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Predigt „Unorthodox“

5. Fastensonntag C - 3. April 2022

 

Liebe Schwestern und Brüder

 

Mitte der 90ger Jahre, im Süden von Williamsburg, einem Stadtteil im 33. Bezirk von New York: eine Zehnjährige sitzt an ihrem Lernpult in einer privaten jüdischen Schule, übt Jiddisch, liest in den Geschichten der hebräischen Bibel und lernt wie eine Frau sich in der Ehe und in der Öffentlichkeit zu verhalten halt. Sie ahnt noch nicht nicht, dass sie zehn Jahre später einmal ein Buch schreiben wird, das innerhalb kürzester Zeit auf den Bestsellerlisten ganz nach oben steigt, zuerst in den USA und dann später auch in Europa. Die bekannte Drehbuchautorin und Regisseurin Maria Schrader wird ihre Geschichte „Unorthodox“ verfilmen und ihr so beim Streaminganbieter Netflix als Miniserie zu einem großen Erfolg verhelfen. Das junge Mädchen heißt Deborah Feldman, geboren 1986 in einer Art Parallelwelt, einem jüdischen Viertel in South Williamsburg. Sie ahnt wenig vom Leben außerhalb ihrer kleinen überschaubaren Welt, denn sie gehört zu einer religiösen Sondergruppe im Judentum, den sog. Satmarer Chassiden, eine ultraorthodoxe Gruppe, die sich weitgehend von der Außenwelt abschirmt, ihre eigenen Regeln befolgt und streng nach dem Alten Testament zu leben. Sie bilden die größte Sondergruppe der chassidischen Juden. Ihren Ursprung haben sie in Rumänien, verließen aber mit ihrem Gründer Joel Teitelbaum nach dem zweiten Weltkrieg Europa und siedelten sich v.a. in New York und anderen Großstädten der USA an. Der Begriff „Chassidim“ meint übersetzt „die Frommen“ und kommt schon im 18. Jahrhundert in Osteuropa auf, als die jüdischen Gemeinden in der Ukraine, Polen und Russland in starker Bedrängnis gerieten. Die Chassiden pflegen neben den klassischen Geboten des Judentums eine starke innerliche Spiritualität, geprägt von Gesängen und Tänzen, die auch im Dunkeln die Freude an Gott ausdrücken sollen. Heute befinden sie sich in großer Distanz zum offiziellen Judentum. Sie sehen die Shoa als Strafe Gottes für die mangelnde Frömmigkeit der Juden an und lehnen die Existenz des Staates Israel ab, weil sie meinen, dass die Juden sich gegen den Willen Gottes stellen, der sie verurteilt hat, bis zum Kommen des Messias in der Fremde zu leben.
In dieser Sonderwelt, geprägt von der Jiddischen Sprache, klaren Rollenbildern und einer Ablehnung der modernen Welt wächst Deborah auf. Sie stellt als Kind diese Welt nicht in Frage, auch nicht die ungleichen Geschlechterbilder, in der der Mann studiert und die Frau sich um Wohnung und Familie kümmert. Immer ist es in dieser Sicht die Frau, die die moralische Gefahr darstellt. Strenge Kleidervorschriften schon für junge Mädchen und die Tradition, sich als erwachsene Frau die Haare zu rasieren und Perücke zu tragen, sind allgemein akzeptiert. Deborah lebt bei ihren frommen und gütigen Großeltern in sehr bescheidenen Verhältnissen. Ihr Vater ist geistig zurückgeblieben. Ihre Mutter ist aus dieser Enge ausgebrochen und weggezogen. Damit gilt sie für die Gemeinschaft als tot. Das Kind liebt die Eicherkichle, die ihre Großmutter Bubby backt, wundert sich nicht darüber, dass Männer auf den Boden schauen, wenn sie oder andere Mädchen auf der Straße gehen, und nimmt es als selbstverständlich hin, dass sie als Mädchen in einer privaten Schule der Gemeinschaft von anderen Frauen v.a. darin unterrichtet werden, wie sie einmal gute Ehefrauen werden. Heimlich nutzt sie die seltene Gelegenheiten, um in einer Bücherei außerhalb des Stadtviertels sich englische Bücher auszuleihen, die sie dann unter ihrem Bett versteckt, damit sie der Großvater nicht findet. Langsam wächst in ihr die Sehnsucht nach Literatur und Bildung. Dennoch geht sie mit 17 Jahren eine arrangierte Ehe mit einem älteren Satmarer Chassiden ein, den sie kaum kennt. Ohne das Wissen ihres Ehemannes schreibt sie sich an einem College ein, um englische Literatur zu studieren, trägt heimlich Jeans und lässt ihre Haare wachsen. Sie spürt, dass sie entwurzelt ist und entschließt sich, sobald ihr Sohn drei Jahre alt ist, wegzuziehen. Sie bricht tatsächlich aus dieser Welt aus, beginnt einen Blog, in dem sie über die Probleme und die Unterordnung von Frauen in den ultraorthodoxen Gemeinschaften schreibt. Nach einem Autounfall verlässt sie endgültig die Gemeinschaft, zieht mit ihrem Sohn zuerst nach New York, dann nach Berlin. Die Versuche, ihr gerichtlich den Sohn zu nehmen, scheitern und sie gilt endgültig als Verräterin. Damit ist sie für die Gemeinschaft und ihre Familie wie tot.
2012 schreibt sie ihren autobiographischen Roman „Unorthodox“, der zu einem Welterfolg wird. Sie erzählt von ihrer Kindheit, ihrer Familie und den Schwierigkeiten als Jugendliche, die sich in ihrer Entwicklung allein gelassen fühlt. Sie schreibt über die Zurücksetzungen und die Ausgrenzung von Frauen, die nicht die Erwartungen erfüllen. Sie schreibt kritisch, aber nicht polemisch. Bei allem Schmerz spürt man, wie gut sie sich auch noch an die schönen Momente im Kreis der Familie erinnert, für die sich jetzt wie tot ist. Sie hätte allen Grund, die Enge und die Abwendung der Familie zu verteufeln, aber sie hat sich damit versöhnt. Sie wurde unterdrückt, in eine Ehe gezwungen, erniedrigt und schließlich ausgegrenzt. Dennoch kann sie sich genau an glückliche Augenblicke, gute Worte und witzige Ereignisse erinnern. Ihr Buch ist keine Abrechnung, es ist ein faszinierender Blick in eine fremde Welt und lässt erahnen, welchen Mut die junge Frau gebraucht hat, diesen Schritt in ein neues Leben zu wagen.
„Vergeben, aber nicht vergessen“ - diese Leitidee vieler Juden, die z.B. die Shoa erlebt haben, findet sich hier im Leben eines jungen Menschen wieder, den man viele Wunden zugefügt hat. Sie kann vergeben, aber sie vergisst nicht, was geschehen ist, weder das Gute noch das Böse.

