Gründonnerstag 2022
„Mit gepackten Koffern am Tisch des Herrn“
Liebe Schwestern und Brüder
„Das Tischtuch ist zerrissen!“ Wenn zwischen zwei Menschen dieses Wort fällt, dann ist alles gesagt. Jetzt machen Gespräche keinen Sinn mehr, denn man wird sich nicht einigen. Jeder geht jetzt getrennte Wege. Mitunter braucht es aber keine zerstörten Textilien als Bild für unüberbrückbare Meinungsverschiedenheit und kalte Sprachlosigkeit, es reicht der Tisch selbst. Zu den bedrohlichsten und zugleich skurrilsten Bilder, die die nahende Katastrophe in der Ukraine ahnen ließen, gehört der sechs Meter lange Tisch im Kreml, an dem Putin Emmanuel Macron und Olaf Scholz zu Gesprächen empfing. Mehr Distanz ging nicht. Da saßen nicht Gesprächspartner auf Augenhöhe. Das monströse Möbelstück war keine Brücke zueinander, sondern eine klare Grenzziehung und eine deutliche Botschaft an die Politiker aus aller Welt: „Wir haben nichts mehr miteinander zu besprechen.“ Offiziell wollte man so die Ansteckungsgefahr durch Corona mindern, wirklich aber war es eine Demütigung von Politikern, die auf die Stufe von Bittstellern vor einem allmächtigen Herrscher erniedrigt wurden.
Hier sitzen nicht Menschen an einem Tisch, um Konflikte zu lösen, Meinungsverschiedenheiten aus der Welt zu schaffen und alles zu tun, um Menschen vor Gewalt und Leid zu beschützen, hier thront der Kriegsherr, der von den Gesandten des Westens die Kapitulationserklärung hören möchte. Der Tisch als Ort des gemeinsamen Essens und Austauschen wurde in den Inszenierungen des Kremls pervertiert als Huldigung für einen skrupellosen Potentaten, der sich grausam und zynisch in Pose setzt.
Der Tisch ist auch in unseren Familien mehr als ein Gebrauchsmöbel. Natürlich wird am Tisch miteinander gegessen, aber er verlangt uns auch eine Einstellung ab. Als Kind habe ich oft den Satz gehört: „Am Tisch wird nicht gelesen.“ Heutige Kinder hören wahrscheinlich öfters: „Am Tisch wird nicht ferngesehen oder mit dem Tablet gespielt.“ Auch steht man in der Regel vom Tisch nicht einfach auf, wenn man fertig ist. Am Tisch bleibt man sitzen. Wer früher gehen will oder muss, der entschuldigt sich bzw. wartet auf das Einverständnis der anderen. Wir sprechen von Tischgenossen, also von einer Gruppe, die miteinander genießt, nicht nur Essen, sondern auch Gespräche, Zeit und Gemeinschaft. Ich erinnere mich gerne an meine Zeit in Verona. Ich lebte bei einem Pfarrer, in dessen Haus noch mehrere Kapläne wohnten. Nach den Messen am Sonntag wurde zunächst auf „Telepace“ der Angelus mit dem Papst gebetet und dann wurde gegessen. Man nahm nicht einfach alle zubereiteten Speisen zu sich. Meist gab es erst die Pasta. Währenddessen wurde „il secondo piatto“ zubereitet und gefragt, wer welche Beilagen dazu will. Zum Höhepunkt kam es mit dem Cafe, dem Espresso in deutscher Sprache. Jetzt machte sich ein Kaplan auf den Weg zur nächsten Eisdiele und kaufte ein. Stunden vergingen an so einem Sonntag bis endlich Zeit für „un riposo“ war. Stummer und unaufdringlicher Mittelpunkt war der Tisch. Was gegessen wurde, war gar nicht so wichtig. Es wurde erzählt von witzigen Situationen in der Messe, von dem, was in der Woche los war, über den Bischof Witz gemacht und die ganze Welt besprochen. Der Tisch hat kein Wort gesagt und doch war er der zentrale Ort. Er ermöglichte Gemeinschaft, Freundschaft, Freude.
Wahrscheinlich können viele von Ihnen von ähnlichen Erfahrungen berichten: Der Küchentisch ist in vielen Häusern noch immer der Platz, wo Freude und Sorgen, Hoffnungen und Ängste weit mehr ins Wort kommen als in den Beichtstühlen der Kirchen.
Natürlich kommt es auf die Menschen an, aber der Tisch ist die Einladung und der Garant für das Gemeinschaftserlebnis.
Von daher dürfte es nicht wundern, dass der zentrale Ort unserer Kirche ein Tisch ist: der Altar.
