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Können wir heute Abend noch in den Spiegel schauen?“

 Liebe Schwestern und Brüder,

was sehen Sie, wenn sie morgens in den Spiegel blicken? Wieder ein graues Haar mehr, ein Fältchen, dass sie um die Augen gebildet hat oder Zeichen von Müdigkeit, Älterwerden und ungeschminkte Wahrheit? Für manche Menschen ist der Blick in den Spiegel ohne vorherige kosmetische Retusche zwar kaum auszuhalten, aber in der Regel werden die meisten von uns diesem Blick standhalten und Spuren des Voranschreitens der eigenen Lebenszeit ohne großes Erschrecken zur Kenntnis nehmen.

Was erkennen die beiden Menschen, die auf dem Bild von Nina Pearson vor dem Spiegel stehen? Sicher nehmen sie wahr, dass sie älter werden. Aber man könnte ihrem Blick entnehmen, dass sie auch zufrieden zur Kenntnis nehmen, dass sie sich noch im Spiegel anschauen können, weil sie einander vertrauen, zueinander gehören und sich aufeinander verlassen können. Der Blick in den Spiegel ist auch ein Blick in die Seele. Manche Menschen fürchten sich trotz äußere Attraktivität davor, morgens in den Spiegel zu schauen, weil sie sich selbst nicht mehr erkennen: verbittert, kalt, leistungsfixiert, unbarmherzig, unglücklich. Der Blick in den Spiegel offenbart nicht nur die äußere Veränderung, sondern auch die Entfremdung von mir selbst und den Zielen, die ich einmal gehabt habe. Der Publizist Klaus Leciejewski (https://www.deutschlandfunkkultur.de/in-den-spiegel-schauen-koennen-100.html) erzählt aus seiner Zeit als Personalberater, dass er fast täglich Manager fragen musste, warum sie ihr Unternehmen gewechselt haben. Häufig erhielt er dabei die Antwort: „Ich möchte frühmorgens noch in den Spiegel schauen können!“ Angesichts von Anforderungen, die nicht ihren persönlichen moralischen Vorstellungen übereinstimmen, geraten diese Menschen in einen inneren Konflikt. Viele machen ihre Kompromisse und legen z.B. das Gebot „Du sollst nicht lügen“ im Blick auf sich selbst recht großzügig aus. Aber mitunter ist jene Grenze erreicht, die sie nicht mehr überschreiten können, und sie entscheiden sich für den Bruch, damit sie sich noch im Spiegel anschauen können ohne sich zu verachten.

„Ich möchte frühmorgens noch in den Spiegel schauen können.“ Das ist nicht immer leicht für uns. Vielleicht sehe ich da einen Menschen, der unnötig Streit mit anderen Menschen angefangen hat, die er eigentlich gerne hat, ja sogar liebt. Vielleicht sehe ich da einen Menschen, der nicht zugibt, wie es ihm wirklich geht, weil er nach außen immer den starken Mann / die starke Frau zeigen will. Vielleicht sehe ich sogar einen Menschen, der Werte und Prinzipien aufgeben hat, um nicht ins Abseits zu geraten.

Können heute Abend einige Menschen noch in den Spiegel schauen? Und wenn ja, was sehen Pilatus, Petrus, Kajaphas im Spiegel?

Stellen wir uns mit ihnen vor den Spiegel und schauen den Menschen an, der uns dann gegenübersteht:

 

