Am Ende eines Jahres wird Bilanz gezogen Zahlen berechnet und Statistiken erstellt. Wer steht ganz oben? Wer war am beliebtesten und bildet den Spitzenreiter? Das gilt auch für das Fernsehen. Einschaltquoten werden ermittelt und die TOP 10 des deutschen Fernsehens erstellt. Raten Sie mal wer ganz oben steht.
Tatsächlich waren es die Spiele der Deutschen Mannschaft bei der WM in Qatar, aber nur knapp. Spannender ist die Frager welches regelmäßige Sendeformat die Spitzenplätze erobert hat. Vielleicht ahnen Sie es schon? Die ersten vier Plätze nimmt der Tatort ein. Wahrscheinlich überrascht es nicht,, dass die Produktionen aus Münster ganz weit vorne liegen. Viel Unterschied zu einem WM-Spiel ist da nicht mehr. Erst auf Platz fünf und sechs folgen ein Brennpunkt und eine Samstagabend-Show.
Die Deutschen sind das “Krimi”-Volk Europas. In keinem Land werden mehr Krimis gesehen als bei uns. Jeden Abend können Sie Blaulicht hören, Morde miterleben und mit einer breiten Auswahl an Kommissare mitfiebern. Woher kommt diese Lust am Verbrechen und ihrem Aufdecken?
Darüber haben sich Redakteure der FAZ Gedanken gemacht und mehrere Antworten gefunden. Sie haben errechnet, dass an einem beliebigen Montagabend auf allen öffentlich-rechtlichen und privaten Sendern von 20.00 Uhr bis Mitternacht rund 15 Stunden Morde zu sehen sind. Das gilt ähnlich für die Hörspiele im Radio und natürlich die Literaturlisten der Bestseller. Die Antwort ist überraschend: Die Deutschen schauen Krimis, weil sie sie als beruhigend empfinden. Die Erwartungen sind klar und die Handlungen überraschen in der Regel nicht. Klar abgesteckt sind die Grenzen zwischen Gut und Böse und am Ende siegt das Gute. Gänzlich zuwider sind den Deutschen Krimis mit offenem Ende, die also grundsätzlich die Möglichkeit offen lassen, dass die Verbrecher triumphieren Ideal ist es, wenn, wie im Münsteraner Tatort, die Ermittler sympathisch rüberkommen und man sich leicht mit ihnen identifizieren kann. Am Ende ist die Ordnung, die durch das Verbrechen gestört wurde, neu hergestellt. Das Gute hat gesiegt und die Welt ist wieder sicher.
Es braucht nicht viel denkerischen Aufwand, um dahinter auch eine Sehnsucht für die Wirklichkeit der Welt und das eigenen Leben zu entdecken. Eine Welt, die aus den Fugen geraten ist, wird durch Menschen wie du und ich wieder ins Lot gebracht. Aber leider korrespondiert das nicht unbedingt mit unseren Erfahrungen am Ende eines Jahres. Dieses Jahr war weniger ein Krimi als ein Psychodrama. Wäre es ein Krimi, dann müsste in den letzten Minuten den Guten doch ein Geistesblitz kommen, wie man den Bösen doch noch zur Strecke bringt. Aber das scheint ziemlich aussichtslos. Es ist auch nicht immer so eindeutig, wer wirklich der Böse und wer der Gute ist. Ziemlich sicher zählen wir Putin zu den Bösen, aber am Beginn dieses Jahres waren wir uns da nicht so sicher. Und ob nicht auch auf der anderen Seite Verbrechen begangen werden, wird wohl niemand ausschließen wollen. Dazu sind wir zu oft eines Besseren belehrt worden.
Einig sind sich viele, dass die Welt und die Kirche 2022 völlig die Ordnung verloren hat. Wir sehen Erosionsprozesse in der Politik, in der Gesellschaft und in der Kirche, die wir am Anfang des Jahres so nicht erahnt haben. Und nirgends erhebt sich der Held, der wieder alles so fügt, dass es passt und gut wird. Eher beschleicht uns die Angst, dass wir erst noch am Anfang eines völligen Zusammenbruchs stehen. Ein Ende ist jedenfalls nicht absehbar, weder für die großen Krisen, die die Welt erschüttern, noch für den Auflösungsprozess, den die katholische Kirche gerade durchmacht.
Auf den James Bond des Himmels zu warten, wird sich als vergeblich erweisen. Die Lesung aus dem Buch des Propheten Jesaja kündigt auch nicht den göttlichen Sherlock Holmes oder den himmlischen James Bond an, sondern ein harmloses und ohnmächtiges Kind. Haben wir nicht mehr anzubieten, um die Welt zu retten? (Leider) Nein! Er ist bestens geeignet, Licht in das Dunkel der Welt zu bringen, so deuten wir die Lesung aus dem Buch des Propheten Jesaja, wie wir zur Heiligen Nacht hören.
