Predigt 7. Sonntag der Osterzeit A „Ich kreise um Gott“

Liebe Schwestern und Brüder

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.

Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.

Seit meiner Abiturzeit begleitet mich dieser Text von Rainer Maria Rilke. Er stammt aus dem ersten Teil seines Stundenbuchs. Die Gedichte verarbeiten Erlebnisse und Eindrücke seiner beiden Reisen nach Russland, auf denen er auch der östlichen Spiritualität und Mystik begegnet ist. Rilke ist religiös offen und liest gerne in der Bibel, v.a. in den Psalmen, aber auch sehr distanziert gegenüber dem Christentum und den Kirchen. In Abgrenzung zu seiner Mutter, die eine romantische und gefühlsbetonte Verehrung Jesu pflegte, lehnt er den Gedanken von Jesus als dem Messias und Mittler für die Begegnung mit Gott ebenso ab wie die Kirche, obwohl er katholisch getauft ist. Er ist überzeugt, dass man Gott ganz persönlich begegnen und ihn erfahren kann, wenn man Empfindungen zulässt, die das Herz in der Tiefe berühren. Der Dichter kritisiert v.a. die große Selbstgewissheit der christlichen Lehrer und Amtsträger, die vorgeben, alles über Gott zu wissen und über ihn sagen zu können. Gerade weil er „unsagbar“ bleibt, will Rilke „Gott aus der Gerücht-Sphäre in das Gebiet unmittelbarer und täglicher Erlebbarkeit“ versetzen, wie er 1921 schreibt. Ein Leben lang wird er mit diesem „nahen und schwer fassbaren Gott“ nicht fertig sein. In seinem wohl berühmtesten Gedicht aus dem Stundenbuch strahlt eine Gottesgewissheit auf, die er in späteren Jahren nicht mehr in gleicher Sicherheit spüren wird. Zentrale Bewegung ist in beiden Strophen das Kreisen.

Die ersten vier Zeilen greifen auf eine Erfahrung zurück, die wohl viele teilen können: Wie Jahresringe legt sich die fortschreitende Zeit um den Stamm unseres Lebensbaums. Wir sammeln Trauer, Freude, Sorgen, Erfolge, Glücksmomente und Schicksalsschläge, die uns immer weiterwachsen lassen und stärker machen. Leben ist Wachsen, nicht Verlust, so die Botschaft der ersten Zeilen. Es braucht den Mut angesichts der Unsicherheit, wie viel Zeit mir gegeben ist, das Leben immer neu zu wagen und auch den letzten Ring zu versuchen, auch wenn ich nicht weiß, ob ich ihn vollbringen werde.

Die zweite Strophe ändert die Richtung. Ist das Leben in wachsenden Ringen ein Bild der Ausdehnung, so ist die Beziehung zu Gott eher ein „Einkreisen“. Ich komme von weit weg auf ihn zu und nähere mich ihm immer mehr an und erreichen ihn doch nie, wie es in der Zeitangabe „jahrtausendelang“ zum Ausdruck kommt. Der Mensch, der offen ist für das Geheimnis hinter den Dingen und der Welt, nimmt den Turm „Gott“ in den Blick. Aber dieses Kreisen ist ein ganz persönlicher Zugang zu Gott. Rilke deutet das in seiner Unsicherheit an, ob er es als Falke, also mit große Zielstrebigkeit und analytischer Genauigkeit, als Sturm, m.E. ein Bild für Ringen und Auflehnung, oder als großer Gesang, also als vertrauendes, dankendes und verherrlichendes Geschöpf, vollzieht. Gott ist nicht definierbar oder begreifbar, der Mensch kann ihn nur unmittelbar erleben als den sicheren, aber geheimnisvollen Zufluchtspunkt. Im Bild von Gott als dem Turm greift er zurück auf die Sprache der Psalmen, in denen der Beter Gott rühmt als „seine Stärke“ und bekennt: „Herr, du mein Fels, meine Burg, mein Retter, mein Gott, meine Feste, in der ich mich berge, mein Schild und sicheres Heil, meine Zuflucht.“ (Ps 18,3).

Es ist sicher kein christliches Gottesbild, das uns in den Gedanken von Rilke aufleuchtet, aber es drückt treffend aus, wie Menschen Gott erfahren: nahe und sicher wie den Turm, der Schutz bietet, aber auch

