Sind Familien die Problembären unserer Zeit oder der Glücksfall im Leben eines Menschen?
Predit zum Fest der Heiligen Familie 2019
Predigt Fest der Heiligen Familie 2019
„Starke Familie“
Liebe Schwestern und Brüder
im September entschied der Gemeinsame Bundesausschuss von Ärzten, Kassen und Kliniken, dass ab Ende 2020 unter bestimmten Voraussetzungen Bluttests auf ein Down-Syndrom und andere Trisomien für Schwangere von den Kassen bezahlt werden. Dies gilt nur in begründeten Ausnahmefällen, soll also keinesfalls eine Regeluntersuchung werden, also ein sog. ethisch unvertretbares „Screening“. Eigentlich keine spektakuläre Entscheidung, denn sie trifft nur einen ganz kleinen Teil der Paare, die ein Kind erwarten. Dennoch hatte die Nachricht politische Sprengkraft. Einerseits jubelten Politiker, weil so ihrer Meinung mehr Sicherheit und eine bessere Entscheidung für Paare gewährleistet wird. Andererseits zeigen sich Politiker, Kirchenvertreter und v.a. die Sprecher von Behindertenverbände entsetzt, weil sie befürchten, dass damit die Zahl der Abtreibungen von Kindern mit dem Downsyndrom ansteigen wird. Denn das ist klar: Der Diagnose folgt keine Therapie.
Aus der freiwilligen Untersuchung wird schnell ein Automatismus der Selektion, so die Angst vor dem Dammbruch, der sich mit dieser Entscheidung verbindet. Der Sprecher der Deutschen Bischofskonferenz Peter Kopp bringt diese Sorge auf den Punkt mit seiner Zusammenfassung:
"Die leichte Zugänglichkeit, die geringen Kosten und die hohe Sicherheit des Bluttests senken die Hemmschwelle und erhöhen den Druck auf Frauen, sich für eine Anwendung zu entscheiden."
Als Ethiker teile ich die Befürchtung, als Seelsorger habe ich aber auch einen Einwand gegen diese Haltung der Kirchen und Behindertenverbände. M.E. unterstelle sie, dass Paare schnell schwach werden, wenn eine Krise auftritt und sich lieber für den einfachen Weg entscheiden und ein Kind mit Behinderung oder gar Trisomie nicht zur Welt bringen wollen. Ich habe den Verdacht, dass Kirchenvertreter und Ethiker oft die Stärke von Familien eher gering einschätzen und deshalb meinen, man müsse sie durch Gesetze und Verbote vor der eigenen Schwäche schützen.
Ganz sicher muss die Kirche mit aller Kraft für den Schutz des ungeborenen wie auch den geborenen Lebens eintreten und sofort laut aufschreien, wenn sie in der Gesellschaft Tendenzen sieht, die die Würde des Lebens in jedem Stadium und in jeder Situation bedroht sieht. Das ist unsere Stärke. Aber sie darf dabei auch darauf bauen, Familie stark ist und nicht ein Strohhalm, der beim leichtesten Gegenwind knickt. Dieses Vertrauen in die Stärke von Familie ist uns ein wenig abhanden gekommen.
Aber gerade heute am Fest der Heiligen Familie ist es der Inhalt dessen, was wir feiern. Wir stellen ja mit der Familien von Bethlehem nicht eine heile Familie in den Mittelpunkt. Da gibt es äußere Bedrohungen, die uns Matthäus heute berichtet. Aus Nazareth mussten sie ohne Sicherheit nach Bethlehem. Nun bleibt ihnen nichts als die Flucht nach Ägypten. Da teilen sie das Schicksal so vieler Familien weltweit, die sich seit Jahren über das Mittelmeer auf den Weg machen, um Sicherheit zu suchen, weil in ihren Länder Krieg oder Hunger das Leben bedrohen. Es ist keine heile Familie, also perfekte Familie im Sinne von harmonischen Einvernehmen. Die Familie kennt Beziehungsprobleme in der Partnerschaft. Josef hatte bereits die Absicht sich zu trennen, weil er sich betrogen sah. Die Familie kennt Streit zwischen den Generationen. Der Zwölfjährige wird beim Besuch in Jerusalem sich absetzen und nicht mit seinen Eltern zurückkehren, was zu massiven Auseinandersetzungen mit seiner Mutter führt. Heilig heißt nicht, dass alles Friede und Freude ist, dass die Familie eine Insel der Seligkeit ist. Ihre Heiligkeit ist anders spürbar.