Vier große Titel werden dem neugeborenen Kind gegeben, die seine Kraft für eine Menschheit bezeichnet, die rat-, macht-, orientierungs- und haltlos geworden ist: wunderbarer Ratgeber - Starker Gott - Fürst des Friedens - Vater in Ewigkeit. Martin Luther hat es noch treffender ausgedrückt: “Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst”
Der Wunder-Rat ist ganz einfach: Gott wird Mensch. Er fällt nicht als Prediger und Politiker vom Himmel, sondern durchschreitet unsere Lebensalter von der Kindheit über die Pubertät und Jugend bis zum Erwachsensein. In einem Land, das am Ende dieses Jahres über fehlenden Plätze in Kinderkliniken erschrickt und in dem Schulen und Kitas zu Dauerkrisen-Themen geworden sind, heißt der Rat ganz einfach: Schaut auf die Kinder. Sie sind keine kleine Erwachsenen, denen wir gerade das Nötigste vermitteln sollen, um möglichst schnell das harte Leben zu bestehen. Sie sind Menschen mit einer eigenen Würde. In einem Artikel der Zeit wurden sie als “low hanging fruits” betitelt, also als solche Aufgaben, die mit überschaubaren Aufwand große Erfolge versprechen. Im Blick auf Kinder sind die Investitionen ohne großen Mühen zu erbringen: Fürsorge, Aufmerksamkeit und Sicherheit. Nur leider haben Staat, Gesellschaft und Kirche wenig davon geliefert.
Zur Überlebensfrage der Kirche wird nicht der Schutz von Dogmen, sondern der Schutz von Kindern und Familie, Die über lange Zeit selbstverständliche Allianz von Kirche und Familie, so hat es einmal der Religionssoziologe Michael Ebert gesagt, ist auseinandergebrochen. Das ist nicht die alleinige Schuld der Kirche. Vielmehr haben veränderte Lebenseinstellungen und Lebensformen ihren Beitrag geleitet. Aber mit Blick auf ihren Umgang mit Partnerschaften und Lebensmodellen von modernen Menschen leistet die Kirche keinen wirklichen Beitrag für eine Neuauflage. Sie kommt den Menschen sehr wählerisch vor und fixiert auf ein Idealmodell von Ehe und Familie mit einer starken Betonung einer “reinen” Sexualität. Wir haben ein Jahr erlebt, in dem vieles in Bewegung gekommen ist. Ich unterstütze, das tue ich sehr selten, ausdrücklich den Weg unserer Bischöfe, Patchwork-Familien, wiederverheiratet Geschiedenen und gleich-geschlechtlichen Partnerschaften einen Platz in der Kirche geben zu wollen. Menschen, die in zweiter Ehe verheiratet sind oder ihr Glück in der gleichgeschlechtlichen Ehe gefunden haben, sind in unserer Kirche und in unserer Gemeinden nicht nur geduldet. Sie sind willkommen, wenn sie mit uns den Glauben teilen wollen. Jeder, der in aufrichtiger Weise mit einem anderen Menschen glücklich werden will und sich für Liebe und Treue entschieden hat, steht per se unter dem Segen Gottes und bekommt ihn nicht von der Kirche wie ein Almosen gewährt.
Ganz klar muss sich die Kirchenleitung positionieren im Blick auf den Schutz von Kindern. Natürlich werden auch im neuen Jahr noch Veröffentlichungen erfolgen, die uns erschrecken werden. Das ist im Zuge von Aufklärung nicht vermeidbar. Aber es darf nicht der Eindruck entstehen, dass wir nur dann etwas zugeben, wenn es sich nicht mehr vermeiden lässt. Sicher müssen auch Sportvereine und Chöre ihre Missbrauchs-Geschichten aufarbeiten, aber die Kirche stellt nun mal an die Menschen hohe Ansprüche und reklamiert für sich hohe moralische Integrität. Die Initiativen zur Prävention in unseren Gemeinden sind nicht nur ein notwendiges Übel, sondern die Grundlage, dass wir bei Eltern und Kindern überhaupt noch Vertrauen finden können. Wenn wir das nicht ernstnehmen, so das Bild des Kindes in der Krippe, dann stehen wir nicht wie die Hirten und Magier um es geschart, sondern stellen ihm nach wie Herodes. Dann aber haben wir es gründlich vermasselt. Der Kampf um eine reine Lehre und eine perfekte Moralität wird uns nicht retten. nur das Vertrauen von Menschen, die mit ihrem Leben in der Kirche einen Ort finden, Gott zu begegnen.
