headeroben

„Können Christen Waffenlieferungen zustimmen?“

6_Gerechter_Krieg_2023.pdf

Liebe Schwestern und Brüder

wir gehen auf einen traurigen Jahrestag zu: Am 24. Februar 2022 begann die russische Armee einen breit angelegten Angriff auf das Territorium der Ukraine.

Der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj rief daraufhin den Kriegszustand aus und ordnete eine allgemeine Mobilmachung an. Seit diesem Tag tobt in Europa ein Krieg, dessen Ausmaße nach dem zweiten Weltkrieg nicht mehr vorstellbar erschienen. Kein Tag vergeht jetzt ohne Lagebericht, neue Nachrichten von Übergriffen, Terror, Folter und Grausamkeiten, und der Forderung nach Waffenlieferung. Ein Ende ist nicht absehbar. Noch vor einem Jahr beschränkte die deutsche Regierung ihre Solidarität auf finanzielle Unterstützung der Ukraine, Sanktionen gegen Russland und die Lieferung von 5000 Helmen an die ukrainische Armee. Mittlerweile, so der Bericht der Bundesregierung, leistet Deutschland massive militärische Unterstützung. So wurden bzw. werden in Kürze an die Ukraine  40 Schützenpanzer vom Typ Marder, 32 Flakpanzer GEPARD, Flugabwehrsysteme und Flugabwehrraketen, Minenräumgeräte, Raketenwerfer und Panzerhaubitzen u.v.m. geliefert.

Auf der Liste stehen noch militärische Schwergewichte: 14 Kampfpanzer Leopard 2 A6. In der vergangenen Woche hat Verteidigungsminister Boris Pistorius der Ukraine noch die Bereitstellung von mehr als 100 Leopard I-Panzern angekündigt.  Die Wunschliste des ukrainischen Präsidenten treibt dem Bundes-kanzler noch weitere Sorgenfalten auf die Stirn: Langstreckenraketen und Kampfflugzeuge, die die Ukraine stark machen sollen für die offensichtlich schon laufende Frühjahrsoffensive. Wir gehen ganz sicher noch in ein weiteres Jahr Krieg verbunden mit der Angst, dass das Hochrüsten sich immer weiter steigt und irgendwann so eskaliert, dass die Bedrohung für ganz Europa ansteigt.

Beschleicht Sie bei diesen Nachrichten auch ein zwiespältiges Gefühl? Da ist einerseits das Entsetzen über diese sinnlose Aggression und andererseits die Hochachtung vor dem Freiheitswillen des ukrainischen Volkes. Die volle Solidarität mit der Ukraine verlangt konsequenterweise die Zurverfügungstellung von Waffen zur Verteidigung,. Gleichzeitig lässt sich aber auch die Sorge, dass damit der Konflikt weiter eskaliert und zum Flächenbrand über ganz Europa wird, nicht leugnen. Als Christen muss uns in besonderer Weise die Frage beschäftigen, ob das wirklich der richtige Weg ist? Eine der anstößigsten Forderungen der Bergpredigt begegnet uns im heutigen Evangelium, in dem Jesus zur unbedingten Gewalt-losigkeit  mahnt. Es wird noch radikaler, wenn er nächste Woche die Liebe zu den Feinden fordert: „Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen.“

Im Angesicht der augenblicklichen Situation ergeben sich für den Anspruch Jesu objektiv nur zwei Schlüsse: Entweder sind die Worte Jesu reine Utopie, die in der Realität keinerlei Bedeutung haben, oder aber wir handeln völlig falsch und stellen uns gegen Gottes Willen?

In einem Interview mit der ZEIT hat die ehemalige Ratsvorsitzende der EKD und Landesbischöfin von Hannover, Margot Käßmann, den Aufruf zur Gewaltverzicht auch im Angesicht der aktuellen Bedrohung verteidigt. Sie kann zwar gut verstehen, dass viele Ethiker und Theologen Waffenlieferungen verteidigen, aber sie verweist auf die besondere Geschichte Deutschland und fordert, dass wir „alle Kraft für diplomatische Anstrengungen einsetzen, die nötig sind, um einen Waffenstillstand zu erreichen.“ Wir müssen weiter mit Russland leben und Verhandlungen am Ende eines Krieges haben immer auch mit den Kriegsverbrechern stattgefunden. Sie kritisiert zu Recht, dass Europa im Vorfeld Fehler begangen hat, indem man nicht genügend in internationale Friedensarbeit und den Aufbau von starken Zivilgesellschaften investiert hat. Für ihre Sicht beruft sie sich auch auf Helmut Schmidt, der gesagt hat: „Lieber einhundert Stunden umsonst verhandeln, als eine Minute schießen." Ich teile die Sorge von Frau Käßmann, dass immer mehr der Eindruck dominiert, dass ein Ende des Krieges nur militärisch und mit überlegenen Waffen erreicht werden kann. Aber das ist nicht unsere Sicht. Krieg, so auch immer wieder die Botschaft von Papst Franziskus, ist in jedem Fall eine Niederlage und eine Katastrophe. Der Krieg schafft niemals Frieden, allerhöchstens eröffnet er einen Raum des Schweigens der Waffen, in denen wieder Verhandlungen über den Frieden möglich sind.

