Predigt 22. Sonntag – „Über allen Gipfeln ist…“

Liebe Schwestern und Brüder

 

„Über allen Gipfel ist“ … alles andere als Ruh.

Seit einigen Monaten tobt es im wahrsten Sinne des Wortes auf höchsten Höhen. Der italienische Alpenverein will die 327 Kreuze auf den Gipfeln der italienischen Alpen entfernen, so jedenfalls wurde es in der breiten Öffentlichkeit nicht zuletzt durch Minister der aktuellen Regierung in Rom voller Empörung als Skandalnachricht verbreitet.

Stellen Sie sich das vor: Kein Kreuz mehr auf dem Ortler, dem Piz Palü, der Königsspitze oder dem Gran Paradiso – der Untergang des christlichen Abendlands beginnt auf den Höhen des katholischen Italiens. Nur nebenbei bemerkt: Auf dem Gran Paradiso steht m.W. kein Gipfelkreuz. Der höchste Punkt Italiens gehört der weißen Madonna, die von Bergsteigern nach Erreichen des Gipfels umarmt und dann in Selfies verewigt wird. Es ist in Italien nicht davon auszugehen, dass man auch die Mutter Gottes von den Bergen vertreibt. Da dann hört für jeden guten Christen im Land, wo die Zitronen blühen, der Spaß auf. Aber warum will der Club Alpino Italiano die Kreuze auf den Gipfeln stürmen?

Will er eigentlich gar nicht. Ausgangspunkt war eine Veranstaltung an der katholischen Universität Mailand, auf der ein neues Buch des CAI vorgestellt wurde. Im Laufe des Abends äußerte Marco Albino Ferrari, Medienchef des Club Alpino Italiano (CAI), Gipfelkreuze sollten gepflegt und hergerichtet, aber nicht neu aufgestellt werden. Die Berge sollten weltanschaulich neutral für jedermann sein. Danach brach der Sturm los. Der Kulturbeauftragte des Südtiroler Schützenbundes, Martin Robatscher, reagierte schnell und kündigte harten Widerstand an mit der Stellungnahme: „Wir lassen uns nicht unsere Traditionen und unser religiöses und kulturelles Brauchtum nehmen“, das schließe Gipfelkreuze ein. Richtig drehte der italienische Verkehrsminister, Matteo Salvini, der ja auch Vorsitzender der rechtsgerichteten Lega ist, auf und drohte, dass man Gipfelkreuze nur über seine Leiche abmontieren wird. Es kam wie es kommen musste. Am Ende trat nicht nur der Mediensprecher Ferrari zurück, auch der der Vorsitzende des Alpenvereins entschuldigte sich bei der Tourismusministerin, allen Italienern, Gott und wahrscheinlich bei der Gottesmutter und versicherte, dass man keine Pläne habe, Kreuze abzuschaffen.

Und nun gilt doch wieder: „Über allen Gipfeln ist Ruh.“ Nicht ganz. Die Diskussion schwappte über den Brenner und wurde von den Medien in Österreich und Deutschland aufgegriffen. So stellt sich auch nördlich der Alpen die Gretchenfrage für die beiden Alpenverein: „Sag, wie hältst du’s mit der Religion?“ oder besser: „Was soll mit den Kreuzen auf der Zugspitze, Benediktenwand oder dem Geigelstein in den Chiemgauer Alpen geschehen?“ Der deutsche Alpenverein weiß gar nicht, wie viele Gipfelkreuze es in unserem Land gibt. Die Österreicher zählen rund 4000. Es stellte sich in der Diskussion heraus, dass beide Alpenvereine schon in den achtziger Jahren beschlossen hatten, keine Gipfelkreuze mehr aufzustellen, aber sich faktisch nicht daran halten. Erst in diesem Jahr wurde ein neues Kreuz auf der Benediktenwand aufgestellt, das wie seine Vorgänger von 1877 und 1956 per Muskelkraft auf die Höhe von über 1800 Meter gebracht wurde. Eine Diskussion über das Kreuz, so ist es im Magazin des Alpenvereins zu lesen, gab es zu keinem Zeitpunkt.