Heiligkeit ist etwas, das sie von anderen menschlichen Gemeinschaften abhebt, etwas das sich nicht durch Regeln, effektiver Organisation oder Pflichtgefühl erklären lässt. Vielleicht äußert sich die Heiligkeit, die wir am Vorbild der Familie von Bethlehem erleben, in einem unerschütterlichen Vertrauen in eine gelingende Zukunft durch ein unzerbrechliches Miteinander der Familienangehörigen und durch eine Offenheit für Gott in ihrer Mitte.
Jeder von uns hat in der Regel Erfahrungen mit Familie. Wir sind in Familien aufgewachsen, haben sie als fördernd oder einengend erlebt. Aber es ist die Grunderfahrung jedes Menschen, ob er selbst einmal eine Familie gründet oder nicht, wir sind Kinder. Keiner kann sich selbst erfinden. Wir werden im Positiven wie im Negativen zuerst von unseren Familienerlebnissen geprägt.
Damit knüpft sich im Idealfall ein Netz, das bei allen Distanzen, die durch das Erwachsenwerden entstehen, immer noch trägt.
Wir lernen in der Familie Werte und Verhalten, die uns die Gesellschaft nie so authentisch vermitteln kann. Kitas, Schulen, Ausbildungen können uns erziehen, können uns beibringen, war richtig und falsch ist, uns beeinflussen in unseren Entscheidungen für die Zukunft, uns zu Egoisten oder Altruisten machen, je nachdem welcher Zeitgeist herrscht. Aber es gibt Erfahrungen, die unser Leben prägen, die uns nur die Familie so vermitteln kann, dass sie unser eigenes Denken und Leben wesentlich bestimmen.
Die Lesung aus dem Kolosserbrief spricht z.b. davon:
„Bekleidet euch
als Erwählte Gottes, Heilige und Geliebte,
mit innigem Erbarmen,
Güte, Demut, Milde, Geduld!
Ertragt einander
und vergebt einander,
wenn einer dem anderen etwas vorzuwerfen hat!“
Die Gesellschaft kann uns lehren, dass uns verziehen wird, wenn wir etwas Falsch gemacht haben und unseren Fehler einsehen. Aber ungeschuldete Vergebung, weil ich dem Anderen wichtiger bin als mein Tun, weil ich als Mensch bedeutender bin als meine Erfolge und Leistungen, einen Vorschuss an Vertrauen und Hoffnung in mich zu erfahren, weil Menschen mich ohne Einschränkungen und Vorbehalte lieben - wenn ich es nicht in der Familie erfahre, wird es sicher schwer andere Menschen lieben zu können.
Die Grunderfahrung von Familie, die ich bei jeder Taufe wieder erleben darf, ist tatsächlich eine transzendente, heilige Dimension: Das Leben ist Geschenkt. Ich kann es nicht formen, gestalten. Kein Kind ist mir gegeben, damit ich aus ihm etwas mache, ihn zum Erfolg führe, Eltern sind Lebenshelfer, nicht Trainer ihrer Kinder. Und ich denke, dass sich dies Stärke gerade in Situationen der Krisen zeigen.
