Wir schreiben bereits den 27. Dezember des Jahres 1734. Es ist der Dritte Weihnachtsfeiertag in der Leipziger Nicolaikirche. Nach der großartigen Eröffnung seines Weihnachtsoratoriums stellt Bach in wenigen Augenblicken den III. Teil seines musikalischen Werkes vor. Während der Eröffnung singt der Chor die eindrücklichen Worte eines Kindes:
Herrscher des Himmels, erhöre das Lallen,
lass dir die matten Gesänge gefallen,
wenn dich dein Zion mit Psalmen erhöht!
Nachdem wir vor einer Woche freudig auf das kommende Weihnachtsgeschehen eingestimmt worden sind, und der Chor uns zur adventlichen Freude aufgefordert hat, legt er uns nun die heutigen Worte selber in den Mund. Der Sänger und Hörer der Kantate ruft Gott unmittelbar zu. Er gibt sich hinein in ein kindliches Vertrauen. Und dabei sind in diesem Abschnitt der Kantate drei Auffälligkeiten, die uns zur Gotteskindschaft mahnen.
Zunächst wird Gott mit einem Hoheitstitel genannt – „Herrscher“. Der Beter erkennt an, dass nicht er das Maß der Welt und der Zeit ist, sondern dass es da noch einen gibt, der ihn übertrifft. Jemanden, der größer ist als er. Vor allem aber einer, der hoffentlich auf ihn aufpasst. Es handelt sich nicht um einen grausamen und rachsüchtigen königlichen Verwalter, vielmehr um einen Beschützer und Begleiter. Wenn ich Ihm die Ehre erweise, tue ich das nicht aus falsch verstandener Untergebenheit; denn Er macht sich ja selbst klein vor uns und für uns im adventlichen Geschehen. Und dies kann mich sprachlos machen.
Darum fleht auch derjenige, der bei Bach ruft, dass das „Lallen“, dass menschliche Stammeln erhört wird. Dabei drückt sich wieder ein kindliches Vertrauen aus. Ein Kind versucht die Wort der Eltern und das Gehörte nachzuahmen. Die ersten Lallversuche zeigen sich in den ersten 3 bis 6 Monaten nach der Geburt. Es wird versucht, sich allmählich auszudrücken und auch zu sagen: Ich bin da und gebe Antwort. Ich möchte mich mit Dir verständigen und zeigen, was ich kann. Wird ein Mensch sich seiner Gotteskindschaft bewusst, und begreift er das als ein großartiges Geschenk, kann er oft nur stauend und stammelnd daneben stehen. Auch ich darf verstummen vor Gottes Eintritt in mein Leben. Wenn Er in dieser Adventszeit in mein Herz kommen will, kann ich dieses schöne Gefühl kaum in Worte fassen. Und vielleicht schafft ein Gebet mit Worten – ob ausgesprochen oder in Gedanken – auch nicht! Ich darf auch in Stille zu Gott gehen. Das erfordert gewiss eine Form von Einübung und immer wieder einer Aufmunterung und Ermutigung. Genau dafür ist diese Gnadenzeit da: Ich darf mich selbst entdecken, wie ich zu dem sprechen mag, den ich als „Herrscher“ bezeichne. Da wird es auch keine Patentlösung geben, sondern nur eine individuelle und persönliche. Das ist es, was der Täufer Johannes in seiner strengen Mahnung ausruft: „Bereitet den Weg des Herrn! Macht gerade seine Straßen!“ [Mt 3,3cd] Suche Deinen Weg mit Gott. Integriere den Herrn in Deinen Alltag – so gut es Dir möglich ist. Wie geschieht das? Nun, dass lässt Johannes vollkommen offen, weil auch er weiß, dass jeder Mensch seine eigene Geschichte mit dem „Herrscher des Himmels“ hat.
Schließlich erwähnt Johann Sebastian Bach noch die Gesänge und Psalmen von Zion. Der Sänger der Kantate reiht sich ein in die Historie seiner Vorfahren. Das, was die Alten für Erfahrungen mit dem Glauben gesammelt haben, was in den Psalmen für unterschiedliche Erfahrungen und Emotionen liege, und was sie auch lernen mussten, kann nicht weggeworfen werden. Ich darf für mich andere Ausdrucksformen finden; soll aber das Gute nicht schlecht reden, was war. Versteht es bitte als eine Art „Genetik des Glaubens“. Eine Geschichte, die nicht abbricht, sondern stetig wachsen kann. Und dafür braucht es unbedingt mich! Ohne mein Zutun können die Erlebnisse des Menschen mit Gott nicht weitergehen! Das hat auch nichts mit einem Egoismus, sondern mit einem Ernst-Nehmen von mir selbst und meiner (Glaubens-)Geschichte zu tun. Alle Menschen, die zu Johannes kommen, um sich taufen zu lassen, lassen es zu, dass sie Verhaltensweisen und Denkmuster überdenken können. Gleichzeitig schätzen sie sich so sehr, genau im rechten Maß, dass sie überhaupt den Schritt wagen, die Taufe der Umkehr von Johannes anzunehmen. Das hängt mit einem adventlichen Mut zusammen, mit einer innerlichen und äußerlichen Vorbereitung auf das Kommen Gottes. Sie schätzen die Geschichte ihrer Vorfahren mit Gott und schreiben sie weiter. „Zion“ wird so zum Ausdruck von etwas Altbewährten, was sich neu bahnen wird.
