Predigt 4. Sonntag im Jahreskreis C 2022
„Drei Jahre und ein Tag - Bleiben oder Gehen?“
Liebe Schwestern und Brüder
„Drei Jahre und ein Tag“ - so lange muss ein Geselle mindestens unterwegs sein, wenn er sich auf die Walz macht. Immer wieder sehen wir sie an den Straßen: wandernde Handwerkgesellen und -gesellinnen auf ihrer Tippelei, dem traditionellen Lehrweg ohne Geld, ohne Handy, ohne festes Zuhause. Die Tippler und immer mehr auch Tipplerinnen, deren Reisekluft uns verrät zu welchem Gewerk sie gehören, sind wieder im Kommen. Junge Menschen entdecken diese ursprüngliche Form des heute beliebten „Work and Traffeling“ wieder und begeben sich nach mittelalterlicher Tradition auf Lehr- und Wanderjahre. Sie müssen sich ehrbar verhalten, weil sie auf die Hilfe von anderen Menschen angewiesen sind, und sollen ihr Talent entfalten durch das Lernen bei verschiedenen Meistern.
Vor ein paar Tagen hatten wir in unserem Pfarrheim Besuch von einer ganz munteren Truppe: acht junge Frauen und Männer in roter, grüner, schwarzer und blauer Kluft machten Station und übernachteten in unserem Pfarrsaal. Einige waren schon lange unterwegs, andere, beispielsweise eine junge Frau, haben gerade erst ihren Weg begonnen. Goldschmiede, Kirchenmalerinnen, Bootsbauer, Maurer und natürlich Zimmerleute gehen jetzt ein Stück Weg zusammen, bis einer oder eine von ihnen irgendwo für eine Zeitspanne bleibt und in einem Betrieb mitarbeitet. Immer aber halten sie eine Bannmeile von mindestens 50 Kilometer zu ihrem Heimatort ein. Näher dürfen sie dem Ort nicht kommen, aus dem sie losgelaufen sind. Die Eltern und Familien treffen die jungen Menschen vielleicht ab und an auf dem Weg, aber das Haus, in dem sie groß geworden, die Heimat, in der sie zuhause waren, ist jetzt Tabu. Ich erinnere mich vor vier oder fünf Jahren kam an einem Karfreitagabend eine kleine Gruppe von Zimmerleuten bei uns an, die letzte Station, bevor am nächsten Tag einer der jungen Menschen wieder heimkehren durfte. Es war Heimkehr und Abschied zugleich. Er hat erzählt, wie schwer es manchmal war, nicht zurückkommen zu dürfen, und wie schwer es jetzt ist, diese Lebensphase des Wanderns aufzugeben und wieder daheim zu sein. In der Regel bringt die Familie den jungen Menschen am Tag des Losgehens zum Ortsschild und hilft ihm, sich auf den Weg zu machen. Bei seiner Heimkehr nimmt sie ihn Empfang und feiert seine Wiederkehr. Es ist ein schwerer Schritt, die Heimat zu verlassen, den Ort, wo man groß wurde, sich der Geborgenheit in einer Familie sicher sein konnte, Freunde fand und alle prägenden Wesensmerkmale für die eigene Persönlichkeit entwickelte. Er wird überschattet von vielen schönen Erinnerungen, manchmal verbunden mit Heimweh und dem Gefühl, alles loslassen zu müssen.
Die Menschen, die Jesus heute zum Ortsende ihrer Stadt bringen, sind wahrlich keine seiner Freunde. Zumindest sind sie es jetzt nicht mehr. Man kennt sich in Nazareth. Jesus ist für alle einfach der Sohn des Zimmermanns Josefs. Er war mit ihnen in der Synagoge, in der Toraschule und hat auf ihren Baustellen gearbeitet. Vielleicht hat der eine oder andere ihn schon immer für etwas sonderbar gehalten, aber er gehörte dazu, war fest integriert in Familie, Sippe und Dorf. Wenn er jetzt geht, dann geht er für immer. Das wird ihm klar sein. Seine Familie wird er ab und an treffen, weil sie ihm nachreist, aber diesen Ort Nazareth wird er niemals wieder betreten. Er lässt hier seine Kindheit und Jugend, von der Lukas wenige Zeilen vorher berichtet hatte: „Jesus aber wuchs heran und seine Weisheit nahm zu und er fand Gefallen bei Gott und den Menschen.“ Es braucht den bergenden Raum einer Heimat, dass ein junger Mensch heranwachsen kann, stark wird im Geist und Beziehungsfähigkeit lernt. Genau von diesem Lernort seines Leben trennt sich Jesus jetzt unwiderruflich. Da steht keine Tür mehr offen, durch die er alles, was jetzt kommt, irgendwann einmal ungeschehen machen könnte. Der Auszug aus Nazareth ist ein Bruch in seinem Leben, den viele Menschen auch heute kennen: Die ersten Wochen nach dem Auszug aus dem Elternhaus, weil man eine Ausbildung, ein Studium, eine neue Arbeitsstelle beginnt. Das „Hotel Mama“ ist für viele eine verlässliche Rückversicherung. Wenn alles schief geht, dann weiß man, wo man sich wieder zurückziehen kann und beschützt wird vor der Welt. Aber manchmal gibt es diesen letzten rettenden Ausweg nicht. Ich denke an die jungen Menschen, die vor achtzig Jahren in den Krieg ziehen mussten und nicht mehr in die Heimat zurückkehren konnten, weil die Familie aus Schlesien, dem Sudetenland, Pommern und Ostpreu0en vertrieben war. Ich denke an die jungen Menschen, die sich aus afrikanischen Ländern über das Meer aufmachen nach Europa und hier eine neue Heimat suchen. Ich denke an junge Menschen, die kein glückliches Zuhause haben und so bald wie möglich sich auf den Weg machen und ihr Glück suchen. Immer ist dieser Aufbruch mit Verlust verbunden. Ein Teil meiner Geschichte bleibt zurück und kehrt niemals wieder.
