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Predigt 2. Sonntag Osterzeit „Verwundbare Osterzeugen“

Predigt „Verwundbare Osterzeugen“

2. Sonntag der Osterzeit

Liebe Schwestern und Brüder

Wären Sie bereit, für jemanden anderen unerträgliche Schmerzen auf sich zu nehmen? Würde wir so auf der Straße gefragt werden, werden die meisten von uns kaum mit „Ja“ antworten. Aber genau dieses Ja hat jede Frau gesagt, die ein Kind zur Welt bringt. Diese These führt die Würzburger Theologin Hildegund Keul wiederholt in ihren Vorträge aus. (vgl. Stephan Langer „Wir Verwundbaren“ in Christ in der Gegenwart 20/2022). Seit einigen Jahren stellt die Fundamentaltheologin die Frage nach der Verwundbarkeit des Menschen ins Zentrum ihres Arbeitens und ihrer Veröffentlichungen (Keul, Hildegund: Verwundbar sein. Vulnerabilität und die Kostbarkeit des Lebens. – Ostfildern: Matthias Grünewald 2021).

Der Mensch scheint durch Wissen und Kraft unendlich stark, wirkt durch Fitness und Sport gestählt und unverwüstlich und versucht durch medizinische Fortschritte sich unsterblich zu machen. Andererseits erleben wir uns und Menschen, die uns nahestehend, als sehr verletzlich. Mit der Corona-Pandemie wurde die Erfahrung der Verwundbarkeit in meinen Augen für den Menschen zur großen Erschütterung unseres Fortschrittsoptimismus. Wir mussten erleben, wie die Menschheit weltweit lange ohnmächtig einem tödlichen Virus ausgeliefert war, das wahllos seine Opfer suchte. Es gab natürlich Gruppen von Menschen, die als vulnerabel galten, und die deshalb auch in besonderer Weise geschützt wurde. Aber die Wunde der Krankheit und der Sterblichkeit konnte sich in jedem von uns entzünden. Es erschreckt heute noch zurückzudenken, wie viele Menschen, die wir kannten, so den Tod fanden, und zu sehen, wie viele heute noch unter den Folgen leiden. Aber nicht nur die eigene Verletzlichkeit ist uns neu bewusst geworden, sondern auch die Bereitschaft von Menschen, für andere sich der Gefahr des Leidens zu unterwerfen. maßgeblich verkörpert in den medizinischen Berufen, aber auch in Seelsorgerinnen und Seelsorger. Keul bezeichnet diese Haltung als „Verschwendungspraxis“ und sieht darin das Grundprinzip des Lebens überhaupt: „Wir nehmen Lebensrisiken auf uns, um Lebensgewinne zu erreichen.“ (ebd.)

Ich erkennen darin eine neue Haltung im Blick auf den Wert und die Würde des Lebens, die nicht reserviert ist für religiöse Menschen, sondern seit einige Jahren immer mehr Menschen bewusst fragen lässt, wofür es zu leben gilt und was das Leben reicher macht. „Lebensgewinne“ waren in den „unbeschwerten Zeiten“, in denen wir uns nicht allzu viel Sorgen machen mussten, obwohl im sog. Kalten Krieg die atomare Bedrohung nicht weniger besorgniserregend war als in unseren Tagen, v.a. die Sehnsucht, möglichst viel mitzunehmen. Ich will keine Abwertung vornehmen, aber vom „Leben etwas haben“ wollten viele, die ihr kleines Häuschen bauten, auf ein Auto sparten oder es sich einfach gönnten, einmal in die fernsten Länder zu reisen. Das war nicht verwerflich und ich gönne es heute noch jedem. In unserer Zeit sind diese verständlichen Wünsche aber nicht mehr ohne Gewissensbisse verwirklichbar: Kann ich in den Urlaub reisen angesichts des Klimawandels, ein Haus bauen, das wieder freie grüne Flächen beseitigt, ein eigenes Auto fahren, wenn es Gebot der Stunde ist, auf den CO2-Ausstoß zu achten? Wir machen uns heute viel mehr Gedanken, weil wir sehen, wie verletzlich wir, die Menschheit und die Schöpfung geworden sind. Das ist nicht gut, aber sinnvoll. Gedankenloser Konsum und Verbrauch können nicht dem Fortschritt einer vernunftbegabten Menschheit dienen. Verbunden damit sehe ich auch die Angst im Menschen stärker werden. Sie macht den Menschen noch verletzlicher und verwundbarer, v.a. für Bedrängnisse der Seele. Es braucht keine Statistiken, um festzustellen, dass die Verwundungen der Seele immer mehr Menschen leiden und nach Hilfe schreien lässt.

