Liebe Schwestern und Brüder
Kinder töten Kinder - unvorstellbar, doch nur 2 ½ Stunden Autofahrt von uns entfernt geschehen in einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen, die nicht viel größer als Lohr ist.
Im vergangenen Monat haben zwei Kinder, zwölf und dreizehn Jahre alt, ein gleichaltriges Mädchen, ihre Freundin, getötet. Heribert Prantl hat die Empfindungen vieler Menschen treffend beschrieben: „Man hört, man liest, man ist erst einmal stumm vor Entsetzen. Es ist unvorstellbar. Aber es ist geschehen.“ Wir haben die Befürchtung, dass eine ähnliche Tragödie auch in Wunsiedel vor wenigen Tagen sich wiederholt hat. In solchen Momenten hält eine Gesellschaft innen, erschrickt und trauert mit den Familien. Wir haben uns an den Tod in allen Variationen der Grausamkeit und des Erschreckens gewöhnt. Wir sehen die Bilder aus der Ukraine. Wir hören vom Amoklauf an einer Schule in Nashville und nehmen Anteil an der Trauer unserer türkischen und syrischen Mitbürgerinnen und Mitbürger nach dem Erdbeben in ihrer Heimat im Februar. Aber wirklich tief treffen können wir uns eigentlich kaum mehr von den vielen Nachrichten des Schreckens lassen, wenn wir nicht völlig verzweifeln wollen. Vielmehr müssen wir mit dieser offenen Todeswunde der Menschheit, die sie sich zum Teil auch selbst zugefügt hat, lernen zu leben. Dann aber halten wir inne, weil uns das Schicksal eines Menschen in besonderer Weise ins Herz trifft, sprachlos macht und fragen lässt: „Wie kann so etwas geschehen?“
Diese Momente sind Ausdruck unserer Hilflosigkeit, aber auch unserer Menschlichkeit. So schlimm solche Nachrichten sind, sie zeigen auch, dass wir noch nicht völlig kalt und abgestumpft sind, zumindest der Großteil der Menschen in unserem Land. Ein tragisches Einzelschicksal lässt uns unseren Lauf unterbrechen, obwohl wir den Menschen, die Familien gar nicht kennen und so weit entfernt sind, dass wir sagen könnten, dass es uns nichts angeht.
Jahr für Jahr unterbrechen wir unseren Alltag und unsere Feiertagsruhe, weil wir spüren, dass uns das Schicksal eines Menschen betrifft, mit dem uns rein menschlich gar nichts verbindet: Ein junger Mann vor 2000 Jahren in Palästina, ein Opfer politischer Willkür und religiöser Fanatismus. Was ist daran so besonders? Bald täglich werden Männer und Frauen Opfer von Fanatismus und Gewalt, leider auch im Heiligen Land. Und doch spüren wir, wenn wir den Herrn auf unsere Schultern nehmen, ihm hinterherlaufen oder an der Seite auf ihn blicken, dass hier kein Folklore-Umzug abläuft oder das traditionelle Spektakel eines Museums-vereins aufgeführt wird, sondern das Leben uns auffordert, innezuhalten, zu schweigen und auszuhalten. Seit vielen hundert Jahren haben die Lohrer diese Karfreitagsprozession zur Mitte ihrer Betrachtung am Todestag Jesu gemacht. Wir haben die Prozession nicht erfunden, in vielen Städten unseres Landes gab es sie, aber wir haben sie bewahrt. Das verpflichtet auch zur Nachfrage, was sie uns bedeutet. Und letztlich kann es - ob gläubig oder nicht - nur einen Antwort geben: Leben ist heilig und unantastbar, in jeder Phase, ob am Anfang oder am Ende, ob hochgestellt und berühmt oder bescheiden und Teil der unbekannten Menge. Kein Leben zählt mehr, kein Leben zählt weniger. Wer auf den Zimmermann aus Nazaret blickt, in dem wir Christen den Sohn Gottes erkennen, der sieht immer Leben, das Geschenk Gottes ist und von niemand zerstört werden darf. Schon der Evangelist Johannes bezieht das Wort aus dem Buch des Propheten Sacharja auf den Gekreuzigten: „Und sie werden auf mich blicken, auf ihn, den sie durchbohrt haben. Sie werden um ihn klagen, wie bei der Klage um den Einzigen; sie werden bitter um ihn weinen, wie man um den Erstgeborenen weint.“ (Sach 12).
Die Erlösung beginnt in diesem prophetischen Spruch damit, dass Gott selbst die Herzen verändert. Er gießt einen Geist des Mitleids aus. Er bewirkt das flehende Bitten um Vergebung.
Die Karfreitagsprozession macht uns nicht zu besseren Menschen und sie ist auch kein wirksames Mittel, um Leid und Gewalt in der Welt ein Ende zu setzen, aber sie verändert unseren Geist. Sie reißt uns heraus aus der Lethargie der Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal anderer Menschen und einer zunehmenden Kälte in unserer Gesellschaft, in der immer mehr die Maxime gilt, dass jeder zuerst nach sich schauen soll.
Wir werden auch nach diesem Karfreitag Momente erleben, die uns die Sprache verschlagen und unendlich traurig machen wie die furchtbaren Ereignisse in Freudenberg. Aber wir üben uns heute wieder ein in Menschlichkeit, weil in jedem Leben die Einmaligkeit Gottes aufscheint. Wir sehen auf den Gekreuzigten, leidend und voller Schmerzen, und erkennen in ihm den, der bereit ist alle unsere Leiden mitzutragen.
Wir blicken auf den Durchbohrten und erkennen in ihm den Geber und Erhalter des Lebens, der uns Mut macht, mit Leidenschaft für die Würde des Lebens gegen alle Symptome des Todes einzutreten.
So wenig wir glauben können, dass wir hier fortgehen und die Welt gut wird, so überzeugt bekennen wir jedes Jahr am Karfreitag auf unserer Prozession mit jedem Schritt, dass wir Hoffnung haben, dass sie besser werden kann, weil wir menschlicher werden können. Amen