Dennoch bekenne ich, dass ich für die Lieferung von Waffen bin. Das hat v.a. seinen Grund in den Erfahrungen aus Situationen, in denen die internationale Politik auf den Verzicht von Gewalt gesetzt hat. Als 1994 die Konflikte in Ruanda außer Kontrolle gerieten, hatten die dort stationierten UNO-Blauhelme keinen Auftrag zum Einschreiten. Der Völkermord kostete fast 1 Millionen Menschen das Leben. Ähnliches haben wir im Juli 1995 in Srebrenica erleben müssen, als serbische Armee, Polizei und Paramilitärs mehr als 8000 Bosniaken ermordeten und die niederländischen UNO-Blauhelm-Soldaten nicht entschieden einschritten, um diesen Terror zu verhindern. Andererseits haben 2014 die kurdischen Peschmerga, denen von vielen Staaten Waffen geliefert wurden, durch ihren Kampf gegen die IS-Milizen zehntausenden Menschen das Leben gerettet. Ich will Gewalt nicht rechtfertigen, aber ohne Zweifel können Waffen Leben retten und Gewaltlosigkeit kann Leben kosten.

Mir ist bewusst, dass diese Sicht in einer eklatanten Spannung zum Wortlaut des heutigen und des kommenden Sonntagevangelium steht, die als Weisung für ein gelingendes Leben gesehen werden wollen. Für mein Leben und mein Verhalten habe ich mich an dieses  authentische Jesuswort zu halten. Es geht zwar an die Schmerzgrenze, sich mit dem zu versöhnen, der mir objektiv oder wenigstens nach meinem Empfinden Unrecht getan hat, aber die Weisung Jesu ist letztlich ein guter Schlüssel, um eine Eskalation zu verhindern. Wenn er heute nicht nur die Tat der Gewalt verurteilt, sondern schon Reden und Denken im Vorfeld, dann zeigt er richtig auf, dass jeder Akt der Gewalt eine Vorgeschichte hat, die in Vorurteilen, kleinen Aggressionen, Haltungen und Reden wurzelt. Ethik beginnt für Jesus in der Befreiung von Selbstgerechtigkeit und Rechthaberei. Christsein wird am Tun gemessen und nicht an vollmundigen Worten. Für mich als Christ sind diese Worte in meinem persönlichen Verhalten unbedingt gültig. Es ist aber etwas anderes, wenn ich diese Haltung anderen vorschreiben will. Das wirkt zynisch, gerade wenn es um einen Krieg geht, der viele unschuldigen Opfer hervorgebracht hat. Der evangelische Landesbischof von Bayern, Heinrich Bedford-Strohm, sagt richtig: „Das Bewusstsein ist groß, dass ein bloße Berufung auf die Gewaltlosigkeit Jesu jedenfalls dann nicht ausreicht, wenn sie aus einer eigenen sicheren Position heraus anderen gravierende Opfer, vielleicht das Opfer des eigenen Lebens, abverlangen würde.“ (Herder Korrespondenz 5/2022). Was mich bindet, kann ich vom Schreibtisch aus nicht zur absoluten Pflicht für Menschen erklären, die jetzt Opfer von Gewalt und Terror werden, Kinder, Eltern oder Ehepartner verlieren und in ständiger Angst vor neuen militärischen Schlägen leben müssen. Krieg schadet und ist immer eine Niederlage der Menschheit, aber es kann eintreten, was Bedford-Strohm festhält: „Und militärische Gewalt ist nie „gerecht“, sondern schrecklich. Aber es kann eben auch Situationen geben, wo der Verzicht auf sie noch schrecklicher ist.“ Seit der Zeit des heiligen Augustinus kennt die Kirche die Lehre vom gerechten Krieg, der diesen Ausnahmefall rechtfertigt. Es ist wahr, dass diese Lehre missbraucht wurde, wie z.B. im Vorfeld der amerikanischen Invasion im Irak 2003. Heute wissen wir, dass die Begründung für diesen Waffengang auf  erfundenen Argumenten und Beweisen beruhte. Man kann die Ausnahmesituation fingieren für unlautere Zwecke, aber noch schlimmer ist es, nichts zu tun und ganze Völker einem ungewissen Schicksal zu überlassen.

Wenn es moralisch legitim ist, sich selbst zu verteidigen, dann ist es auch legitim, dem Angegriffenen Waffen zur Unterstützung zu liefern. Es stehen sich hier nicht zwei gleich starke Kriegsparteien gegenüber, die beide den Krieg wollten. Wir haben ein deutliches Gefälle zwischen dem Angreifen und dem Verteidiger.