Petrus - Den Freund verleugnet

Kann Petrus heute Abend in den Spiegel schauen? Wen wird er dort sehen? Den Feigling, der seinen Freund und Herrn verleugnet und im Stich gelassen hat? Welche Ausreden könnte er ins Feld ziehen? Er wollte ja im Garten kämpfen und wurde von Jesus selbst abgehalten. Niemanden hätte ein mutiges Bekenntnis im Hof des Hohepriesters genützt. Wahrscheinlich wäre er im Gefängnis gelandet oder sogar gleich neben Jesus auf Golgatha gehangen. Er hat den Führungsauftrag für die Gemeinde nach dem Tod Jesu. Deshalb hätte sein Martyrium zu diesem Zeitpunkt niemanden geholfen. Und doch: Er hat bestritten, zu Jesus zu gehören. Drei Jahre, so der Bericht des Johannes, ist er mit Jesus durch Israel gezogen, hat erlebt, wie er Wunder tat und in neuen Worten von Gott sprach, wurde selbst so bewegt, dass er alle Sicherheiten aufgab, weil er in Jesus den Sohn Gottes erkannt hat. Er ist ein leidenschaftlicher Mensch, der sich oft genug in Schwierigkeiten bringt, weil er mitunter erst handelt und dann denkt. Sicher ein guter Mensch mit dem Herz auf dem rechten Fleck, das hat auch Jesus erkannt, aber eben auch einer, der in seiner Impulsivität wankelmütig werden kann. Auch die besten Argumente können es nicht rechtfertigen, dass er den Freund und Herren im Stich gelassen hat. Wir erleben Petrus nach der Auferstehung Jesu am Ufer des Sees von Tiberias im Gespräch mit Christus, der ihm dreimal die Frage stellt, ob er ihn liebt. So oft wie er geleugnet hat, wird Petrus jetzt seine Liebe bekennen. Heute Abend wird Petrus nicht in den Spiegel schauen können, denn die Schuld plagt ihn. Er wird mit diesem Scheitern ringen und selbst am Ostertag hat er sich noch nicht vergeben. Mit ihm stehen auch wir vor der Frage, ob wir in den Spiegel schauen können, wenn wir Menschen, die wir lieben, enttäuscht haben, geschwiegen haben, wo es Zeit zum Reden war, uns weggedrückt haben, wo andere uns gebraucht hätten. Mit Petrus sehen wir, dass wir gerade gegenüber den Menschen, die wir am meisten lieben, am schwersten schuldig werden können. Aber mit ihm dürfen wir auch erfahren, dass Schuld immer auch der Vergebung und der Versöhnung weichen kann, und wir hoffen dürfen, dass Türen nie ganz geschlossen sein müssen auch in Familien, in denen man sich zerstritten hat und nicht mehr miteinander redet.

 

Kajaphas - einen Unschuldigen geopfert

„Es ist besser, dass ein Mensch für das Volk stirbt“ - Er hat Recht. Jesus als den Messias, den von Gott gesandten König von Israel, anzuerkennen, hieße, dass es zum Aufstand kommen wird, der von den Römern blutig niedergeschlagen und vielen Menschen das Leben kosten wird. Kajaphas trägt als höchster Vertreter des jüdischen Volkes unter der römischen Besatzung eine hohe Verantwortung für Sicherheit und Frieden. Würde er den Anspruch Jesu unterstützen und sich hinter ihn stellen, dann fließt Blut und das ganze Volk stürzt in Leid und Hunger. Er ist in einer Stellung, in der das, was er persönlich empfindet, keine Rolle spielt im Blick auf die Sorge um das Wohlergehen des Volkes Israel. Würde er das im Spiegel sehen? Oder sieht er einen Machtmenschen, der spürt, dass in Jesus der Anspruch Gottes ihm entgegentritt, und sich bewusst gegen Gott stellt? Unvorstellbar für einen Führer der Religion? Dostojewski lässt in seinem Roman „Die Brüder Karamasow“ Jesus in Sevilla wieder auf die Erde kommen. Das Volk und der greise Großinquisitor erkennen ihn. Der Kardinal lässt ihn inhaftieren und hält ihm einen zynischen Vortrag, in dem er Jesus erklärt, warum er kein Recht hat, wieder auf die Erde zu kommen und so die Ordnung zu zerstören, die die Kirche über Jahrhunderte aufgebaut hat. Kajaphas kann sich einreden, im Spiegel einen Retter der Menschen zu sehen, denn Taktieren ist zu diesem Zeitpunkt die einzige Strategie des Überlebens. Wenn er ehrlich ist, sieht er einen Mann, dessen Glauben der Mitte, nämlich dem Hören auf Gott, beraubt ist und leere Formeln an die Stelle der lebendigen Beziehung gesetzt hat. Vielleicht sieht mancher mit Kajaphas im Spiegel auch die eigene Angst vor der Veränderung durch Gott und muss sich eingestehen, dass sein Glaube zu oft an starre Riten und Vorstellungen gebunden ist und zu wenig aus dem Vertrauen in Gott seine Kraft findet.

Pilatus - gegen die Wahrheit gehandelt

„Was ist Wahrheit?“ - Die Frage des Pilatus ist in die Weltliteratur eingegangen. In diesen drei Worten offenbart sich das ganze Denken eines Menschen, der bereit ist, für den eigenen Vorteil über Leichen zu gehen. Johannes stellt Pilatus durchaus aufgeschlossen gegenüber Jesus da, der ihn durch seine Antworten und sein souveränes Schweigen beeindruckt. Letztlich aber bleibt er der zynische Machtmensch, dem ein menschliches Leben nichts bedeutet. Er bleibt unverbindlich, agiert politisch geschickt und opfert, wenn es ihm nötig erscheint, ohne mit der Wimper zu zucken einen Menschen. Wenn er an diesem Abend in den Spiegel schaut, wen sieht er da? Einen Statthalter, der die öffentlichen Ordnung nicht gefährden will und deshalb gegen seinen Willen einen Menschen opfern muss? Sieht er einfach nur den Karrierepolitiker und erinnert sich gar nicht mehr an den jüdischen Wanderprediger, der noch vor wenigen Stunden vor ihm stand? Oder erkennt er den ängstlichen Erfolgsmenschen, der Unrecht zuließ, um nicht selbst in die Kritik zu geraten? Schaut mit ihm nicht der Mensch in den Spiegel, der zuerst immer nur sich sieht und für den andere Menschen nichts zählen, wenn es um seinen Vorteil geht?