Ein Kind wird gefeiert als der “starke Gott” in einer Zeit, in der Millionen von Kindern mit ihren Familien auf der Flucht sind, weil Menschen sich anmaßen, Herr über Leben und Tod zu sein und sich für allmächtig halten. Der Schutz des Lebens ist das Gebot Gottes schlechthin. Es gilt für das ungeborene Leben wie für das Leben, das gelebt wird in den unterschiedlichen Phasen. Es gilt für das Leben am Anfang und am Ende. Immer ist es Dienst an den Schwachen und Schutz-bedürftigen, in dem wir Gott begegnen. Mit Leidenschaft für das Leben eintreten, dem Leben dienen in konkreten Taten und Leben schützen, das ist der Weg Gottes, der an Weihnachten Mensch wurde und uns die Menschlichkeit als göttlichen Auftrag gegeben hat. Immer da, wo der Mensch die Grenze der Würde des Lebens überschreitet, schafft er das Böse: Politiker wie Putin, Wissenschaftler, die keine Grenzen einhalten, aber auch Kirchenführer, die den Schutz von Tätern über den von Opfern stellen.
Der „Ewig-Vater“ ist die Botschaft dieses Kindes. Es stellt sich nicht an die Spitze und verdrängt den ewigen Gott, sondern öffnet sich ganz seinem Willen. Seine Sendung ist es, den Vater bekannt zu machen. Wer ihm nachfolgt, hat kein anderes Thema. Eine Kirche, die nicht mehr missionarisch von der Zuwendung Gottes zum Menschen als seinen Kindern spricht, sondern nur noch auf die eigene Rettung fixiert ist, beraubt sich ihres innersten Zusammenhalts. Die Menschen sind nicht in der Kirche um der Institution willen oder wegen Rituale, Gesängen oder Kunstschätzen, sondern um Gott zu begegnen. Es gibt zweifellos eine tiefe Sehnsucht in den Menschen nach einem tragfähigen Grund für ihr Leben und nach Sinn, den sie niemals in sich selbst finden können, sondern nur in dem, der die Quelle des Lebens selbst ist. Wer zum Krippe kommt, wird verwiesen auf den Ursprung des Lebens, das uns so rätselhaft erscheint. Die Kirche muss zuerst von Gott sprechen. Wenn sie diese Botschaft überzeugend vertritt, kann die Diskussion um Strukturen und Ämter beginnen. Nicht andersherum.
Er ist der „Friede-Fürst“. Ein wenig resigniert stimme ich den Überlegungen der Militärs zu, die uns sagen, dass es einen Frieden in der Ukraine geben kann, wenn die Nato-Staaten die Ukraine mit Waffen unterstützen. Wahrscheinlich kann nur so ein Waffenstillstand erreicht werden. Dennoch überzeugt mich diese Strategie nicht als dauerhafte Lösung für den Frieden. Als Kirche müssen wir vernünftige Pläne akzeptieren, aber auch deutlich machen, dass diese Wege langfristig niemals dem Willen Gottes und dem Wohl der Menschen entsprechen können. Gewalt erzeugt immer Gewalt, niemals Versöhnung und wahren Frieden. Ich stelle mich gänzlich hinter Papst Franziskus, der auch die westlichen Politiker mahnt, ernsthafte Initiativen für ein versöhntes Miteinander in Gang zu setzen. In diese Richtung geschieht im Augenblick zu wenig. Die Zukunft für die Menschen in der Ukraine kann man nicht auf militärische Stärke allein aufbauen. Hier hat die Kirche die dringende Pflicht zum Mahnen, auch wenn sie sich so in den Regierungszentren der westlichen Welt keine Freunde schafft.
Das Leben ist komplizierter als ein Krimi, Liebe Schwestern und Brüder. Es kommt am Ende nicht einfach der geniale Detektiv überführt den Bösen und macht ihn dingfest. Damit ist die Welt dann wieder in Ordnung. Eine Kirche, die beitragen will, dass der Mensch im Kampf zwischen Gut und Böse nicht untergeht, muss selbst glaubwürdig sein und immer auf Gottes Willen verweisen: Dieses Konzept ist aufgrund der Erfahrungen von 2022 zumindest ausbaufähig. Andere werden sagen, dass wir daran krachend gescheitert sind. Das heißt aber nicht, dass wir uns jetzt raushalten und in die Ecke des Schmollens zurückziehen könnten. Gerade weil 2022 für die Kirche ein so desaströses Jahr war, muss sie 2023 die Kehrtwende einläuten. Dazu erbitten wir Gottes Hilfe am Ende des Jahres. Amen.
Sven Johannsen, Pfr.