Predigt 17. Sonntag Jahreskreis A
„Der Fromme von morgen wird ein Mystiker sein…“
Liebe Schwestern und Brüder
An guten Ratschlägen für Veränderungen in den kirchlichen Strukturen mangelt es dem Papst und den Bischöfen sicher nicht.
Kein Tag vergeht, an dem nicht kritische Analysen der augenblicklichen Situation der katholischen Kirche veröffentlicht werden und Theologen, Journalisten oder Experten anderer Fachrichtungen kluge Perspektiven aufzeichnen für Strategien, die allein noch die Kirche retten können: Priesterweihe von Frauen, Freigabe der Zölibatsverpflichtung, weniger Hierarchie und mehr Synodalität, Anpassung an gesellschaftliche Gegebenheiten und Respekt vor der Individualität der Menschen und ihrer Lebensentwürfe, ein neuer Umgang mit wiederverheiratet Geschiedenen, queeren Menschen und v.a. die Einbeziehung von Frauen in die großen Entscheidungen. Ohne Zweifel stehen viele von diesen Herausforderungen an, dringend umgesetzt zu werden. Aber ich werde den Verdacht nicht los, dass sich dann die Krise der Kirche und des Glaubens nicht auflösen wird. Der Verweis darauf, dass viele von diesen Forderungen in der evangelischen Kirche umgesetzt sind, aber auch dort die Flucht der Kirchenmitglieder ungebremst anhält, kann nicht heißen, dass wir nichts ändern müssen, aber er bremst die Hoffnung, dass wir so wieder in die „guten alten Zeiten“ der Volkskirche zurückkehren. Viele Veränderungen von Strukturen sind notwendig, aber sie führen nicht zurück in volle Kirchen, sondern helfen der Kirche im Idealfall, nicht den Anschluss an die Menschen und die Zeit zu verpassen.
Was wirklich nottut, sind mehr als Veränderungen in Fragen der Macht und der Disziplin. Wesentlich wird es um die Art des Glaubens gehen, die über die Zukunft von Kirche entscheidet. Eingebrannt in das Gedächtnis der Kirche nach dem Vatikanum II hat sich eine weitsichtige Vorhersage des großen Theologen Karl Rahner. Rahner schrieb ihn im Jahr 1966 in der Zeitschrift „Geist und Leben“ in einem mit „Frömmigkeit heute und morgen“ überschriebenen Artikel. „Der Fromme von morgen wird ein ‚Mystiker‘ sein, einer, der etwas ‚erfahren‘ hat, oder er wird nicht mehr sein“ (vgl. Frömmigkeit heute und morgen, Geist und Leben 39.5 [1966] 335).
Rahner nennt es eine Binsenweisheit, dass die christliche Frömmigkeit nur in einem persönlichen Verhältnis zu Gott bestehen kann. Die persönliche Erfahrung nennt Rahner „Mystik“.
