissenschaftliche Studie der Geschichte, die sich mit der Entwicklung von Menschen befasst. Bereits als vierter Direktor leitet Robert Waldinger die Arbeiten. Seit 85 Jahren beobachten er und sein Vorgänger dieselben Männer aus Boston. Von den 724 ursprünglichen Teilnehmern sind noch 40 am Leben, die alle schon fast oder bereits über 100 Jahre alt sind. Robert Waldinger beschreibt die Art der Untersuchungen in einem Interview mit der SZ v. 19.1.2023: „Wir haben ihre Aufs und Abs beobachtet, ihre körperliche und mentale Gesundheit, ihre Ehen, ihre Kinder, ihr Arbeitsleben. Manche waren im Krieg. Manche sind reich geworden, andere sind verarmt. Einer wurde US-Präsident (John F. Kennedy, Anmerkung der Redaktion). Aus dieser Langzeitforschung ziehen wir Schlüsse – was macht ein gesundes und erfolgreiches Leben aus? Und was ist eigentlich ein glückliches Leben?“(https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/gesellschaft/glueck-beziehungen-robert-waldinger-e276198/) Mittels Fragebögen, Stresstests, Blutbilder, Genanalysen, Scans des Gehirns, aber auch Befragung des Umfelds werden Daten erhoben, wie der Mensch sich im Augenblick fühlt, welche Veränderungen es gibt mit dem Älterwerden und wie sich Schicksalsschläge, Krankheiten, die Situation der Welt auf das eigene Glücksempfinden auswirken.
Tatsächlich wagen die Wissenschaftler heute eine allgemein gültige Antwort auf die Frage. „Was ist ein glückliches Leben?“ Für ein glückliches und erfülltes Leben brauchen wir letztlich nur eine Sache: Gute Beziehungen. Sie machen uns glücklich und gesünder, ganz einfach. Wichtig ist dabei die Betonung der Eigenschaft gut. Es kommt nicht auf die Anzahl unserer Freundschaften an, sondern auf die Qualität der Beziehung. Diese lässt sich leicht anhand von einigen Fragen feststellen, wie ich mich fühle, wenn ich mit einem anderen Menschen mein Innerstes teile:
- Wie tief geht die Beziehung? Kann ich wirklich alles mitteilen, was mir auf dem Herzen liegt?
- Kann ich mich sicher und entspannt fühlen, obwohl ich durch die Öffnung meines Herzens mich selbst verwundbar mache?
- Kann ich in dieser Beziehung so sein, wie ich wirklich bin, und kann ich den anderen Menschen schätzen, wie er ist?
Ein Merkmal ist dabei die Einsicht, dass Menschen, die glücklich sind, weil sie in stabilen und guten Beziehungen leben, nicht alles und sofort brauchen, sondern oft sogar weniger wollen. Wichtig sind die Erfahrung von Liebe und ein Lebensweg, der die Liebe nicht vertreibt, z.B. durch die Fixierung auf Arbeit und Karriere. Die glücklichsten Menschen der Studie waren Männer, die in ihrem Beruf als Lehrer etwas an junge Menschen weitergeben konnten, in stabilen Familien und einer guten Ehe lebten. Die schwersten Angriffe auf das Glück, so die Studie, sind der Tod eines Kindes, des Ehepartners oder die falsche Wahl des Ehepartners. Aber auch in bedrängten Situationen muss der Mensch nicht automatisch unglücklich werden: Gelassenheit, soziales Engagement, Humor, Realitätssinn, Aktivität und auch die Fähigkeit, aus der Erfahrung von Bedrängnis für die Zukunft zu lernen, helfen dabei, glücklich zu bleiben.
Glück ist im Leben des Menschen nicht ein oder zwei glückliche Momente, auch nicht nur eine ungetrübte Lebensphase, sondern eine Grundeinstellung zum Leben, in dem wir die richtigen Schwerpunkte setzen: Kommunikation und Austausch als Grundlage von guten Beziehungen. Sie schaffen die besten Voraussetzungen für emotionale Stabilität im Leben und für körperliche Gesundheit.