Kann die Frau im Evangelium das auch? Kann sie denen vergeben, die sie da vorführen und missbrauchen wollen für ihre böse Absicht, Jesus eine Falle zu stellen. Wie perfide und unmenschlich ist das Vorgehen der religiösen Führer: Eine Frau - der beteiligte Mann fehlt ja - wird in die Öffentlichkeit gezerrt und der öffentlichen Demütigung preisgegeben. Die Alten wissen genau, dass ihre Anklage ohne Grundlage ist. Es gibt keine Zeugen, die nötig sind für eine Verurteilung. V.a. aber wissen sie, dass eine Verurteilung zum Tod überhaupt nicht in ihrer Befugnis liegt, sondern allein den Römern vorbehalten war. Die nahmen es aber bekanntlich mit ehelicher Treue nicht besonders genau. Wir konzentrieren uns sehr auf das Verhalten Jesu, aber damit machen wir die Frau ja auch wieder zur Nebenrolle. Die Ankläger zerren sie in die Mitte und missbrauchen sie als Mittel zum Zweck. Wir dürfen nicht den Fehlern begehen und sie nur als Mittel zur Bewunderung Jesu verzwecken. Denn jenseits der Auseinandersetzung mit den Pharisäern gibt es noch eine zweite Beziehungsebene, nämlich die zwischen Jesus und der Frau. Sie reduziert sich auf wenige Worte, ist nicht von der rhetorischen und symbolischen Brillanz wie der Streit mit den Männern, aber in den wenigen Sätzen macht Jesus deutlich, wie er die Frau sieht. Er äußert sich nicht zum Vorwurf, weil er weiß, dass man ohne Zeugen weder verurteilen noch freisprechen kann. Er ist auch nicht nur einfach milde und barmherzig, er begegnet ihr mit Achtung. Er vergibt ohne die Reue der vermeintlichen Übeltäterin zuerst einzufordern. „Geh und sündige nicht mehr“, das ist ein Auftrag, keine Voraussetzung für die Vergebung. Jesus traut ihr zu, dass sie es umsetzen kann. Er zwingt sie nicht erst dazu, vor ihm einzuknicken und zu bekennen. Er vergibt, weil er Vertrauen in die Frau hat und sie nicht denkt, dass sie einfach nur Glück gehabt hat, sondern dass diese Begegnung ihr Leben verändert. Wenn die Frau wirklich schuldig war, dann ist die Haltung Jesu noch beeindruckender, denn er lässt der Sünderin ihre Würde als Person. Wenn sie wirklich die Ehe gebrochen hat, dann bleibt sie dennoch ein Mensch, ein Abbild Gottes, eine Frau, die Freuden und Hoffnungen, Sorgen und Ängste hat. Die Sünde raubt ihr nicht ihre Ehre. Ich kann mir gut vorstellen, dass für die Frau dieses Zutrauen und diese Erfahrung von Ansehen mehr Befreiung bedeutete als der Moment, in dem die Ältesten kleinlaut abgezogen sind. Wie wird sie damit umgehen? Sicher vergisst sie diesen Augenblick niemals, die Todesangst, die Scham, die Panik und die Verwunderung über das zunächst eigenartige Verhalten Jesu. Das hackt man nicht ab. Eine solche Erfahrung sitzt tief und hinterlässt Narben. Was wird sie tun? Geht sie zu ihren Freundinnen und brüstet sich damit, wie Jesus die „Frommen“ ins Leere laufen lief? Spottet sie über die Alten und ihre Ansichten? Oder kann sie vergeben? Vergessen wird sie nicht, aber vielleicht kann sie verstehen, was diese Menschen zu so einer Untat getrieben hat, die Sorge um die alten Bräuche und Traditionen ihrer Religion. Vergebung macht nicht ungeschehen und tilgt das Unrecht nicht, aber es befreit aus der Enge der Rache. Vielleicht kann sie sich auch einmal daran erinnern, wie schön es als Kind war, in dieser geprägten und geordneten Welt aufzuwachsen, wie viel Gutes sie auch erlebt hat und wie sehr der Glaube ihres Volkes sie auch ermutigt hat, ihre Hoffnung auf Gott zu setzen. Dieses Erinnern relativiert die Schuld der Heuchler nicht, aber sie versöhnt mit sich selbst. Vergessen wird sie nicht, vergeben kann sie, weil auch ihr vorbehaltlos vergeben wurde.
Religion kann missbraucht werden, um Menschen Unrecht zu tun, aber das ist nicht der Sinn von Traditionen und Geboten. Sie sollen den Menschen nicht knechten, sondern helfen in Freiheit und Verantwortung sein Leben zu gestalten.

