Predigt Christkönig 2023 „Gibt es Gerechtigkeit?“

Liebe Schwestern und Brüder

Ein Schreiben mit der Absenderanschrift Prielmayerstraße 7 / 80335 München dürfte vielen Prominenten in unserem Land Angstschweiß auf die Stirn treiben. Dort hat das Landgericht München I seinen Sitz.

Hier standen sie alle schon: Uli Hoeneß, Jerome Boateng, Boris Becker, Alfons Schuhbeck. Das Landgericht München I gilt als das Prominentengericht unseres Landes. Stehen bekannte Persönlichkeiten vor Gericht, stellt sich oft die Frage: Gibt es einen Prominentenbonus oder haben sie es schwerer als unbekannte Angeklagte? Oft enden solche Prozesse mit Vereinbarungen über große Zahlungen oder überschaubare Haftstrafen, so dass viele Menschen den Eindruck haben, dass Bekanntheit zu milderen Urteilen führt. Die Betroffenen selbst sehen es gerade anders: Das öffentliche Interesse sorgt in ihrer Wahrnehmung dafür, dass sie besonders hart bestraft werden. Die Richter sind in der Sache eher nüchtern. Sie verweisen wohl auf die Symbolfigur Justizia, die mit verbundenen Augen ohne Ansehen der Person Recht spricht, aber sie wissen auch, dass Gerechtigkeit, wie sie viele Menschen erhoffen, nicht immer herstellbar ist. An einem Gericht, so ein etwas sarkastischer Gedanken, bekommt man nicht Gerechtigkeit, sondern ein Urteil. Im Idealfall decken sich das Empfinden von Gerechtigkeit und das objektive Entscheiden der Richter auf der Grundlage von Gesetzen und Rechten miteinander, aber das ist oft nicht der Fall. Cleverness der Anwälte, schlechte Beweislage, die Aussicht auf ein überlanges Verfahren, blinde Flecken in der Gesetzgebung sorgen dafür, dass Urteile oft unbefriedigend bleiben.

Gibt es Gerechtigkeit? Nicht nur die Rechtsprechung desillusioniert uns in der Frage, sondern viel öfters noch das Leben selbst.

  • Auf dem Friedhof stellt sich die Frage nach der Gerechtigkeit regelmäßig in besonderer Dringlichkeit: Ein Mensch wird mitten aus dem Leben gerissen. Ein anderer Mensch ist sehr alt, schwerkrank und kann einfach nicht sterben.

  • Der Partner, mit dem man eine gemeinsame Existenz aufgebaut hat, will die Trennung und lässt die Familie im Stich.

  • Manager ruinieren das Unternehmen und MitarbeiterInnen, die aufgrund ihres Alters nicht mehr vermittelbar sind, zahlen die Zeche für das Versagen der Verantwortlichen, die einfach auf den nächsten Managerposten wechseln.

Von Kindesbeinen an, wenn der Lehrer mein Vergehen bestraft, aber den Nachbarn übersieht, bis in die letzte Phase unseres Lebens begleitet mich in meinem Menschsein die Frage, ob es überhaupt Gerechtigkeit gibt?

In der Regel werden Menschen ernüchtert die Frage verneinen und eingestehen, dass am Ende immer die Egoisten die Oberhand behalten, weil sie meist cleverer und skrupelloser sind, während Menschen, die sich um Gemeinsinn sorgen, das Nachsehen haben, weil sie schwach, naiv und ausnutzbar erscheinen. In dieser Welt gibt es keine Gerechtigkeit, darum brauchen wir Gesetze und Rechte, die verhindern, dass allein die Maxime gilt: Geld regiert die Welt und der Stärkere wird überleben.

