Vaticannews "Father" von Maurizio Castellan

Predigt 6. Sonntag Osterzeit B (5.5.2024) „Der Geist weht wo er will“

Liebe Schwestern und Brüder

Besucher der südlich der Lagunenstadt Venedig gelegenen Insel Giudecca, auf der sich die wunderschöne Kirche Il Redentore von Andrea Palladio befindet, werden zur Zeit von einem überdimensionalen Bild schmutziger Fußsohlen an der Fassade der Kapelle des ehemaligen Benediktinerinnen-Klosters auf der Insel begrüßt. Die unübersehbare Wandmalerei „Father“, die die gesamte Fläche vom Fundament bis zum Dach bedeckt, stammt von Maurizio Cattelan, einem der bekanntesten Künstler Italiens, der immer wieder mit Darstellungen provoziert. 1999 erregte er Proteste mit der Skulptur „La nona ora“, die Papst Johannes Paul II von einem Meteoriten getroffen auf dem Boden zeigte.

Viele Gläubige sahen darin einen Angriff auf den Papst. Cattelan aber deutete die Darstellung als Last der Sünde der Welt, die den Heiligen Vater als letzten Verteidiger des Glaubens gegen das Böse getroffen hat. Im letzten Jahr installierte er eine lebensgroße Krokodilplastik in der Taufkapelle des Doms zu Cremona, der er den Namen „Ego“, also „Ich“, gab. Cattelan macht es glaubenden Menschen mit seinen Darstellungen nicht einfach, aber sein Bild „Father“ wurde vom Vatikan speziell für diesen prominenten Platz der Fassade auf Giudecca in Auftrag gegeben. Sie soll eine moderne Interpretation der Grablegung Christi sein und auf Armut und den harten Weg der Menschen, die hinter den Mauern leben, hinweisen. Sie werden es vielleicht gelesen oder gehört haben. Diese Darstellung gehört zum sog. Vatikan-Pavillon der 60. Biennale, der bedeutendsten internationalen Kunstausstellung, die noch bis November in Venedig stattfindet. Zum dritten Mal beteiligt sich der Vatikan mit einem Kunstpavillon. Erstmals besuchte am letzten Sonntag mit Papst Franziskus ein Oberhaupt der katholischen Kirche die Biennale. Das war bereits eine Sensation. Aber wirkliches Aufsehen erregte der Ort des vatikanischen Pavillon. Das ehemalige Kloster der Benediktinerinnen auf der Giudecca ist seit langer Zeit das Frauengefängnis Venedigs. In dem architektonisch ansehnlichen, aber sehr heruntergekommenen Gebäudekomplex verbüßen etwa 80 Frauen ihre Haftstrafen. Manche von ihnen haben ihre kleinen Kinder bei sich, andere sind von ihren Familien getrennt. Alle schauen auf viele Scherben im Leben. Es war die Anregung des Papstes, diesen Ort für die vatikanische Beteiligung an der Kunstausstellung zu wählen. Die vom Vatikan beauftragten Kuratorinnen konnten namhafte internationale Künstlerinnen und Künstler gewinnen, sich an diesem Projekt zu beteiligen. Letzten Sonntag besuchte Papst Franziskus Venedig und machte seinen ersten Halt im Frauengefängnis, in dessen Innenhof er mit den Insassinnen zusammentraf und sich lange Zeit für Gespräche nahm. Es sind beeindruckende Kunstwerke, die sich dort finden, aber noch mehr ist es die Geschichte und die Umstände, die sich mit dem Ort verbinden, die den Vatikanpavillon zum vielleicht wichtigsten Beitrag der diesjährigen Biennale werden lassen. Die Künstlerinnen und Künstler haben nicht einfach ihre Werke in den Räume des Gefängnis installiert, sondern seit über einem Jahr den Dialog mit den inhaftierten Frauen gesucht und in Zusammenarbeit mit ihnen die Ideen entwickelt. „So überarbeitete die französische Künstlerin Claire Tabouret Fotos, die das Wertvollste zeigen, das die inhaftierten Frauen haben – ein Bild beispielsweise mit einem kleinen Mädchen, das seine ersten Schritte tut. In der entweihten Kapelle hat die brasilianische Künstlerin Sonia Gomes Kleidungsstücke der Insassinnen in farbenfrohen Webarbeiten montiert, und in der Cafeteria sind Werke von Corita Kent zu sehen, einer amerikanischen Künstlerin, die wegen ihrer Vergangenheit als Ordensfrau verschiedentlich als „Pop-Art-Nonne“ bezeichnet wird“. (https://www.vaticannews.va/de/vatikan/news/2024-04/vatikan-pavillon-biennale-venedig-einblicke-weltbild-veraendern.html)

Es bleibt weiter ein Gefängnis und wer die Ausstellung besuchen will, muss sich auch an die Regel für einen Besuch in einer Haftanstalt halten. Es gibt nur Führungen in kleinen Gruppen zu bestimmten Terminen. Wer das Gefängnis betritt, muss Handy und alle persönlichen Gegenstände abgegeben und wird so besitzlos wie die Frauen, die dort leben. Die Führungen übernehmen die inhaftierten Frauen selbst. Begleitet von einer Wärterin erklären sie den Besucherinnen und Besuchern die Werke und v.a. die dahinter stehenden Ideen und Geschichten, die sich aus ihrem Leben speisen.