Im gleichen Jahr wie Deborah Feldman wird in der Ukraine ein jüdisches Mädchen geboren, das lange Jahre keinen Bezug zu Religion haben wird. Marina Weisbrand, heute Politikerin in der Partei der Grünen, kommt mit ihrer Familie als Kind nach Deutschland. Ihre Familie pflegt die Überlieferungen ihrer Religion nicht. Mit 17 Jahren wendet sich die junge Frau der Religion ihrer Eltern und Großeltern zu und findet den Weg in die jüdische Gemeinde. Heute bemüht sie sich um ein versöhntes Zusammenleben von Juden, Christen und Muslimen in Deutschland. Von Jugendlichen wurde die 35jährige gefragt, wie sie als junge, moderne Frau nach so alten Regeln wie denen des Judentum leben könne. Sie antwortete: „In einem durchgeregelten Leben kann es eine große Freiheit geben - wie wenn man auf einem See Schlittschuh läuft. Die Stellen, an denen das Eis dick genug ist, um einen zu tragen, sind durch ein Geländer abgeriegelt. Das wirkt zunächst wie eine Einschränkung meiner Bewegungsfreiheit. Aber innerhalb dieses Geländers kann ich ganz frei Schlittschuh laufen, ohne jedes Mal zu testen, ob das Eis mich hält. Das erhöht meine Freiheit.“

Religion ist dann eine Hilfe für das Leben, wenn sie einen Rahmen absteckt, innerhalb dessen ich ohne ständiges Fragen, ob ich richtig oder falsch handle, leben kann. Dann wird sie nicht zum Gefängnis, sondern zum Raum der Liebe und der Freiheit. Religion soll weitergeben, was Jesus der Frau vermittelt hat. Gott hat Vertrauen in dich. Er traut dir zu, dass du den richtigen Weg findest. Vor allem sagt sie uns zu: Auch wenn du schuldig geworden bist, verlierst du nicht deine Würde als Kind Gottes. Für ihn ist niemand gestorben und vergessen. Das schafft wahren Freiraum zu Leben. Amen.

 

Sven Johannsen, Lohr

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