Der Glaube baut in dieser Erfahrung die Hoffnung auf die himmlische Gerechtigkeit auf, die aber vielen Kritikern wie eine Vertröstung erscheint. Nach dem heutigen Evangelium greift die Gerechtigkeit Gottes aber nicht irgendwann einmal nach dem Tod, sondern wird schon in der Geschichte der Welt und im Leben des Menschen wirksam. Am Ende der Lesung aus der Vision des Propheten Ezechiel verspricht Gott selbst seinem Volk: „Ich sorge für Recht zwischen Schaf und Schaf.“ Im Bild des Hirten grenzt sich Gott scharf ab von den Mächtigen, die das Volk Israel enttäuscht haben. Seine Könige und die Führungsschicht haben versagt. Sie haben für sich selbst gesorgt und das Volk ausgebeutet, anstatt für Recht und Ordnung zu sorgen. Jetzt aber greift Gott für sein Volk ein. Er wird die Verirrten, die in fremde Länder Zerstreuten wieder sammeln und heimführen, dem Unrecht und der Ausbeutung für immer ein Ende machen und den Schwachen zu ihrem Recht verhelfen. In diesem Versprechen wird Israel ein Schlüssel an die Hand gegeben, um die Geschichte zu deuten. Bis heute interpretieren Juden das Auf und Ab der Geschichte durch das Wechselspiel zwischen menschlicher Überheblichkeit, die in die Katastrophe führt, und göttlicher Zuwendung, die einen neuen Anfang schafft. Dieser Blick auf die Zukunft speist sich aus der Erfahrung der Geschichte. Es gab immer Phasen, in denen es dem Volk gut ging, weil die Menschen so lebten, wie es Gottes Wille entsprach, also solidarisch und wertschätzend im Umgang mit dem anderen Menschen. Schaut man im Augenblick auf die Welt, dann stellen sich sicher brennende Fragen: „Wo bleibt denn Gottes Gerechtigkeit, wenn Menschen unverschuldet in Armut geraten? Wo bleibt Gottes Gerechtigkeit, wenn Neid und Missgunst ein Leben zerstören? Wo bleibt sein machtvolles Eintreten für Recht und Gerechtigkeit in einer Welt, die immer kälter zu werden droht?“

Das Evangelium dreht die Perspektive. Da fragt nicht mehr der Mensch nach der Rechtfertigung Gottes, sondern Gott selbst zieht den Menschen zur Verantwortung für sein Tun. Sein Urteil kennt nur ein, gerechtes, Kriterium: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan!“ Und: „Was ihr für eine meiner geringsten Schwestern nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan!“ Es sind keine Schlupflöcher mehr offen und keine geschickten Ausreden möglich. Gerechtigkeit geschieht nicht erst in einer besseren Welt, sie wird zum Maßstab des Lebens in dieser Welt. Wenn Jesus heute Gericht hält, dann geht es nicht um Schadenfreude, dass am Ende die Bösen einmal alle ihre Fehler heimgezahlt bekommen, sondern um die Frage, ob ich erkenne, was mein Leben wirklich jetzt und hier schon sinnvoll macht.

Es gibt ein Lied „Jetzt ist die Zeit, jetzt ist die Stunde. Heute wird getan oder auch vertan, worauf es ankommt, wenn er kommt“. In den Strophen wird dann sehr konkret aufgezeigt, worauf es ankommt: Der Herr wird nicht fragen: / Was hast du gespart, / was hast du alles besessen? Seine Frage wird lauten: Was hast du geschenkt, / wen hast du geschätzt um meinetwillen?

Es wird die Frage sein, „wem ich genützt habe“, die mein Leben sinnvoll oder sinnlos werden lässt. Sich diese Frage aber erst am Ende zu stellen, wird nicht viel nützen. Sie gehört zur täglichen Gewissenserforschung, die mir sagt, ob ich selbst vor mir und Gott bestehen kann.

Das Evangelium ist keine Drohbotschaft, sondern eine Anleitung für ein gelingendes Leben: „Dreh dich nicht nur um dich selbst! Kümmere du dich um Gerechtigkeit und Liebe. Da, wo du bist. Mensch, gib weiter von dem, was du geschenkt bekommen hast! So kommst du Stück für Stück meinem Traum von dieser Welt näher. So erfährst du, dass am Ende nicht der Skrupellose triumphiert. So kannst du helfen, dass der Schwache doch noch eine Chance bekommt. So bereitest du meinem Reich den Weg. Dem Reich der Wahrheit und des Lebens, dem Reich der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens.“ Zugegeben, hört sich verlockend und einfach an! Aber was ist denn nun mit dem 53-jährigen Arbeitslosen, der verlassenen Ehefrau und dem straffälligen Jugendlichen? Gute Frage! Gegenfrage: Was hindert uns daran, ihnen zu helfen? Ihnen die Gerechtigkeit zu geben, die sie verdienen? Vielleicht reicht als erstes das Überdenken eigener Vorurteile, das Abstellen der kleinen Lieblosigkeiten oder das Überwinden der eigenen Angst. Ein erster Schritt wäre das zumindest. Ein Schritt auf dem Weg zu einer gerechteren Welt. Und ob wir es nun glauben können oder nicht – den Rest, den erledigt ein anderer. Das ist sicher.

Sven Johannsen, Pfarrer

Christkönig 2023 Gerechtigkeit