Ich kann gut verstehen, dass die meisten Gemeindemitglieder mit dem Begriff nur wenig anfangen können. Manchem kommen dabei die großen Mystikerinnen und Mystiker des Mittelalters und der Neuzeit in den Sinn: Teresa von Avila, Meister Eckhart, Hildegard von Bingen, Gertrud von Helfta oder Johannes vom Kreuz. Vielleicht weitet sich der Kreis noch auf evangelische Mystiker wie Gerhard Tersteegen, die jüdische Mystik der Kabbala und den islamischen Sufismus, aber immer beschränkt sich der Kreis auf eine scheinbar begnadete Sondergruppe. Der „normale“ Zeitgenosse wird „Mystik“ eher mit modernen „Mystery“ – Serien in Verbindung bringen, in denen Vampire, Dämonen und übernatürliche Kräfte am Werk sind, Menschen durch die Zeit reisen, v.a. Bilder in Grau- und Blautönen in geheimnisvolle Welten entführen und regelmäßig Gänsehaut erregen. „Mystik“ klingt für viele Menschen esoterisch und abgehoben. Karl Rahner zielte mit seiner Aufforderung nicht darauf ab, religiöse Eliten zu puschen oder den Glauben auf einer Ebene des Rätselhaften und Irrationale anzusiedeln. Für ihn ist „Mystik“ eine Grundeigenschaft aller glaubenden Menschen, die erst eine persönliche Begegnung mit Gott möglich macht. Wir sind letztlich alle ausgestattet mit der Fähigkeit zur Mystik, aber nicht jeder entfaltet diese Anlage. „Das Wort Mystik lässt sich auch mit „geheimnisvoll“ oder „Mund oder Augen schließen“ übersetzen. Christliche Mystik bedeutet im Wesentlichen das Abschalten von Kopf, Herz und Hand. Wer Mystik praktiziert, will loslassen von festgefahrenen Dogmen und Lehren und nicht den Weg des Verstandes, sondern den des Herzens, also des Gefühls, gehen.“ (Annika Erb „Mystik“ in: https://www.herder.de/religion-spiritualitaet/spiritualitaet/mystik/)
Diese Definition entspricht einer Diagnose modernen Christseins. Tatsächlich nimmt das Interesse an der Theorie des Glaubens ab, die Diskussionen um dogmatische Themen nehmen im Leben einer Gemeinde keinen großen Raum ein und auch im schulischen Religionsunterricht sind die „existenziellen“ Themen wie „Versöhnung“, „Frieden“, „Lebenssinn“ gegenüber den Sequenzen, in denen reine Fakten über Biblische Themen oder Kirchen-geschichte vermittelt werden, deutlich höher in der Skala der Beliebtheit und des Engagements angeordnet. Wer heute die Jakobsgeschichte vermitteln will, muss auch mit Schülerinnen und Schülern über die eigenen Ängste vor dem Alleinsein reden. In den Gemeinden wird der Wunsch nach „berührender“ Liturgie immer größer. Die großen Orchestermessen mögen beeindrucken, bewegen aber eher wenige zu einer Intensivierung des eigenen Glaubens. Anders ist das in Feiern, in denen die Texte der Lieder, die Musik, das persönliche Zeugnis und die Anknüpfung zu meinen eigenen Lebenserfahrungen mich ansprechen. Das gilt für jede Altersgruppe. Es muss nachdenklich machen, dass im Blick auf junge Menschen und Glauben von einer „Generation Lobpreis“ gesprochen wird. Gebetsgruppen und Angebote wie „Night Fever“ ziehen zurzeit weit mehr junge Menschen an als die kirchlichen Jugendverbände mit ihrer Konzentration auf politische Themen und innerkirchliche Debatten. Menschen wollen heute zur Ruhe kommen, zur Mitte finden und Gott begegnen. Mystik kann helfen, den „ungreifbaren Gott greifbar zu machen.“ Ich bin überzeugt, dass diese Verlagerung des spirituellen Schwerpunkt seine Wurzeln in einer immer säkularer auftretenden Institution Kirche und einer Welt, die Logik und Vernunft zum höchsten Gesetz erhoben und den Raum für Erfahrungen, die das Denken überschreiten, verschlossen haben.
Das heutige Evangelium bringt die Sehnsucht nach einem erfahrbaren Glauben und einer Beziehung zum nahen Gott in zwei ausdrucksstarke Bilder: Das Finden eines Schatzes und der Erwerb einer wertvollen Perle. Die beiden Menschen, die uns im Gleichnis entgegentreten, sind keine cleveren Geschäftsleute oder ehrgeizige Schatzsucher. Sie stoßen auf ihren Schatz und ihre Perle. Sie haben weder Karte noch Katalog in Händen. Plötzlich öffnet sich die Tür zu dem, was sie schon immer gesucht haben: Der Schatz des Glaubens und die Perle der Gottesbeziehung.
Mystische Erfahrungen macht man nicht, sie werden einem zuteil. Aber wie der junge König Salomo können wir um ein „hörendes Herz“ bitten als Voraussetzung, diese Erfahrung wahrnehmen zu können.
