Predigt Palmsonntag 2022 (ZDF - Gottesdienst)
„Er erniedrigte sich und wurde Mensch“
Liebe Schwestern und Brüder,
hier in unserer Stadtpfarrkirche und an den Bildschirmen
Karfreitag, 10.30 Uhr - zwei dumpfe Paukenschläge, die beiden Kapellen spielen den ersten Trauerchoral: Mit diesem Ritual setzt sich seit langer Zeit die Lohrer Karfreitagsprozession in Bewegung. Die Lohrer Innungen und Berufsgruppen eine mehr als 365 Jahre alte Tradition pflegen, wenn sie die lebensgroßen Stationen des Leidens und Sterbens Jesu durch die Gassen unserer Altstadt tragen. Am Rande stehen, in andächtiger Stille und innerer Sammlung, Tausende von Zuschauern, die so an der stillen Prozession teilnehmen. Ich lade Sie ein, mit mir vor drei Stationen der Prozession Halt zu machen und sie näher zu betrachten als Hilfe zu einem intensiven Miterleben der Heiligen Woche. Unser erster Weg führt uns zur siebten Station, dem Kreuzschlepper.
Der Kreuzschlepper
Er ist, wenn man das so überhaupt sagen kann, meine „Lieblingsfigur“ und eine gute Brücke in das, was ich zur Zeit in den Medien sehe. Beängstigende Bilder erschrecken viele von uns seit Beginn des Kriegs in der Ukraine: Frauen mit Kindern an der einen Hand und in der anderen Hand Koffer, Tüten, Reisetaschen. Wir sind nicht am Abflugterminal eines Flughafens, sondern sehen Familien, die aus ihrer Heimat fliehen müssen und in Polen, Ungarn, Rumänien und schließlich bei uns auf den Bahnhöfen ankommen. Sie haben in aller Eile das Allernötigste zusammen-gepackt und viel mehr zurückgelassen. Der Koffer, den sie schleppen, steht nicht für die Vorfreude auf Urlaub, sondern für das Leid der Flucht und den Verlust von Haus und Habe. Der Koffer in den Händen von Menschen wird zum schweren Kreuz, das Jesus trägt. Für uns, die ja von Kind auf an das Kreuz als Zeichen der Hoffnung vermittelt bekommen haben, ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass für Jesus das Kreuz Angst, Schmerz und Leid bedeutete, an denen er schwer trägt. Auf dem Weg wird ihm einer zu Hilfe kommen: Simon von Kyrene. Man zwingt ihn, er wird sich nicht verweigern und am Rande stehen bleiben, sondern das Kreuz mittragen. Paulus sagt der Gemeinde in Galatien: „Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ (Gal 6,2) Der Kreuzschlepper in unserer Prozession schaut uns mit müden und doch großen Augen an, so dass wir seinem Blick nicht ausweichen und wegschauen können. Er richtet unser Augenmerk auf die Menschen, die in unseren Tagen ihr Kreuz, ihren Koffer, ihre Krankheit tragen, darunter zu fallen drohen und stumm unsere Hilfe erbitten. Unser Nächster, so der Kreuzschlepper, ist immer der nächste Mensch, der unsere Hilfe braucht. Gehen Sie nun in Gedanken mit mir zum Mittelpunkt unser Prozession, dem Heiligen Kreuz
Das Heilige Kreuz
Jahr für Jahr bewegt mich der Gedanke, dass die Zimmerleute und Vertreter des Bauhauptgewerbe ihren Kollegen Jesus, den Zimmermann aus Nazareth, tragen. Sie erinnern mich an die vielen Menschen, die einen Familienangehörigen, Freund, Arbeitskollegen oder Sportkameraden auf seinem letzten Weg begleiten. Oft sind wir hilflos im Angesicht des Leidens von Menschen, die uns nahestehen. Es berührt uns zutiefst, wenn Freunde, Kollegen, Verwandte an einem Tumor erkranken. Wir können sie unterstützen in ihrem Kampf gegen die Krankheit, aber wir können sie nicht wegnehmen. Am Kreuz erfüllt sich das Wort des Philipperbriefes: „Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.“ Wir können keine perfekte Welt ohne Leid schaffen, aber wir können Solidarität zeigen, anderen menschlich nahe sein in der Trauer, Angst und Mutlosigkeit. Das Kreuz ist nicht nur Zeichen des Todes, es ist auch Zeichen der mitleidenden Liebe Gottes, die stärker ist als jede zerstörerische Gewalt. Am Kreuz offenbart Gott in seinem Sohn, welche Liebe er zum Menschen hat, dass er sogar so weit geht, die Nacht unseres Todes auf sich zu nehmen. Wenn wir das Kreuz tragen, dann wissen wir um das Ende, das sich nicht auf Golgatha, sondern einige Meter weiter im Garten der Auferstehung erfüllt. Solidarisch zu sein mit Trauernden, Sterbenden, Verfolgten ist nicht eine bloße menschliche Pflicht, es ist ein Bekenntnis, dass am Ende das Leben und die Liebe siegen werden. Den Abschluss unserer Prozession bildet keine Jesusfigur, sondern eine alttestamentliche Erzählung. Wenden wir uns ihre noch einen Augenblick zu.