Als Seelsorger bin ich überzeugt, dass „gute Beziehungen“ sich nicht auf Menschen beschränken, sondern immer Gott einschließen, der ja kein monolithischer Block oder eine abstrakte Schicksalsmacht ist, sondern sich in Jesus als der „Immanuel, Gott mit uns“ geoffenbart hat. Das Volk Israel hat uns mitgenommen in den Bund mit Gott, den Jesus durch seinen Tod und seine Auferstehung in eine noch tiefere Intensität geführt hat. Als Bundespartner Gottes sind wir nicht furchtsame Sklaven einer dämonischen Macht, die wir ständig durch Opfer besänftigen müssen, sondern wir haben den Geist seines Sohnes empfangen, wie es Paulus sagt, „den Geist, der ruft: Abba, Vater.“ (Gal 4,6) Die Qualität unserer Beziehung zu Gott hat m.E. auch eine entscheidende Bedeutung dafür, ob wir unser Leben glücklich und gelingend empfinden, gerade dann, wenn ich durch den Verlust von Menschen, die ich liebe, oder durch Schicksalsschläge, Trennungen oder Gebrechlichkeit tragende Beziehungen verloren habe und in Gefahr stehe, mich einsam zu fühlen.
Die „gute Beziehung“ zu Gott ist v.a. von Vertrauen und Hoffnung geprägt, nicht von der Erwartung, dass er mir immer das gibt, was ich haben will, mich v.a. Gefahren beschützt und ich immer nur unbeschwerte Zeiten erlebe.
Heute wird uns im Evangelium einer der berühmtesten Texte der Weltliteratur vorgelegt: Der Anfang der Bergpredigt Jesu mit den acht Seligpreisungen. Die Seligpreisungen gehören zu den großen Worten der Menschheitsgeschichte, deren Anfang die meisten Zeitgenossen noch mehr oder weniger richtig frei zitieren können: „Selig, die arm sind vor Gott, denn ihnen gehört das Himmelreich.“ Diese einleitende Seligpreisung ist nicht nur die erste Zusage Jesu, sondern letztlich die Überschrift über diese große Hoffnungsbotschaft. Jesus setzt eine weise Einstellung bei seinen Zuhörern voraus: Die Welt, in der die Frauen und Männer zur Zeit Jesu, die Gemeinde des Matthäus und auch wir heutigen Gottesdienstbesuchern leben, ist zwiespältig. Man kann in ihr viel Glück haben, aber das „Glücklichsein“ ist immer bedroht. Jesus greift auf die Erfahrung der Menschen zurück: Sie stehen oft machtlos und arm den großen Krisen der Weltzeit und ihrer eigenen Lebenszeit gegenüber, dennoch verbittern sie nicht, sondern leben aus der Hoffnung. Wichtig ist für alle Seligpreisungen, dass Jesus die Menschen nicht „selig“ oder „glücklich“ preist, weil sie Leid, Not oder Verfolgung erleiden, sondern trotz dieser Bedrängnis. Der Grund für ihr „Glück“ ist nicht das „Unglück“, sondern die Stärke ihrer Beziehung zu Gott, die ihnen auch in der Krise Halt und Stabilität gibt.
Das ist nicht selbstverständlich. Seit der Corona-Pandemie werden viele Menschen von einer Fixierung des Denkens auf das Schlechte beherrscht, die heute „doom-scrolling“ genannt wird. Psychologen verstehen darunter das endlose Konsumieren von schlechten Nachrichten auf allen möglichen Medien. Diese Verhalten erscheint fast zwanghaft, denn die Menschen wissen, dass sie keine neue Informationen über eine Bedrohung oder ein Ereignis erhalten, und ihnen auch nicht guttut.