Wenn Lukas uns diese große Enttäuschung für Jesus am Anfang seines Wirkens erzählt, also noch vor der Berufung der ersten Jünger, von der wir am nächsten Sonntag hören werden, dann wird vielleicht auch deutlich, wie viel Stärke und Mut es von ihm verlangte, sich dem Auftrag Gottes zu stellen, den er bei der Erwählung während der Taufe im Jordan spürte und vierzig Tage in der Einsamkeit der Wüste meditierte. Jesus bewahrt sich gerade bei Lukas sehr menschliche Züge und es ist gut vorstellbar, dass das innere Ringen, von dem wir in der letzten Nacht seines Lebens hören werden, auch schon hier ein frühes Echo findet und er wie der junge Jeremia in der Lesung sehr wohl weiß, welche Verluste und Enttäuschungen der Weg bringen wird, den er nun in seiner Heimat Nazareth begonnen hat. Am Anfang steht der Rückschlag, der ihm eindringlich bewusst macht, dass er nur das Reich Gottes verkünden kann, wenn er seine alte Sicherheiten aufgibt und sich ohne zurückzuschauen auf den neuen Weg einlässt. Manchmal, das wird uns heute am Herrn selbst vor Augen geführt, können wir zu neuen Ufern nur gelangen, wenn wir, auch unter Schmerzen, die alten Häfen verlassen ohne Hoffnung auf Wiederkehr.
Gilt das auch für die augenblickliche Situation unserer Kirche? Viele haben gute Erfahrungen gemacht mit der Kirche in ihrer Kindheit und Jugend, das wird jetzt oft übersehen bei der Diskussion, die den Eindruck erweckt, dass überall nur Verbrechen und Unterdrückung geherrscht hätten. Nein, viele Menschen erinnern sich an glückliche Jugendtage in der Gruppe der Ministranten, bei Zeltlagern und Jugendfreizeiten, in der Begegnung mit charismatischen Seelsorgern, die sie geprägt haben, und das verantwortliche Reifen als MitarbeiterInnen und GruppenleiterInnen in Verbänden und Chören. Ich bin überzeugt, dass ein Großteil der Katholiken meines Alters in ihrer Jugend eine Kirche erfahren haben, in der nicht Angst und Ausgrenzung dominierten, sondern Gemeinschaft und Ermutigung. Aber kann es sein, dass es jetzt trotz all der guten Erinnerungen an der Zeit ist, die Kirche zu verlassen, weil sie sich nur so verändern wird? Es gibt in allen Medien Aufrufe an uns, sich zu überlegen, ob wir mit unserem Bleiben nicht weiterhin ein System von Gewalt und Vertuschung möglich machen. Viele KatholikInnen gehen nicht aus Hass auf die Kirche, sondern weil sich sich verpflichtet fühlen, die alten Bindungen an die „Institution Kirche“ abzuschneiden, um weiterhin mit Christus verbunden zu bleiben. Ich halte diese Überlegungen für durchaus verantwortlich: Bleiben oder Gehen? Die rote Karte zeigen oder dabei bleiben, um etwas von innen heraus zu ändern? Es muss selbst dem härtsten Betonkopf langsam klar werden, dass es so nicht weitergehen wird. Die Elfenbeintürme in den Bischofsstädten brechen zusammen. Immer weniger junge Menschen studieren Theologie, die Zahlen der Priesteramtskandidaten in Würzburg erinnern an Zeiten nach dem Zusammenbruch des alten Systems durch Napoleon. Die eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter proben den Aufstand. Es reichen schon längst nicht mehr verständige, aber eher abstrakte Worte von Bischöfen mit hängenden Köpfen und die Zusicherung, für alle Opfer zu beten. Allein die Zahlen lassen erkennen, egal ob wir etwas tun oder nicht, Kirche wird anders werden, eine Randerscheinung. Wir haben nur die Wahl, entweder uns mitreißen zu lassen in einen Abgrund oder mitzugestalten, dass es auch weiterhin in neuer Form, mit weniger Mitteln, lebendige Orten des Glaubens in unseren Dörfern und Städten geben wird.