Noch immer sind Familien die bevorzugten Orte, in denen Menschen Hilfe und Pflege in der Krankheit erfahren. Oft geht das bis an die Grenzen, was pflegende Angehörige leisten und mitunter ist es mehr als vernünftig, sich professionell helfen zu lassen. Aber gerade Familienmitglieder spüren in sich oft eine unerklärliche Verpflichtung, alles zu tun, dass ein pflegebedürftiger Mensch in ihrem Kreis bleiben kann, möglichst bis zum Ende seines Lebens. Was hier in Familien geleistet wird, ist für unseren Staat und unsere Gesellschaft nicht nur wirtschaftlich unverzichtbar, sondern macht auch ihren. menschlichen Charakter aus
Gerade Familien, die das Schicksal der Flucht getroffen haben, zeigen einen unverbrüchlichen Zusammenhalt.
Ich wundere mich tatsächlich manchmal wie lange Menschen in einer Partnerschaft oder Familie Situationen aushalten, die schier unerträglich erscheinen: Schweigen, Streit, endlose Debatten. Und doch sagen sie einem dann immer noch: „Ich liebe meinen Mann, meine Frau, mein Kind. Es muss also etwas geben, dass einen innerlich verpflichtet, wie es nur in einer Partnerschaft geschehen kann.
Ich denke auch an die ungewollt kinderlosen Paare. In der Regel ist es ja der Wunsch nach Kinder eine ganz entscheidende Gemeinsamkeit in einer Partnerschaft. Und dann trotz aller Enttäuschung einander in Liebe verbunden zu bleiben, ist doch ein Zeugnis großer Kraft, die zwei Menschen aus Liebe zueinander aufbringen.
Ich glaube auch, dass in Familien etwas möglich ist, dass in Freundschaften, Teams nicht geschieht: Das Gute im Anderen immer wichtiger zu sehen als seine Fehler. Beim Angelus vor einem Jahr hat Papst Franziskus das so ausgedrückt:
„Wenn es Probleme in der Familie gibt, denken wir automatisch, dass wir Recht haben und schmeißen die Tür zu. Aber man muss denken: Was hat dieser Mensch denn ,Gutes' an sich? Und dann über dieses ,Gute' staunen. Und das hilft zur Einheit der Familie. Wenn ihr Probleme in der Familie habt, dann denkt an die guten Seiten, die dieses Familienmitglied hat, mit dem ihr Probleme habt, und staunt darüber. Das wird dabei helfen, die Wunden in der Familie zu heilen.“
Aber auch in Familien, in denen Beziehungen zerbrochen sind, in denen z.B. Eltern und Kinder nicht mehr miteinander reden, bleiben m.E. Verbindungen, aus denen man sich nie lösen kann. Man wird in Arbeitsgruppen oder Freundschaften vergessen, wenn man weg ist, aber in der Familie geht das nicht. Auch wenn keine Kommunikation mehr da ist, ich bezweifle, dass Kinder Eltern oder Eltern Kinder vergessen können. Im schlimmsten Fall ist die Verbindung die eigentlich Liebe sein soll eine klaffende Wunde, niemals aber Vergessen oder Gleichgültigkeit.
Ich bin überzeugt, dass Familien auch heute in aller Bedrohung eine Stärke haben, der wir auch als Kirchen vertrauen dürfen wie der Kraft der jungen Familien, die heute im Mittelpunkt des Evangeliums steht, nicht zuletzt dadurch, dass sie unter dem besonderen Schutz Gottes stehen.
Kehren wir noch einmal zurück zur Entscheidung des gemeinsamen Bundesausschuss der Kassen, Kliniken und Ärzte zur Kostenübernahme von Bluttest. Ich teile die Bedenken der Kritiker und bin auch der Meinung, dass wir mahnend in unserer Gesellschaft darauf hinweisen müssen, wenn wir in Versuchung sind, die Büchse der Pandora zu öffnen, die Leben einteilt in gewollt und ungewollt. Aber noch mehr halte ich es für wichtig das Beispiel von Familien als Zeugnis herauszustellen, die das Leben mit Kinder mit einer Behinderung nicht als Last, sondern als Glück empfinden. Sie können Paaren die Angst nehmen, überfordert zu sein, wenn sie sich für das Kind entscheiden, das sie sich doch gewünscht haben.