Das Evangelium und die Seligpreisungen im Besonderen sind völlig ungeeignet für hartnäckige Pessimisten, die letztlich nur ihre negative Sicht auf das Leben und die Welt, bestätigt haben wollen. Gerade die Seligpreisungen sind keine Vertröstungen, sondern Hoffnungsworte. Jesus verspricht nicht, dass Notsituationen sich kurzfristig ändern, aber er redet Menschen auch nicht ein, dass der Himmel umso schöner sein wird, je mehr sie hier leiden. Er sagt realistisch, dass „der Lohn im Himmel“ noch fern ist, aber er verbreitet weder billigen Optimismus noch deklassiert er die Welt zum Jammertal. Er verkündet Hoffnung, die von Gott kommt und schon im Leben greift. Wer auf Gott vertraut, muss nicht mit dem Leben abschließen, weil es von Unglück heimgesucht wurde, sondern wird ermutigt zum Handeln, die der Wirklichkeit des Reiches Gottes entspricht: Frieden stiften, Gerechtigkeit suchen, barmherzig sein. Wer die Seligpreisungen hört, kann nicht in eine religiöse Vergeistigung flüchten, die die Welt ablehnt und nur noch auf den Himmel wartet. Vielmehr weiß er, dass nicht alles gut ist, aber sich der Einsatz lohnt, anderen Menschen etwas von der Wirklichkeit der Nähe Gottes erlebbar zu machen.
Das gilt für jeden Einzelnen von uns, aber auch für unsere Gemeinde. In der letzten Woche hat der PGR zu den Gottesdiensten auch eine ein Umfrage gestartet. Es kamen die großen kirchenpolitischen Themen zur Sprache, aber v.a. ging es um das Leben in der Gemeinde. Warum komme ich nach St. Michael zum Gottesdienst? Wie fühle ich mich hier? Was spricht mich an? Frau Pearson wird in der nächsten Zeit über die Ergebnisse informieren, aber ich möchte jetzt schon sagen, dass ich beeindruckt bin über die Zahl der Rückmeldungen und auch über die Eindrücke, die geschildert wurden. Es ist eine hohe Identifikation der Gottesdienstbesucher mit der Gemeinde zu spüren. V.a. habe ich mitgenommen, dass eine Antwort sehr häufig fiel: „Ich fühle mich hier aufgehoben und zuhause.“ Das ist eine wunderbare Beschreibung für Kirche vor Ort. Wir sind eine Glaubensgemeinschaft. Wir kommen zur Feier des Gottesdienstes zusammen, aber das Gefühl, dazuzugehören und willkommen zu sein, ist eine menschliche Aufgabe von Gemeinde. Auf den anderen achten, ihm / ihr die Sicherheit zu geben, dass er / sie nicht übersehen wird, ist mindestens so wichtig wie die Feierlichkeit der Liturgie, die ja auch in St. Michael sehr gelobt wird. Es freut mich sehr, dass diese Rückmeldungen auch an die Ehrenamtlichen kommen. Zugleich fordern sie heraus, nachzudenken, ob wir wirklich immer alle im Blick haben. Ich sehe eine große Aufgabe unserer Gemeinde in der Zuwendung zu verwitweten Menschen. Manche Frau / mancher Mann trauert um den Partner / die Partnerin, mit der sie / er viele Jahrzehnte gelebt hat. Aber da sind auch alleinstehende Kinder, die bis ins Rentenalter für ihre Mutter / ihren Vater gesorgt haben. Menschen eine Hoffnung geben, dass sie auch in der Erfahrung von Trauer noch glücklich werden können, ist ein zentraler Dienst in unserer Gemeinde.
Jedes Engagement für eine bessere Welt wird getragen von der göttlichen Zusage des Heils in einer ambivalenten Welt. Wer dieser Hoffnung trauen kann, lebt in guter Beziehung mit Gott. Er wird Trauer und Enttäuschung erleben, aber er muss nicht verzweifeln und unglücklich werden. Gerade die Seligpreisungen lassen uns glauben, dass Gott das Dunkle sieht und in diese Erfahrungen sein Versprechen verkündet, glücklich zu sein, um uns auch zu bewahren vor einem depressiven Rückzug aus der Welt. Glücklich kann werden, wer alles von Gott erwartet und sich selbst auf Gottes Barmherzigkeit angewiesen weiß. Das ist etwas wesentlich anderes als „zwanghafter Optimismus. Gute Beziehungen zu Gott lassen sich Einstellung des Vertrauens zusammenfassen. Wir hoffen letztlich auf den, der immer noch Möglichkeiten hat, wenn wir keine mehr sehen. Lassen wir uns durch die Seligpreisungen ermutigen, diesen Schritten, der Zukunft schenkt, zu wagen. Dann haben wir gute Chancen, als glaubende Menschen schon hier ein glückliches Leben zu führen. Amen. Sven Johannsen, Pfarrer