Giulia, eine der Frauen im Gefängnis, erklärt den Gästen, was sie bewegt: „Durch die Biennale werden wir zum ersten Mal zu Protagonisten. Weggeschlossen ist nicht nur unser Körper, unser Geist ist es auch. Hiervon sind wir Teil, hier sind wir integriert.“ (https://www.domradio.de/artikel/papst-besucht-biennale-pavillon-ungewoehnlichem-ort)

Ich nenne euch nicht mehr Knechte, sondern Freunde“, sagt Jesus den Jüngern im heutigen Evangelium und trägt ihnen auf: „Liebt einander!“ Liebe kann man nicht befehlen. Eine verpflichtete Liebe ist ihrem Wesen nach unmöglich und wäre nur Heuchelei. Aber in Jesus sehen wir auch nicht den strengen Zuchtmeister, der befiehlt und verbietet, sondern den „inwendigen Lehrer“ (Eugen Biser), der uns letztlich zum selbstverständlichen Handeln aus dem Leben mit Gott die Augen öffnet. Jesus selbst ist der freie Mensch, der Gesetze und Traditionen hinterfragt, wenn sie leer und nicht von einer intensiven Beziehung zum Vater getragen sind. Er weiß sich gesandt, das wahre Leben zu bringen, nicht Furcht und Unterwürfigkeit einzufordern. Anders als die Pharisäer grenzt er sich nicht ab von denen, die nicht den hohen Maßstäben ihrer Moral entsprechen, und v.a. grenzt er nicht die aus, die schuldig geworden sind. Er weiß sich ganz in der Liebe des Vaters gehalten und schenkt diese empfangene Liebe nicht aus Pflicht weiter, sondern als Erfüllung seines Lebensauftrages. In diese Bewegung nimmt er seinen Jünger hinein. Sie werden von ihm geliebt, obwohl sie sicher nicht perfekt sind. Diese Erfahrung führt zur selbstverständlichen Reaktion: „Liebt einander!“ Wie Jesus können sie nicht ausgrenzen, weil sie selbst als Menschen mit ihren Fehlern und Schwächen nicht verurteilt, sondern von ihm „Freunde“ genannt werden. Diesen Ehrentitel haben sie sich nicht durch besondere Leistung verdient, vielmehr ist es Jesu Initiative, die aus der Liebe des Vaters zu ihm herrührt. Es bleiben Unterschiede: Jesus ist der Herr und Meister, die Jünger aber werden weiterhin lernen und nach Erkenntnis suchen müssen. Aber Jesus bleibt mit ihnen auf Augenhöhe. Der Glaube will nicht den furchtsamen Menschen, der unterwürfig Abstand von jedem Hinterfragen und Denken nimmt. Wir sind nicht Gott gleich, aber wir sind mit ihm auf Augenhöhe, nicht weil wir es durch unsere Leistung verdient haben, sondern weil er uns an dieser Stelle haben will, auch wenn wir schwach und fehlbar bleiben. Das aber führt zur selbstverständlichen Haltung, auch dem anderen Menschen Liebe zu schenken, ihn nicht abzuschreiben und auszugrenzen. Es ist kein Gesetz, das wir widerwillig befolgen müssen, sondern Ausdruck unserer Erfahrung, wenn wir uns an Jesu Wort halten: „Liebt einander!“