 

Und die anderen? Josef von Arimathäa und Nikodemus?

Sie sind wahrlich keine Helden, sonst wären sie schon vorher aufgestanden und hätten im Hohen Rat ihre Stimme erhoben. Vielleicht haben sie gezögert, weil sie nicht völlig von Jesus überzeugt waren. Sicher war auch die Angst groß, in der jüdischen Oberschicht isoliert zu werden und Ansehen zu verlieren. Nein, wirkliche Helden waren sie nicht, aber sie haben sich sehen lassen. Die Beisetzung wird von anderen wahrgenommen. Auch wenn der Ort des Begräbnis außerhalb der Stadt liegt, ist es doch kein Verscharren in Dunkelheit. Josef und Nikodemus müssen damit rechnen, dass man sie sieht. Josef gibt das eigene Grab her. Wenn sie heute Abend in den Spiegel blicken, werden sie vielleicht fragen, warum sie so spät gehandelt haben, aber sie sehen auch zwei Menschen, die am Ende das Richtige getan haben. Darauf werden sie nicht stolz sein, aber versöhnt mit ihrem Gewissen.

 

Die vier Frauen unter dem Kreuz

So wie Johannes die Frauen schildert, werden sie heute Abend keine Kraft mehr haben, in den Spiegel zu blicken. Dabei wären sie wohl die einzigen am Ende dieses Karfreitags die es mit erhobenem Haupt wagen könnten. Erschöpfung, Trauer und Tränen werden den Blick trüben, so dass sie sich gar nicht erkennen könnten. Aber sie werden zum Spiegelbild für andere. Johannes schildert sie in direkter Spannung zu den vier Soldaten. Sie teilen nicht nur die Anzahl, sie stehen auch wie sie unter dem Kreuz. Das ist eine Besonderheit im Johannes-Evangelium. In den Leidens-geschichten der anderen Evangelisten stehen die Frauen abseits. Johannes aber gibt ihnen direkt unter dem Kreuz ihren Platz in engster Nähe zu den Soldaten, die aus dem Gewand Jesu vier Teile machen, die sie untereinander verlosen. Im Gesicht der Frauen wird das Wesen der vier Männer offengelegt: Die vier Frauen stehen für Mut und Mitgefühl, für menschliche Nähe und Verletzlichkeit, während die Soldaten Kälte, Desinteresse und Grausamkeit ausdrücken. Ihre Macht sind ihre Waffen, nicht ihr Herz. Im Angesicht der Frauen wird ihnen der Spiegel vorgehalten, auch wenn es sie kaum interessieren dürfte, wen sie da sehen. Aber mit ihnen hält Johannes eben auch seinen Lesern den Spiegel vor: Was bewegt dich? Kälte, Machtkalkül, Desinteresse? Oder Wärme, Menschlichkeit, Verantwortung? Möglicherweise treten uns diese Frauen heute in den vielen Menschen entgegen, die sich einsetzen im Dienst an anderen und sich oft aufopfern für Kranke, Sterbenden, Geflüchtete und Menschen am Rande, deren Schicksal den Großteil der Menschen nicht mehr berührt.

 

Schauen wir noch einmal mit dem Pärchen auf dem Foto in den Spiegel. Ich kenne sie nicht, aber sie scheinen sich gut selbst im Spiegel anschauen zu können. Sicher bemerken sie die Veränderungen durch das Älterwerden, lachen vielleicht so gar darüber, dass sie nicht mehr so perfekt wirken wie früher. Sie erkennen in jedem Fall zwei Menschen mit Falten, Ecken und Dellen, die sich aber auch sehen lassen können. Wenn das Kreuz Jesu der Spiegel ist, den uns heute der Karfreitag vorhält, dann werden wir auch keine perfekten Menschen sehen, sondern uns selbst und die vielen faulen Kompromisse, die wir aus Bequemlichkeit eingegangen sind, den Schuldgeschichten gegenüber anderen Menschen und den schwachen Momenten unseres Glaubens, in denen wir nicht genügend Vertrauen in Gott hatten und deshalb nicht unserem Gewissen gefolgt sind. Hoffentlich aber können wir heute Abend in diesen Spiegel schauen, uns selbst mit allen Schwächen annehmen und glauben, dass der Gekreuzigte uns mit uns selbst, unseren Mitmenschen und Gott immer neu versöhnt. Amen.

Sven Johannsen, Lohr

2023_In_den_Spiegel_schauen.pdf

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