Der Wuppertaler Pastoralreferent Dr. Werner Kleine und seine Frau haben vor 25 Jahren zwei Kinder mit Down-Syndrom adoptiert. Über seine Ängste und Glück sagt er in einem Interview mit dem Kölner Domradio:
„Ich bin Christ und meine Frau ist Christin. Wir beide sind gut katholisch und als wir uns entschlossen haben, Kinder zu adoptieren, tauchte irgendwann die Frage auf: Wären Sie auch bereit ein Kind mit einer Behinderung zu adoptieren? Meine Frau und ich haben uns damals daraufhin damit beschäftigt. Wenn es dem Herrgott gefällt, dass wir schwanger werden und das Kind dann behindert wäre, würden wir es auch nicht zurückschicken. Also sind wir offen für diese Frage. Unser Leben hat sich dann so ergeben, dass vor 25 Jahren das Jugendamt in Bremen anrief und ein kleiner Junge mit Down-Syndrom eine neue Mama und einen neuen Papa gesucht hat. So ist das Leben dann vorangegangen.
Ich weiß noch als meine Frau und ich nach Bremen gefahren sind, damals mit bebenden Herzen und all der Unsicherheit, die man so bei einem ersten Kind hat. Sie hat noch gesagt: Wir gucken erst mal. Ich werde diesen Moment nie vergessen, wie die Tür zu dem Krankenzimmer aufging, ich ihn das erste Mal gesehen habe. In dem Moment war ich Papa. Die Schwangerschaft war bei uns sehr kurz und hat 48 Stunden gedauert. So ein bisschen stelle ich mir das vor, wie bei der Geburt des eigenen Kindes dabei gewesen zu sein. Ich weiß, es ist sicher noch ganz anders. Aber in dem Moment, wo die Tür aufging und ich ihn da sah, war mein Herz verloren. (https://www.domradio.de/audio/vater-von-kindern-mit-down-syndrom-zum-bluttest-als-kassenleistung-ein-interview-mit-dr-werner )
Und eine Mutter eines schwerbehinderten Kindes kann sagen:
„Das Leben mit Kilian empfinde ich trotz Stress, Sorgen und Ängsten als große Bereicherung. Ich hätte früher nicht unbedingt gedacht, dass auch ein so schwer behinderter Mensch wie Kilian so viel Lebensfreude haben kann.“ … Keine Sekunde stellen Kilians Eltern die Liebe zu ihrem schwer mehrfach behinderten Kind in Frage. Im Gegenteil: „Ich glaube sogar, obwohl wir das natürlich nur vermuten können, dass wir zu ihm eine engere Bindung haben, als wir zu einem nicht behinderten Kind hätten.“ ... (gefunden in pfarrbriefservice.de)
Ich kann natürlich nicht wirklich nachempfinden, welche Hoffnungen, Ängste, Sorgen und Zweifel die Geburt eines Kindes begleiten. Aber ich kann aus meinem Miterleben schon bestätigen, dass gerade in schwierigen Situationen viele Familien eine Stärke zeigen, die keine andere menschliche Gemeinschaft aufbringen kann. Als Kirche sollen wir Familien Partnern sein, sie auch mit aller Macht schützen gegen Angriffe und Aufweichungen durch Ideologen, Zeitströmungen und wirtschaftlichen Interessen.
Aber öfters noch sollten wir dem Beispiel von Papst Franziskus folgen, der genau vor einem Jahr beim Angelus am Fest der Heiligen Familien den Familien einfach Applaus gespendet hat und meinte:
„Einen Applaus für die Familien, die hier sind! Und auch für alle, die von zu Haus aus dabei sind, mit dem Fernseher, mit dem Radio. Die Familie ist ein Schatz: man muss sie immer behüten und verteidigen.“
Da kann man ihm nur folgen. Wir reden von Familien heute so oft als wäre es der Problembär unserer Zeit. Wir sollten uns lieber öfters über ihre Stärke freuen, denn sie ist noch immer der Glücksfall unseres Lebens. Amen.