Petrus muss verstanden haben, was dieses Gebot in der Praxis bedeutet. Er, der prominenteste Vertreter der jüdischen Wurzeln in der jungen Kirche, wird zum Türöffner für die nichtjüdischen Menschen, die zum Glauben an Christus finden. Am Anfang der Kirche steht zunächst ein Prozess der Abgrenzung: Die junge Gemeinde erlebt, dass sie aufgrund ihres Glaubens an Christus vom Judentum ihrer Zeit ausgegrenzt wird. Die Apostel mit Petrus an der Spitze sind aufgerufen, ein eigenständiges Profil zu entwickeln und Christus als Quelle ihres Glaubens in die Mitte zu stellen und so ihren Platz in der jüdischen Gemeinde zu verlieren. Einige Zeit konzentriert sich der Jüngerkreis allein auf jüdische Menschen, die sich taufen lassen. Auf direkte Anweisung Gottes hin wird Petrus aber die Wende einleiten. In Caesarea Maritima, Sitz des römischen Statthalters und moderne Hafenstadt mit einer heidnischen Bevölkerungssehrheit, betritt er auf ein Wort Gottes hin erstmals das Haus des römischen Hauptmannes Kornelius, der sich wie viele andere Römer dem Judentum zugewandt hatte, aber nicht die letzte Konsequenz, den Übertritt durch das Zeichen der Beschneidung, gegangen ist. Kornelius ist offen für den jüdischen Glauben, aber kein jüdischer Gläubiger, sondern ein sog. Gottesfürchtiger. Als frommer Jude müsste Petrus sich fernhalten von seinem Haus. (Vgl. Lk 7, 1-10: Jesus heilt zwar den Sohn des römischen Hauptmanns von Kafarnaum, trifft ihn aber nicht persönlich). Gott aber schickt Petrus selbst zu Kornelius, um dort das Evangelium zu verkünden. Da geschieht das Unerwartete: Es ereignet sich ein zweites Pfingsten. Der Heilige Geist kommt auf die nichtjüdischen Anwesenden herab und wie die Apostel am Pfingsttag beginnen sie, Gott zu loben und in Zungen zu reden.

Petrus sieht ein, dass er Gott nicht vorschreiben kann, wo und an wem er wirken darf, so dass er bekennt: „Wahrhaftig, jetzt begreife ich, dass Gott nicht auf die Person sieht, sondern dass ihm in jedem Volk willkommen ist, wer ihn fürchtet und tut, was recht ist.“

Menschen, die von den Pharisäern gemieden werden, weil sie keine echten Juden sind, werden vom Geist Gottes erfüllt, empfangen die Taufe und gehören so nun zum Volk Gottes. Petrus, der Vertreter der jüdischen Gruppe in der jungen Kirche, unterwirft sich dem Willen Gottes und dem Wirken des Heiligen Geistes und holt Menschen in die Gemeinschaft hinein statt sie auszugrenzen. Er kann anerkennen, dass Gottes Geist weht, wo er will, selbst in Menschen, zu denen er Abstand halten würde.

Kehren wir zurück ins Frauengefängnis auf der Insel Giudecca. Am Sonntagmorgen vor dem großen Festgottesdienst zum Markustag auf dem schönsten Platz der Stadt hat sich Papst Franziskus viel Zeit genommen für die achtzig Frauen und ihre Angehörige. Immer wieder wich er von seinem Redemanuskript ab und wiederholte die Bitte: „Bitte. Nicht die Würde in Isolationshaft nehmen, sondern eine zweite Chance geben!“ Sicher ist jede Frau zur Gefängnisstrafe auf der Grundlage von Gesetzen verurteilt worden. Dem Papst aber war es wichtig zu zeigen, dass sie nicht nur Straftäterinnen sind, sondern eine Menschenwürde und eine Vorgeschichte haben, die mehr oder weniger glücklich verlief. Sie bleiben auch im Gefängnis Mütter, Töchter ihrer Eltern, Ehepartnerinnern, Freundinnen und Menschen mit Talenten und Begabungen. Sie sind nicht nur von ihrem Urteil her zu sehen, sondern auch als Menschen, die nach Glück suchen und das Recht auf Würde haben, die geachtet werden muss.

Papst Franziskus ist bei seinem Besuch den Frauen auf Augenhöhe begegnet und hat mit seiner Anregung, hier den Kunstbeitrag des Vatikans zu verorten, auch ein Plädoyer abgegeben, die ganze Persönlichkeit der Menschen, die hier leben, zu sehen und nicht nur die äußere Dimension der Inhaftierten.

In seiner Ansprache wandte sich Papst Franziskus mit ehrlichen und ermutigenden Worten an die Frauen:

Der Herr hat gewollt, dass wir in dieser Zeit an diesem Ort zusammenkommen, wohin uns unterschiedliche Umstände geführt haben. Umstände, die zum Teil sehr schmerzhaft waren, auch aufgrund von Fehlern, die jedem auf unterschiedliche Weise Wunden und Narben beschert haben. Jeder trägt solche Narben… Und Gott will, dass wir zusammenkommen, weil er weiß, dass jeder von uns hier und heute etwas Einzigartiges geben und empfangen kann; etwas, das wir alle brauchen.“ (vaticannews.va s.o)

Wie sein Vorgänger Petrus hat Franziskus verstanden, dass der Geist Gottes wirkt, wo und in wem er will. Wen Jesus Freund / Freundin nennt, den darf die Kirche nicht vergessen. Liebe heißt dann konkret, einzustehen für die Würde des Menschen in welcher Lage auch immer. Das ist der höchste Beitrag, den die Kunst im Namen des Glaubens für die Welt leisten kann. Amen

Sven Johannsen, Pfr.

Download: 6 Biennale

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