Sie mögen mir widersprechen. Ich denke auch, dass viele Menschen sich vom Wunsch, das Leben in Feiern und Spaß auszukosten und Sorglosigkeit zu finden, versuchen lassen. Dennoch glaube ich, dass die Menschheit in den letzten Jahren ernster, dünnhäutiger und zerbrechlicher geworden ist. Menschen sind zu jeder Zeit mit der Angst konfrontiert, an Seele, im Herzen oder am Körper verletzt zu werden, durch Gewalt, Enttäuschung, Depression, Einsamkeit, Trennung, Mobbing, Überforderung, Krankheit u.v.m.

Ist das jetzt nicht die Zeit der Osterbotschaft? Sie feiert doch den Sieg des Lebens über die Wunden des Todes? Müsste nicht eine verwundete Menschheit offen sein für diese Hoffnung?

Ja und Nein. Zum einen befürchte ich, dass mit der steigenden Verletzlichkeit des Menschen auch sein Misstrauen gestiegen ist gegen alle „Heilmittel“. Eine österliche Verkündigung, die nur triumphal die Auferstehung feiert und den Karfreitag übergeht, wird den Menschen nicht dort treffen, wo er sich gerade hingeworfen sieht: in einer vom Tod bedrohten Schöpfung. Zum anderen aber sind Wunden und die Frage nach dem Wert des Lebens von Anfang an Kernthemen des christlichen Glaubens: Gott hat sich verwundbar gemacht. Er wurde in Jesus durch Maria Mensch und er geht genau den Weg, den die Eingangsfrage für viele unvorstellbar erscheinen lässt. Der gewaltvolle Tod am Kreuz macht das Wunder der Auferstehung erst zur Hoffnungsbotschaft. Wäre Jesus als alter Mensch nach Pflegebedürftigkeit und Schwäche gestorben, so dass wir heute sagen könnten, dass sein Sterben eine Erlösung war, wie hätte die Botschaft von der Auferstehung nach drei Tagen so zum Trost und zur Hoffnung für Menschen werden können, die die Verwundbarkeit des Lebens selbst oder im eigenen Umfeld erfahren haben?

Die österlichen Wunden, die Jesus heute Thomas zeigt, vertrösten nicht und machen nicht ungeschehen, was ein Mensch rtlitten hat, sondern zeigen, dass es Heilung für die Lebenswunden gibt. Der Auferstandener bleibt immer der „Mitleidende“. Er versteckt seine Wunden nicht, sondern lässt sie Teil seines österlichen Lebens sein. Menschen können in die Gefahr geraten, sich gegen Verletzungen zu schützen, in dem sie andere verletzen. Jesus aber zeigt gerade auch im heutigen Evangelium eine österliche Lebensweise: Wunden gehören zu unserem Leben, wir können uns nicht gänzlich schützen, aber sie besitzen nicht unser Leben. Es wäre eine fatale Annahme, dass Gott von uns will, dass wir leiden, um „himmelsfähig“ zu werden. Er schickt weder Krankheiten noch Schicksalsschläge als Strafen oder Erprobungen. Der Mensch kann in ihnen Prüfungen seiner Geduld und Treue sehen, aber Gott testet nicht, er nimmt unsere Verletzlichkeit an, dass wir uns wie Thomas lösen aus Misstrauen ihm gegenüber und das Leben wagen ohne Furcht.

Der Auferstandene, der heute auch uns erscheint, riskiert das Leben, um es für uns zu gewinnen. Ich bin überzeugt, dass jeder von uns Menschen kennt, für die er alles im Leben wagen würde, damit es ihnen gut geht und sie beschützt sind. Es gehört zu unserem Wesen, dafür auch Leiden auf uns zu nehmen. Denken wir an die Mutter, die ihr Kind zur Welt bringt. Wir sind oft mit der Versuchung konfrontiert, Bedrängnissen aus dem Weg zu gehen, weil das Leben so einfacher erscheint. Ostern ist so nüchtern, dass es nicht die Uhren zurückdreht, sondern einen Neuanfang setzen kann trotz allem, was geschehen ist. Thomas muss noch lange ringen mit dem Karfreitag, aber er kann das Spitzenbekenntnis wagen: „Mein Herr und mein Gott.“ Vielleicht wäre er auch schon zum Glauben gekommen, wenn die Jünger sich nicht weiterhin aus Furcht eingeschlossen hätten. Sie haben ihre Angst nicht überwunden und können noch nicht aus dem Geist leben, den Jesus ihnen zusagt. Nicht nur Thomas erscheint mir als Zweifler, sondern auch die Jünger, die ihr „eigenes Glück“ nicht glauben können und weitermachen wie zuvor.

Einer verletzlichen Menschheit die Botschaft vom Sieg des Lebens zu verkünden braucht Zeuginnen und Zeugen, die die eigenen Verwundungen nicht verstecken, aber erzählen können, wie sie Heilung gefunden haben aus Zweifel und Angst durch die Begegnung mit dem Auferstandenen. Trotz aller Wunden und Verletzungen haben wir das Leben gewonnen, weil wir es wagen können, uns dem Auferstandenen anzuvertrauen und zu bekennen:

Mein Herr und mein Gott.

Sven Johannsen, Pfr.

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