Tatsächlich hält man sich bei der Aufstellung von neuen Kreuzen zurück, wenn es an diesem Platz noch keine Vorgänger gab, aber überall dort, wo ein Kreuz stand, wird es erneuert oder gegebenenfalls durch ein neues ersetzt. Auch wenn in Schulen und Gerichten die Kreuze runter müssen, die Lufthoheit über Bayern, Österreich und Italien hat das christliche Identitätsmerkmal weiterhin inne. Das garantiert uns auch die CSU. Kein wichtiger Politiker hat es unterlassen, ein eindeutiges Bekenntnis zu den Kreuzen auf Bayerns Bergen zu veröffentlichen. Allen voran der Ministerpräsident Markus Söder, der sich eindeutig positionierte: „Es ist mir unverständlich und ehrlicherweise auch unerträglich, sollten wir auf den Gipfeln die Kreuze abbauen.“
Aber warum gibt es überhaupt diese Forderung nach „kreuzfreien“ Gipfeln? Selbst wenn ich nicht christlich bin, muss ich doch eingestehen, dass es nach Besteigen eines Berges wohl kein besseres Fotomotiv gibt als den Platz unter dem Gipfelkreuz? Der König der Achttausender, Reinhold Messner, hält dagegen und meint, dass keiner das Recht habe, „den Bergen seinen Hut aufzusetzen.“ Ihm sind die Berge heilig und brauchen daher kein Symbol, mit dem sie eine Religion in Besitz nimmt. Auch er will keine Demontage von Kreuzen, aber für ihn ist es schon eine Manie, auf jedem Berg ein Kreuz aufzustellen. Wie Messner sehen immer mehr Bergsteiger und Wanderer im Kreuz ein Zeichen der Ausgrenzung und unerlaubten Inbesitznahme der Berge, die allen gehören, durch die christliche Religion.

Das Kreuz ist unser Symbol. Es lässt in den Augen der meisten Menschen keine andere Deutung zu als die Identifikation mit dem Glauben an Jesus Christus, der gekreuzigt und begraben wurde und am dritten Tag von den Toten auferstand. Unsere Religion ist un mit dem Kreuz als Alleinstellungsmerkmal verbunden. Ich habe schon am Karfreitag darauf hingewiesen, dass das nicht von Anfang an so war. Die frühen Christen taten sich sich schwer mit dem Kreuz. Sie hatten andere Zeichen wie den Fisch. Das Kreuz war im Denken des römischen Reiches zu sehr festgelegt auf einen Verbrechertod, um sofort zum Symbol des Glaubens an Jesus aufzusteigen. Christen mussten sich erst damit versöhnen. Darauf weist auch das heutige Evangelium hin, in dem wir die erste Leidensankündigung Jesu auf seinem Weg nach Jerusalem hören. Zwar überliefert Matthäus keinen expliziten Hinweis Jesu darauf, dass sein Weg am Kreuz enden wird, doch wir können aus der stichwortartigen Zusammenfassung und der entsetzten Reaktion des Petrus schließen, dass der Herr genau dies seinen Jüngern aufgezeigt hat. Dass die Lage sich in Jerusalem zuspitzen wird, dürfte den Jüngern klar gewesen sein. Auch war ihnen aus ihrer jüdischen Tradition nicht fremd, dass der Gerechte, der Gottesknecht oder Prophet zum Opfer von Gewalt wird. Aber diese Todesart löste Entsetzen aus. Petrus, der noch wenige Zeilen ganz im Einklang mit Gottes Willen stand und Jesus als den Sohn Gottes bekannte, stößt jetzt an menschliche Grenzen des Verstehens und will diesen Tod so nicht akzeptieren. Das passt für ihn nicht zusammen mit dem Glauben an Jesus als den Messias. Petrus ist für Matthäus immer Identifikationsfigur und Modell des glaubenden Menschen. Daher ist die Szene mehr als ein kritischer Punkt in einer engen Freundschaft. Der Evangelist zeigt auf, dass der, der sich zu Jesus als dem Messias bekennt, auch seinen Platz kennen muss, nämlich hinter ihm. Am Ufer des Sees hat Jesus dem Petrus diesen Platz gewiesen: „Hinter mir her.“ Jetzt auf dem Weg nach Jerusalem ruft er ihm diesen Schlüsselmoment in Erinnerung: „Hinter mich!“ Es geht nicht um eine Bloßstellung des Petrus, sondern um einen klare Ansage für die Nachfolge: „Am Kreuz kommt ein Christ nicht vorbei!“ Die frühen Christen mussten über das Werkzeug der Hinrichtung und das Schandmal eines Verbrechers einen neuen Zugang zum Kreuz finden. Paulus lässt uns an diesem Weg teilhaben, wenn er am Anfang seines ersten Briefs an die Korinther schreibt: „Die Juden fordern Zeichen, die Griechen suchen Weisheit. Wir dagegen verkündigen Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein empörendes Ärgernis, für Heiden eine Torheit, für die Berufenen aber, Juden wie Griechen, Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit.“ (1Kor 1,23). Es brauchte Zeit bis die frühen Christen im Kreuz, dem Zeichen des Ärgernisses und der Verwerfung, die Bestätigung Jesu als Sohn Gottes und Herrn der Welt erkennen konnten. Dann aber hat das Kreuz seinen Siegeszug in vielfältigen Motiven und Entfaltungen angetreten.
Vielleicht ist es angesichts der Debatte um Kreuze auf den Gipfeln wichtig, diese Suche nach Deutung fortzusetzen. Die Berge sind nicht christliches Hoheitsgebiet, v.a. angesichts der Tatsache, dass in Europa der christliche Glaube auf dem Rückzug ist. Es wäre mir auch zu wenig, Kreuze einfach als Erinnerung an die abendländische Kultur zu verteidigen, also an eine Geschichte, die einmal war ohne dass sie heute noch Wirkung hätte. Immer noch ist das Kreuz Zeichen meines und unseres Glaubens, der Vergangenheit hat, aber v.a. die Gegenwart prägen und die Zukunft retten soll.