Sicher ist ein regelmäßiges Gebetsleben, in dem ich die intensive Beziehung zu Gott sucht, eine große Hilfe, aber nicht die Garantie für solche Erfahrungen. Gebet, Stille, Achtsamkeit zwingen Gott nicht an den Gesprächstisch, aber sie helfen mir, mein Herz hörend werden zu lassen. Der Apostel Paulus macht seine Christuserfahrung nicht in einer Gebetszeit in der Abgeschiedenheit, sondern auf einer Hetzjagd nach Damaskus voller frommen Übereifer und blindem Hass gegen die ersten Jüngerinnen und Jünger Jesu. Er macht eine Erfahrung, die wir die Bekehrung des Paulus nennen, die aber letztlich ein Hören ist. Mystik ist keineswegs reine Harmonie und Glückseligkeit. Sie kann, das wissen wir von der Heiligen Teresa von Avila, durchaus auch voller Dramatik, Streit und innerer Unruhe sein. Paulus wird blind und dennoch geht ihm ein Licht auf. Erst nach dem Schrecken kommt er zum Nachdenken und deutet diese Erfahrung als Begegnung mit dem österlichen Christus. Es gibt nicht die eine Form, in der diese Erfahrung Gottes geschehen „muss“. Es gilt auch hier, was Papst Benedikt noch in seiner Zeit als Kardinal äußerte: „Es gibt so viele Wege zu Gott, wie es Menschen gibt.“ Aber immer braucht es die Bereitschaft, das hörende Herz, tiefer die Wirklichkeit anzuschauen und Botschaften aus dem Selbstverständlichen herauszuhören.
Mystiker ist nicht nur der, dem eine besondere Gottesschau zuteilwird, sondern jeder, der eine Erfahrung mit Gott macht, die auch in unserem Alltag möglich ist:
- Gott spricht zu uns durch andere Menschen, durch das Stillwerden im Gebet, v.a. in der Anbetung, und durch Worte der Heiligen Schrift.
- Es gibt die Form des Herzensgebetes, in dem durch Wiederholen der Worte „Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner“ die Beziehung zu Gott verinnerlicht wird.
- Klöster, Kirchen, Liturgien und Musik können eine Tiefendimension in mir öffnen, wenn ich selbst wirklich zur Ruhe komme und mich einlasse auf Zeit, Raum und Geschehen.
Mit Kindern in der Grundschule singen wir ein Lied von Gregor Linßen, das sehr beliebt ist: „Wagt euch zu den Ufern“. Im Text heißt es:
1) Du bist das Feuer, das den Dornbusch nicht verbrennt. / Du bist die Stimme, die uns beim Namen nennt. /
Du bist der, der das Meer zerteilt, / und schützend uns umgibt, / unsere Hoffnung siegt im Bund mit dir!
2) Du bist das Wasser, das den harten Stein entspringt. / Du bist in Brot und Wein, die Kraft, die uns durchdringt. / Du bist der, der die Fesseln sprengt, / der uns von Tod erweckt, / unser Glaube zählt im Bund mit dir.
3) Du bist die Wolke, die uns durch Wüsten führt. / Du bist die Ewigkeit, die uns im Traum berührt. / Du bist der, der die Liebe lehrt, / der Geist, der uns beseelt, / unser Leben zählt im Bund mit dir.
Es sind einfache Bilder von Elementen, die wir alle schon erlebt, erfahren oder beobachtet haben: Feuer, Stimme, Wasser, Brot und Wein, Wolke. Sie alle werden in der Bibel zu Orten der Offenbarung Gottes. Die Ursymbole des Lebens öffnen für uns einen Zugang zum Urgrund des Lebens, wenn wir sie richtig anschauen und mit einem hörenden und sehenden Herzen uns ihnen nähern. Dann aber werden sie zu einer Erfahrung, die unseren Glauben, unsere Liebe und unsere Hoffnung stark machen. Wenn das Äußere, unsere Welt und Umwelt, sich mit dem Inneren, unserer Sehnsucht nach Leben in Fülle, verbindet, dann geschieht eine mystische Erfahrung, die Logik und Vernunft nicht erklären können, aber die wir deuten dürfen als Begegnung mit dem Gott des Lebens. Amen. Sven Johannsen, Lohr