Von der jüdischen Synagoge, aus der wir kommen, haben wir viele Elemente mitgenommen: Unser Tabernakel erinnert an den Thoraschrank. Unser ewiges Licht hängt in gleicher Weise im jüdischen Gotteshaus. Unser Ambo, der Thron des Wortes, hat seinen Ursprung in der Bema, dem großen Lesepult, auf dem die Thorarollen beim jüdischen Gottesdienst ausgebreitet werden. Neu aber ist der Altar. Den gibt es nicht in der Synagoge. Natürlich gibt es in vielen Religionen Altäre. Dennoch ist der christliche Altar einzigartig. Auf römischen, griechischen, persischen, ägyptischen Altären brachte man Opfer da, die oft blutigen Charakter hatten. Im Tempel von Jerusalem stand vor dem leeren Allerheiligsten ein Altar zum Verbrennen von Opfergaben. Auf unseren Altären wird weder Weihrauch noch ein Lebewesen geopfert. Lange hießen unsere Altäre auch nur einfach „mensa“ „Tisch“, um nicht mit Brandopferaltären verwechselt zu werden. Sie sind nicht Geschäftstheken, auf denen Gaben und Gefälligkeiten ausgetauscht werden, sondern Ort der Sammlung und der Gegenwart Jesu. Wenn der Priester mit den Ministranten in die Kirche einzieht, dann ist eine der ersten Gesten die Verehrung des Altars. Der Priester küsst ihn, weil er Symbol für Christus ist. Immer wieder betonen die Schriften des neuen Testaments, dass Christus „der Fels“, der „Eckstein“, der „lebendige Stein“ ist. Darum soll ein Altar nicht aus Holz, sondern aus Stein oder einem Material mit vergleichbaren Eigenschaften sein: unverrückbar, unzerstörbar und zentral. Der Tisch des Herrn ist das Zentrum der Aufmerksamkeit. Ich kann mich nicht mit Christus verbunden fühlen und zugleich andere ablehnen, die mir nicht passen, und ihn den Zutritt zu seinem Mahl verwehren. Im Magnificat stellt die Gottesmutter eindeutig klar, wer an diesem Tisch des Herrn, am Altar seinen Platz hat, wenn sie Gott mit den Worten lobt:
„Er übt Gewalt mit seinem Arm und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn. Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen.“
Bleiben da noch Fragen offen im Blick auf die Erartungen Gottes an uns, wenn er an seinen Tisch einlädt? Da geht es nicht um moralische Perfektion oder besondere Frömmigkeit. Grundvoraussetzung ist es, an ihn zu glauben als den Herrn des Mahles und keinen ausschließen zu wollen, weil er nicht in die eigene Vorstellung oder den Wahn der eigenen Selbstgerechtigkeit passt. Unter diesem Diktat steht die Kirche ohne Ausnahme bei jeder Feier der Heiligen Messe. Tischherr bleibt allein Gott, nicht der Papst, Bischof oder Priester, denen nur die Aufgabe der Repräsentation des Einladenden zukommt. Die Eucharistie ist der Kirche anvertraut, aber sie hat nicht zu entscheiden, wer Platz nehmen darf, das liegt allein in Gottes Hand. Und der Mensch, der seinen Ruf hört, der innerlich dazu bereit ist, sich in die Mahlgemeinschaft des Herrn aufnehmen zu lassen, der weiß, dass er nie ein Anrecht auf diese Einladung noch das Privileg des vorderen Platzes hat, der ist, ob wir von außen aufgrund seiner Orientierung, seiner Lebensbrüche oder Lebensentscheidungen zunächst Bedenken haben, grundsätzlich eingeladen und willkommen. Es kann sein, dass die Kirche manchen Gästen mitunter nahe legen muss, zu prüfen, ob sie wirklich gut bereitet sind, aber verwehren darf sie es nicht. Damit erübrigen sich manche Debatten um so grausam bürokratische Formulierungen wie „wiederverheiratet Geschiedene“ oder „geschiedene Wiederverheiratet“. Für mich klingt das oft wie ein Stigma, das Menschen in eine zweite Klasse der Würdigkeit einteilen will. Hier am Tisch gibt es nur fehlerhafte und endliche Menschen, deren Lebenswege mit Steinen gepflastert sind, die sie sich meist durch eigene Schuld in den Weg legen, beim einen offensichtlicher, beim anderen verborgen. Aber jeder der meint, dass er der beste Gast sei, den Gott sich vorstellen kann, der findet sich möglicherweise unerwartet am Tischende wieder. Das ist die innere Perspektive der Eucharistie: Jesus sagt am Altar „Mein Leib für euch und viele“ aber nicht „Mein Leib für euch und für viele, die die nächsten zehn folgenden Voraussetzungen im Kleingedruckten erfüllen“.