Das Kreuz ist Bekenntnis zu Jesus als dem Gekreuzigten und Auferstandenen. Das können wir nicht verschweigen, auch wenn es damit zum Ärgernis in Schulen, Gerichten und auf Berggipfeln wird. Aber es deckt so auch eine große Bandbreite an Deutungen ab, die auch zum Impuls werden können für Menschen, die nicht christlich sind.

So erinnert uns Papst Franziskus häufig daran, dass wir in einer verwundeten Schöpfung leben, der nicht zuletzt menschlicher Egoismus und Habgier immer neu Kreuze auferlegen. Gerade auf den Höhen, wo alles so unbeschwert und paradiesisch erscheint, gehört es zur Verantwortung des Menschen, sich bewusst zu werden, wie bedroht diese Welt mit all ihren Schönheiten ist. Wenn sich vor uns das Panorama der Gipfel der Voralpen ausbreitet, wir gleichsam über den Wolken stehen, dann gehört es zu unserem Wesen als Mitgeschöpf, dass wir nicht vergessen, was Paulus sagt: „Auch die Schöpfung soll von der Sklaverei und Verlorenheit befreit werden zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes.“ (Röm 8,21) Das Kreuz mahnt jeden Menschen, der sich an der Schönheit der Schöpfung freut, zum Einsatz, sie zu bewahren und Schaden von ihr abzuwenden.

Zugleich erinnert uns das Kreuz durch seine Form an die prägende Wesensmerkmale des Menschseins. Wir sind nicht allein auf uns bezogen. Die horizontale Linie des Kreuzes zeigt, dass wir immer in Verbindung mit allen Menschen stehen, die als Kinder Gottes auch Erben der Verheißung sind. Die vertikale Linie mahnt uns unserer Verantwortung vor dem Schöpfer nicht zu vergessen.

In diesem Sinn hat Kardinal Christoph Schönborn einmal auf eine Forderung von Reinhold Messner reagiert, der vor einigen Jahren nach einer Welle von Akten des Vandalismus gegen Gipfelkreuze forderte: „„Das Kreuz ist das christliche Symbol schlechthin. Die Gipfel aber, die doch der ganzen Menschheit gehören, sollen nicht mit dieser einen Weltanschauung besetzt werden“. Der Erzbischof von Wien hielt dagegen:

Gegenfrage: Haben wir die Berge erschaffen? Sind wir die Eigentümer dieser Welt? Gerade heute tut es uns gut, an den Schöpfer erinnert zu werden. Wem verdanken wir die Schönheit der Berge? Und wem die Kraft, sie zu besteigen? Ist es nicht eine Freude, am Gipfel des Berges dem Schöpfer zu danken? Das wussten unsere Vorfahren, die die Gipfelkreuze errichtet haben. Sind wir so viel gescheiter geworden als sie?“ www.erzdioezese-wien.at/site/home/nachrichten/article/52066.html

Diese Sichtweise hat heute noch Gültigkeit und hilft uns, unseren Platz in der Schöpfung zu finden. Das Identitätsmerkmal des christlichen Glaubens hat die Kraft, allen Menschen etwas zu sagen und sie einzuladen zu einem verantwortungsvollen und demütigen Umgang mit der Schöpfung.

Kreuze müssen nicht ausschließen. Es gibt wunderbare Gipfelkreuze, die den. o.g. Charakter der Einladung ausdrücken. Das fast 30 Meter hohe Jakobskreuz auf dem Gipfel der Buchensteinwand ist begehbar und lässt seine Besucher tiefe Einblicke in die faszinierende Bergwelt gewinnen. Auf dem kleinen Gilfert (2.380 m) in den Tuxer Alpen steht seit einigen Jahren ein neues Gipfelkreuz, das von Häftlingen errichtet wurde. Es wird umgeben von Tafeln mit Symbolen und Botschaften aller Weltreligionen. Auf der Schartwand im Tennegebirge steht das erste gläserne Kreuz, in dem die Sonne sich spiegelt und ihre Strahlen in die Niederungen des Tals gelenkt werden.
Gipfelkreuze haben eine Botschaft. Statt sie abzuschaffen, ist es an der Zeit, sie zu deuten. Das nimmt uns das Kreuz als christliches Symbol nicht weg, sondern öffnet auch denen einen Zugang, die sich nicht zum christlichen Glauben bekennen, aber ein Gespür dafür haben, dass Dankbarkeit und Demut zum Menschsein gehören. Amen.

Sven Johannsen, Pfr. Lohr

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