Viele Menschen empfinden es als Dienst am Glauben, den schmerzlichen, aber in ihren Augen notwendigen Abschied aus der Kirche zu vollziehen, weil sie sich nicht akzeptiert, höchstens geduldet fühlen von einer Glaubensgemeinschaft, in der sie durch Taufe, Kommunion und Firmung eigentlich Beheimatung finden sollten. Die ZEIT hat in der vergangenen Woche zwei Dutzend Katholiken die Frage gestellt: „Können Sie in dieser Kirche bleiben?“ Menschen jeden Alters, unter ihnen auch Politikerinnen wie die stellvertretende Bürgermeisterin von Berlin, Bettina Jarasch, die auch im PGR engagiert ist, und Friedrich Merz, aber auch Harald Schmidt, Markus Lanz und der ZDF-Chefredakteur Peter Frey, „erzählen, ob die Enthüllungen von Missbrauch und Vertuschung sie so sehr erschüttern, dass sie nun gehen. Oder ob sie gerade jetzt bleiben wollen, um etwas zu verändern.“ Die Statements sind keine Generalabrechnungen. Man liest auch bei denen, die jetzt gehen wollen, heraus, wie sehr sie dieser Schritt schmerzt.
Die ehemalige Kulturstaatsministerin Monika Grütters hat mich mit ihrer Antwort sehr beeindruckt. Sie schreibt: "Muss man jetzt aus der Kirche austreten?" Als mich Ihre Frage erreichte, saß ich gerade im Gottesdienst in St. Ludwig in Berlin. Im Grunde würde es schon reichen, in eben dieser Messe gewesen zu sein, um klar antworten zu können: "Natürlich muss man nicht austreten." Die Kirche hat gerade in ihren Gemeinden noch eine große Integrationskraft. Sie sind auch heute Orte, in denen die Frohe Botschaft verkündet wird.“ Grütters erinnert daran, dass die katholische Kirche wie keine zweite Institution über 2000 Jahren die Kultur Europas geprägt hat. Aber sie bekennt darüber hinaus: Ich hatte Glück mit dieser Kirche, die meinem Glauben eine Heimat bietet. Charismatische Seelsorger, beeindruckende Ordensschwestern, wichtige Vorbilder in der Lebensgestaltung haben mein Leben begleitet. Mein Glaube gibt mir so Halt und innere Orientierung. Ganz klar ist aber auch: Diese unsere Katholische Kirche in Deutschland muss sich tiefgreifend erneuern, um glaubwürdig bleiben zu können. Wir brauchen Frauen in Diensten und Ämtern, wir müssen den Umgang mit dem Zölibat überdenken, in der Sexualmoral neue Töne anschlagen und die Anstrengungen in der Ökumene verstärken. Dann bleibe ich auch niemandem ein klares Bekenntnis schuldig - ganz nach dem berühmten Petrus-Wort: "Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die Euch erfüllt". (https://www.zeit.de/gesellschaft/2022-01/kirchenaustritt-katholische-kirche-enthuellungen/komplettansicht)
Muss man jetzt gehen? Ich denke, dass ich Frau Grütters gut zustimmen kann. Wir müssen bleiben und die Kirche so verändern, dass sie glaubwürdig bleiben kann. In einer Zeit, in der Bischöfe mit belanglosen Worten Anteilnahme bekunden und ständig von „man“ statt von „ich“ reden, wenn es um Verantwortung geht, braucht es mutige Christen, die bekennen: Ja, ich leide an dem, was gerade geschieht, aber die Kirche ist meine Heimat und ich finde hier meinen Halt im Glauben. Dann werden wir uns auch auf den Weg machen, vieles Alte zurücklassen und mitbauen an einer Form der Kirche, die dem Glauben in unserer Zeit Heimat geben kann, so dass Menschen hier Jesus begegnen können, der seine Heimat verlässt, um uns eine Heimat zu geben in seiner Nähe. Amen.
Sven Johannsen, Pfarrer Lohr