Zugleich erinnert der Altar aber auch an den Tisch, an dem das Volk Israel aß in der Nacht vor dem Auszug aus Ägypten. Heute noch gehören zur Feier des Pessach die vier Fragen des jüngsten Kindes, das beim Sedermahl mit am Tisch sitzt. Die letzte der vier Fragen, deren Antworten den Sinn der Feier für alle Teilnehmenden in Erinnerung rufen, lautet: „In allen andern Nächten essen wir sitzend oder angelehnt - in dieser Nacht alle angelehnt?“ Der Hintergrund ist leicht verständlich. Am sog. Sederabend, dem Auftakt von Pessach, in dessen Mittelpunkt ein gemeinsames Essen der Familie steht, dessen Ablauf nach einer langen Tradition in der sog. Pessach-Haggada geregelt ist, trinken Juden vier Becher Wein. Dabei lehnen sie sich mit der linken Seite an eine Sessellehne. Dieses Ritual ist ein Zeichen der Freiheit. Es erinnert daran, dass Gott die Israeliten aus Ägypten herausgeführt und sie "mit starker Hand und ausgestrecktem Arm" zu freien Menschen gemacht hat. Dieser Brauch stammt schon aus der Antike. Damals lagen freie Menschen bei den Mahlzeiten auf gepolsterten Liegen. Sie aßen und tranken also in einer sehr bequemen und entspannten Haltung. Sklaven mussten dagegen stets abrufbereit sein. Sie durften nur sitzen. „Mach es dir bequem am Tisch des Herrn, denn hier bis tdu frei“, so können wir die Verbindung deuten. In der Nacht bevor sie aufbrachen, was alles ganz anders. Es blieb keine Zeit, Brot mit Sauerteig zu backen, stattdessen kamen Mazzot auf den Tisch. Das Essen des Lammes geschah hastig, denn es war Zeit für den Aufbruch. Es gab wohl keinen wirklichen Tisch, ein solches kostbares Mobiliar nannten nur die wenigsten Sklaven ihr Eigentum, und wenn man daran saß, dann so, dass man sofort die Koffer nehmen und gehen konnte. Sie erinnern an Menschen mit gepackten Koffern am Tisch, wie heute Menschen in Bahnhofrestaurant oder am Flughafen, die in einem Cafe auf die Abfahrt oder den Abflug warten und hoffen, dass alles rechtzeitig gebracht wird. Jetzt aber, am Pessach 3000 Jahre nach dem Auszug der Mütter und Väter, ist kein Zeitdruck, keine Eile, kein Platzanweiser, der sagt, dass du nicht würdig genug bist, am Tisch zu liegen. Jetzt ist Zeit, Entspannung und das unbestreitbare Recht, es sich beim Essen bequem zu machen. Ich muss nicht mehr aufspringen, wenn jemand ruft oder Gefahr droht. Die gepackten Koffer sind leer, Israel ist zuhause. Für viele Menschen heute ist das noch Wunschvorstellung. Ihre Koffer stehen noch bereit für den Aufbruch. Hastig geschieht alles. Es bleibt weder Zeit noch Raum, um alles mitzunehmen, was ich gerne hätte. Der Koffer ist Zeichen für den Zwang, vieles zurückzulassen, das mir Heimat gibt: Menschen, Erlebnisse, Orte, Spielsachen, Erbstücke….
Menschen, die ohne Perspektive für die Zukunft einen Aufbruch wagen müssen, weil sie vertrieben wurden oder flüchten müssen, weil sie in ihrer Heimat kein Fundament für ihr Leben mehr finden, weil sie als junge Menschen wissen, dass sie mit ihren Berufswünschen in größere Städte der Welt gehen müssen, weil sie als ältere Menschen aufgrund von Gebrechlichkeit das Haus, in dem sie ein Leben verbracht haben, verlassen und in ein Heim umziehen müssen, weil sie als Kranke in Kliniken und Rehaeinrichtungen gehen müssen, manchmal ohne zu wissen, wie lang sie weg sein müssen oder ob sie je wiederkommen dürfen. Die Liste ließe sich unendlich fortführen. Noch immer sind Menschen nicht angekommen, wo sie sichere Heimat und Schutz bis zum letzten Tag ihres Lebens finden. Am Tisch des Herrn finden beide Platz, die, die schon da sind, und die, die noch auf dem Weg sind. Letztlich treffen sich am Tisch des Herrn wir sterblichen Menschen, die wissen, dass wir hier keine letzte Heimat haben können, und die vielen, die uns vorausgegangen und schon in den Wohnungen im Haus des Vaters eingezogen sind.
Papst Benedikt XVI hat den Altar einmal als die „Tür zum Himmel“ beschrieben. Hier kommen die Menschen, die ihre Last und Freude tragen, und ahnen, dass es einmal einen Platz geben wird, wo wir unsere Koffer abstellen können und da sind für alle Zeiten.
Der Altar lässt uns den Vorgeschmack des letzten und ewigen Festes kosten, zu dem wir eingeladen sind. Diese Einladung und die Zusage, dabei sein zu dürfen, ist so unverrückbar und fest wie unser Altar in der Kirche, denn Christus selbst bürgt dafür mit seiner liebenden Hingabe, die wir von heute an bis Ostern noch intensiver feiern als zu jeder anderen Zeit. Wir sitzen letztlich auf gepackten Koffern, aber unser Leben ist kein Bahnhofsimbiss, sondern ausgekostete Hoffnung auf den Genuss der ewigen Heimat. Amen
Sven Johannsen, Lohr