Das Zeichen des Jona
Für viele Betrachter, zugeben auch am Anfang für mich, ist diese Station verwirrend: Jesus ist nicht zu sehen, sondern Jona, der aus dem Walfisch kriecht. Es ist der zurückhaltende Hinweis auf Ostern. Jesus selbst hat es so in seinem Reden gedeutet: „Denn wie Jona drei Tage und drei Nächte im Bauch des großen Fisches war, so wird auch der Menschensohn drei Tage und drei Nächte in der Tiefe der Erde sein.“ (Mt 12,39) Getragen wird es in der Lohrer Karfreitagsprozession von den Mitgliedern der Freiwilligen Feuerwehr und anderen Rettungskräften. In meinem Empfinden ist es eine besonders ausdrucksstarke Station: Jona springt nicht einfach aus dem Maul des Fisches heraus, er klettert mühselig aus dem Dunkel. Es ist nicht sicher, ob dieses Kriechen zum Leben nicht doch noch scheitert und Jona wieder versinkt. Die Brücke zur Lebenserfahrung vieler Menschen, die Trauer und Depression durchlitten haben, ist naheliegend. Es gibt keine einfache Heilung, eine Behandlung, nach der alles wieder gut ist. Es ist ein langsamer und schwieriger Weg zurück ins Leben und die Gefahr, erneut unterzugehen, bleibt ein ständiges Damoklesschwert. Es ist kein explodierendes Fest des Lebens, das sich in diesem österlichen Bild andeutet, aber es macht Mut. Wir wissen, dass Jona wieder ans Licht kommt und dass auf den Karfreitag Ostern folgt. Der Weg durch die Nacht ist oft lang, aber wir dürfen schon am Beginn des Leidensweges Jesu das Vertrauen haben, dass er einmal auch für uns zum Licht des Lebens führt.
Liebe Schwestern und Brüder
Es fällt den Betrachtern unserer Stationen auf, dass außer Maria und einem Jünger beim letzten Abendmahl, nur Jesus dargestellt wird. Nie sehen wir einen Soldaten, Peiniger oder Richter. Sie haben keinen Platz auf diesem Weg, der letztlich zu Ostern führt. Wie oft erleben wir in unseren Tagen, dass den Tätern von Amokläufern und den Kriegsherren mehr Aufmerksamkeit zukommt als den Opfern. Im Mittelpunkt unserer Prozession steht der leidende Mensch, in dessen Antlitz wir Jesus erkennen. Ihm gilt unser Blick. Wir verherrlichen im Glauben nicht das Leid, wir bestaunen nicht die Erbarmungslosen, wir geben den Opfer Ansehen, denn in ihnen ist Jesus Christus ganz Mensch geworden, um alle, die Unrecht erfahren, aufs Kreuz gelegt werden oder zum Spielball der Mächtigen werden, zum befreiten Leben in Fülle zu führen. Amen. (Sven Johannsen, Lohr)