Liebe Schwestern und Brüder in adventlicher Hoffnung!
Unsere Adventswurzel ist ein Sinnbild für dieses stetige Wachsen in dieser Adventszeit 2025. Ein guter Nährboden und eine ausreichende Pflege sorgen dafür, dass sie nicht vergeht. Die eigentliche Wurzel der Geschichte Jesu, die wir Advent nennen, beginnt mit dem, der Himmel und Erde aus Liebe bildet. Der, der die erhält und in sie hineinwirkt. Die Alten bahnen den Weg für das Kommen Gottes, weil sie ihn sehnsüchtig erwarten. Sie wurzeln in Gott und in ihrer je eigenen Geschichte mit ihm. Da ist sicher nicht alles glatt gelaufen, denn auch eine Wurzel schlägt unterschiedliche Bahnen ein. Aber sie verliert ihren Grund nicht. Sie wächst bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie aufblüht: Der Mensch beginnt wirklich zu leben mit Gott in seiner Nähe und in seiner Gegenwart. Ich habe aber gesagt, sie blüht auf. Das bedeutet nicht, dass sie am Ende der Entwicklung ist. Nur sie geht von nun an in Begleitung.
Die Wurzel ermöglicht mir den Vergleich des Glaubens über die Generationen hinweg und auch meiner eigenen Biographie. Ich kann meine Hintergrundgeschichte nicht verleugnen. Alles, was in meinem Leben war ist nicht nur ein Teil von mir, sondern gehört auch untrennbar zu mir. Das ist leider auch so, wenn es „Auswüchse“ gibt. Auch sie kommen in der Schöpfung vor. Aber sie sind auch angebunden an die gute Wurzel, die Stabilität gibt. Meine Erfahrungen mit Gott dürfen wachsen und sich weiterbilden. Sie werden sich auch nie zu Ende wissen, so lange ich lebe. Möglicherweise werde ich auch „lallen“ vor so viel Geschichte meiner Vorfahren im Glauben und meiner eigenen, wenn mir die Verantwortung bewusst wird. Ich glaube nicht nur für mich alleine, sondern auch für die nachfolgenden Generationen. Und wie stolz darf ich sein, wenn mich einmal meine Kinder und später die Enkelkinder fragen: Oma, Opa, wie war das damals eigentlich bei Deiner Firmung? Wo hast Du eigentlich in der Kirche geheiratet? Hat damals der Pfarrer auch so viel geredet in der Predigt? Mama, Papa, glaubst Du eigentlich an den lieben Gott? – Und wenn ich dann eine gute und gereifte „Wurzel“ habe, die schon viel erlebt und auch durchlitten hat im Leben, kann ich ehrlich antworten und das werden meine Kinder und Enkel merken. Weil sie spüren, dass auch ich ein Kind war, das an Weihnachten geglaubt hat; das auf Gott gewartet hat.
Darf ich Euch wieder eine kleine Adventsaufgabe mitgeben in die nächste Woche bis zum „rosa Sonntag“? – Suche doch einmal ein altes Familienalbum heraus und nimm ein Weihnachtsbild zur Hand. Und erinnere für ein paar Minuten an diese Zeit und lasse die alte Erinnerung und das Gefühl an damals wieder in der aufblühen. Das ist die Wurzel der Adventszeit, die von keiner Axt umgehauen werden kann, weil sie wahr ist und vor allem, weil sie zu Dir gehört! Johann Sebastian Bach drückt es natürlich poetischer aus, als ich es gerade getan habe. Er vertont:
Höre der Herzen frohlockendes Preisen,
wenn wir dir itzo die Ehrfurcht erweisen,
weil unsre Wohlfahrt befestiget steht!
Und ich möchte reimend am Ende meiner zweiten Predigt hinzufügen:
Advent, Advent, die zweite Kerze brennt!
Gib auch auf deine Wurzeln Acht, die Dich zu dem, was Du bist, gemacht!
Jedoch wie es weitergeht, werden wir nächste Woche sehen.
Denn bald ist es gut, wie ein Sprössling ins Bett zu gehen.
Bild: Sylvio Krüger, in: Pfarrbriefservice.de