fern und entzogen, so dass die Menschheit Jahrtausende schon auf der Suche nach ihm ist und doch nur um ihn kreist, ohne ihn zu besitzen. Vielleicht ist in einer Zeit kirchlicher Verkündigung, die stereotyp vom lieben Gott redet, eine solche ehrfurchtsvolle und staunende Sprache nicht nur eine willkommene Abwechslung, sondern eine notwendige Korrektur, um die Rede von Gott noch interessant sein zu lassen. Wir haben uns in Kirche und Seelsorge sehr der Verniedlichung Gottes verschrieben, der doch nur Gutes für uns Menschen im Sinn hat. Er ist der liebe Gott, der alles gutheißt, was ich mache und wie ich bin, der immer ein Auge zudrückt und keine Forderungen stellt, sondern mich in meinen Eigenheiten und Marotten als „einmalig und unverwechselbar“ bestätigt. Manchmal erscheint mir die moderne Rede von Gott in der Kirche der Versuchung zu erliegen, ihn für eigene Interessen und Vorstellungen zu missbrauchen. Natürlich offenbart sich Gott in Jesus als die Liebe und wir können ihn mit verlässlicher Eindeutigkeit „Vater“ nennen. Er ist keine unberechenbare Schicksalsmacht, das wird auch im heutigen Evangelium deutlich, aber wir dürfen ihn auch nicht verharmlosen. Es gibt Momente in unserem Leben, die erschließen sich nicht durch die Rede vom immer lieben Gott. Manchmal wirkt er fremd und fordernd, rätselhaft und distanziert. Jeder kennt diese Schicksalsschläge, Trauererfahrungen, Enttäuschungen und Krisen voller Ratlosigkeit, in denen die beharrliche, manchmal penetrante Rede vom immer-guten Gott nichts hilft, sondern eher noch verärgert. Gotthard Fuchs, Fachmann für christliche Mystik und lange Jahre ehrenamtlicher Burgpfarrer auf Burg Rothenfels, hat treffend angemerkt: „Wenn dieser Gott derart lieb ist, wie behauptet, dass er uns pausenlos bejaht und einfach sein und machen lässt, dann ist er kein ernsthaftes Gegen-Über mehr.“ (Christ in der Gegenwart vom 2.10.2022). Von außen wird dieser Eindruck bestätigt, wenn Peter Sloterdijk, der ununterbrochene philosophisch-triviale Redefluss und Dauer-Zeitanalyst in deutschen Talkshows, meint: „Wir haben ein Problem mit Gott, weil er uns nicht mehr imponiert“ (ebd.).

Es regt sich immer mehr Widerstand gegen die banalisierende Rede von Gott und dem lieben Jesus, den ich in jedem Eichhörnchen entdecken kann. Bedeutend kann die Rede von Gott nur sein, wenn sie immer auf das endgültige „Woher und Wohin des Leben“ und der Schöpfung verweist . Die Rede von Gott, so das heutige Verständnis, muss wieder mehr Frage als Antwort sein. Das schließt an das heutige Evangelium an, das uns nochmals in den Abendmahlsaal führt und uns das zusammenfassende Gebet am Ende der Abschiedsreden hören lässt. Auch Jesus redet annähernd, ja kreisend vom letzten Geheimnis Gottes. Er ist nahe, wie es in der eindeutigen Bezeichnung als Vater durch Jesus zum Ausdruck kommt, aber eben auch Geheimnis, das verherrlicht werden will, weil sich in ihm die Quelle des ewigen Lebens ausschüttet. Gott schenkt nicht einmal nach dem Tod das ewige Leben, es beginnt schon jetzt, wenn wir Jesus als Wort und Bild des Vaters erkennen und bekennen. Das Johannesevangelium setzt ein mit dem Herabsteigen des Gottessohnes in seiner Menschwerdung, wie es der Prolog entfaltet, es zielt aber ab auf die Erhöhung des Gottessohnes am Kreuz, weil sich dort die bedingungslose Liebe Gottes offenbart, die er dann endgültig in der Auferstehung bestätigt. In Jesus, so das Johannesevangelium, begegnet uns nicht nur ein guter Mensch, der menschlicher Bosheit zum Opfer fällt, dann aber von Gott gerettet wird, sondern der Gesandte Gottes, der in die menschliche Zeit kommt und uns fähig macht für seine Ewigkeit. Darauf zielt alles ab. Es ist gut, dass unser Glauben auch eine Lebenshilfe ist, aber darin erschöpft er sich nicht. Er ist unser Weg zur endgültigen Erhöhung über den Tod hinaus. Unser Gottes ist mehr als Wellness für die Seele, er ist der Blick in die Zukunft, die uns erwartet, auch wenn sie uns hier noch rätselhaft und geheimnisvoll erscheint.

Unsere Beziehung zu Gott hat den Glauben als festes Fundament, der uns die Tür zum ewigen Leben öffnet, aber sie ist durchaus wechselhaft geprägt. Manchmal darf ich Gott sehr nahe empfinden, mich sicher und geborgen fühlen wie in einem Turm, der mich beschützt in den Stürmen des Lebens. Manchmal bin ich selbst zielstrebig zu ihm unterwegs wie der Falke in Rilkes Gedicht, lehne mich stürmisch gegen seinen Willen auf, den ich nicht verstehe, immer aber bin ich auch der beschenkte Mensch, der dankbar selbst zum Gesang werden darf, weil er in Gott die Antwort auf die Frage nach dem letzten Woher und Wohin findet. Amen

Sven Johannsen, Pfarrer

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