Zugleich gilt aber besonders für uns Christen, dass die militärische Unterstützung nichts von der Verpflichtung nimmt, alles zu tun, was dem Schweigen der Waffen dient und Wege zum Frieden ermöglicht. Das sind v.a. Verhandlungen, auch wenn sie uns mit einem Menschen wie Putin, der über viele Jahre die Welt getäuscht hat, wenig sinnvoll erscheinen. Der Westen wird mit ihm reden müssen, dazu sehe ich keine Alternative.

Die augenblickliche Unterstützung der Ukraine kann auch nicht das Versagen unserer Politiker im Vorfeld überdecken. Bedford-Strohm nennt es einen moralischen Skandal, dass westliche Regierungen in der Hoffnung auf gute Geschäfte mit Russland die Unterstützung von Initiativen, die für eine Stärkung der Zivilgesellschaft arbeiteten, eher halbherzig unterstützt und lieber Herrn Putin ihre Aufwartung gemacht haben. Das war falsch und es gilt, daraus für die Zukunft zu lernen.

Als Christ und Geistlicher kann ich also tatsächlich Waffenlieferungen zustimmen, aber ich halte es nicht für meine erste Aufgabe, dafür zu werben. Ich hege sehr viel Sympathie für die Haltung unseres Heiligen Vaters. Er wird seit Ausbruch des Krieges aufgefordert, eindeutig Stellung gegen Russland zu beziehen und letztlich das Vorgehen des Westens zu legitimieren. Diesem Drängen durch Medien und Politik widersteht er standhaft und erntet dafür viel Kritik. Seine Haltung wäre unentschlossen und ausweichend. Das stimmt nicht. Der Papst verweigert sich gegenüber der Parteinahme für eine Seite. Er hat auch der Nato vorgehalten, dass sie durch ihre Taktik seit dem Ende des Kalten Krieges eine Mitverantwortung für die Spannungen trägt. V.a. aber stellt er sich klar und uneingeschränkt auf die Seite der unschuldigen Oper, die es sowohl in der Ukraine, in den umkämpften Gebieten und in Russland gibt. Die Leidenden sind auch die Familien russischer Soldaten. Der Papst hat sich zum Anwalt des Friedens gemacht und spricht für die Opfer auf beiden Seiten des Krieges. In seiner Generalaudienz am 24.8.2022 hat er sehr harte und undiplomatische Worte gefunden: „Die Unschuldigen bezahlen den Krieg, die Unschuldigen! Denken wir an diese Wirklichkeit und sagen wir zueinander: Der Krieg ist Wahnsinn! Und jene, die die am Krieg und am Waffenhandel verdienten, sind Verbrecher, die die Menschheit töten“ Er widersteht der Versuchung, wie der Moskauer Patriarch auf der einen Seite zum geistlichen Propagandisten für den Krieg auf der anderen Seite zu werden. Vielmehr folgt er dem Beispiel seines Namenspatron und verweist auf die Legende von Franziskus und dem Wolf von Gubbio. Lange Zeit trieb sich ein wilder Wolf im Wald vor den Toren der Stadt Gubbio herum und bedrohte Menschen und Tiere. Franz vermittelte zwischen Wolf und Menschen. Obwohl, so der Papst, der Wolf „als übelster Dieb und Räuber den Galgen verdient hätte“, schafft Franziskus einen Ausgleich zwischen ihm und den Bürgern. Sie sorgen für seine Nahrung, während er künftig niemanden Schaden zufügen soll. Es ist mehr als eine idyllische Heiligenlegende. Für den Papst ist es eine Platzanweisung der Kirche in Konflikten. In einer Situation, in der sich auf beiden Seiten ausreichend Verteidiger der jeweiligen Haltung zu Wort melden, ist für den Papst der Platz der Kirche zwischen den Stühlen. Da sitzt man nicht besonders bequem, aber man verhindert auch, dass die Gräben so groß werden, dass kein Ausgleich mehr möglich ist. Vermittlung stellt nicht die Schuldfrage in den Vordergrund, sondern den drängenden Wunsch nach Sicherheit und Frieden. Auch wenn wir solidarisch mit den Menschen in der Ukraine sind, dürfen wir nicht vergessen, dass die Zukunft nur mit und nicht gegen die Menschen in Russland geschehen kann. Die Aufgabe der Kirche sehe ich nicht in der Rechtfertigung einer Partei, sondern im Bemühen, den sehr dünnen Gesprächsfaden nicht abreißen zu lassen, und im Dienst an den Unschuldigen auch schwierige Wege der Verhandlungen zu gehen, die die Waffen schweigen lassen und einen Raum für Frieden und– fast unvorstellbar – für Versöhnung öffnen. Amen. (Sven Johannsen, Pfarrer)

­