Predigt Erntedank „„Die Schönheit der Schöpfung mit den Augen des Herzens erfassen““

Liebe Schwestern und Brüder,

die Geschichte klingt so anrührend, dass sie eigentlich am besten zu Weihnachten passt. Und genau als Aufmacher für ihre Ausgabe am Heiligen Abend des vergangenen Jahres platzierte die ZEIT den Bericht über eine kanadisches Familie auf einer ungewöhnlichen Reise. (https://www.zeit.de/news/2022-12/24/gegen-die-zeit-eltern-zeigen-erblindenden-kindern-die-welt) Ich finde, dass sie nicht nur zum Fest der Liebe passt, sondern auch einen guten Impuls für die Feier von Erntedank birgt.

Das Glück für Edith Lemay und ihren Mann Sebastian Pelletier ist mit der Geburt ihrer vier Kinder vollkommen. Das kanadische Ehepaar ist in guten Jobs im Gesundheitssektor und im Finanzbereich tätig und kann seinen Kindern ein gesichertes Zuhause bieten und eine gute Zukunft ermöglichen. In diesem Moment wird die Familie von einem Schicksalsschlag heimgesucht. Zuerst bemerkt die Mutter an der dreijährigen Mia, dass etwas nicht stimmt. Nachts läuft das Kind zunehmend orientierungslos durchs Haus und stößt verdächtig oft an Möbel. Es folgen einige Jahre medizinischer Untersuchungen, dann steht die Diagnose fest: Drei ihrer vier Kinder leiden unter der Augenkrankheit Retinitis pigmentosa, die im Endstadium in der Regel zur Erblindung führt. Ein Spezialist rät den Eltern, das visuelle Gedächtnis ihrer Kinder zu stärken und ihnen viele Fotos und Bilderbücher von Tieren, Blumen, Bergen und den Schönheiten der Welt zu zeigen. „Und für mich hat es da Klick gemacht“, erzählt Lemay. „Ich dachte mir, lass uns gehen und ihnen Elefanten und Giraffen im wirklichen Leben zeigen, so werden sie sich wirklich daran erinnern“.

Das ist der Anstoß für die Familie, sich auch eine Reise gegen die Zeit zu machen, um ihren Kindern die Welt zu zeigen, bevor sie für sie verblasst. (ebd.) Im März 2022 geht es aus der kanadischen Kälte zuerst nach Namibia und anschließend quer durch Afrika, dann über die Türkei und die Mongolei nach Bali, schließlich landeten sie in Thailand. Die Kinder speichern Erinnerungen an Giraffen und Elefanten, exotische Pflanzen am Fuß des Kilimandscharo und faszinierenden Naturdenkmäler wie die Höhlen in Kappadokien. Eine berührende Geschichte von Elternliebe und Stärke einer Familie auch in Krankheit und Krisen, aber auch eine Lehre für unsere Generation im Blick auf Sensibilisierung von Schöpfungs-Verantwortung: Erleben kommt vor dem Lehren. Wir reden zur Zeit viel von Notwendigkeiten, die erfüllt sein müssen, um die Welt vor der Klimakatastrophe zu retten: ein Umdenken im Umgang mit Ressourcen, eine neue Ethik der Nachhaltigkeit, neue Formen der Energiegewinnung – letztlich wird keiner bezweifeln, dass das der richtige Weg ist. Ich unterstelle selbst, dass einige der größten Leugnern des Klimawandels im Grunde ihres Herzens wissen, dass eine Wende dringend notwendig ist, sie können es nicht eingestehen, um nicht das Gesicht vor ihren Anhängern zu verlieren. Aber trotz eines breiten Konsens von den Umweltschutzverbänden, über die Kirchen, die Politik bis hin zur letzten Generation scheint sich nur wenig zu bewegen und bleiben die Erfolge eher überschaubar. Vielleicht fehlt uns in der Dunkelheit der Bedrohung das visuelle Gedächtnis für die Schönheit der Schöpfung, wie sie gerade die kanadischen Eltern ihren Kindern ermöglichen. Es wird keinen Zweifeln geben, dass die Bewahrung der Schöpfung eine zentrale Herausforderung unserer Zeit ist. Schon seit den achtziger Jahren mahnen die Kirchen in ökumenischer Einmütigkeit ein neues Denken an, das sie in ihrer Konferenz in Basel 1989 an den drei Bereichen „Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“ verankerten. Wissenschaftler werden nicht in den letzten Jahrzehnten nicht müde, uns auf die Konsequenzen unserer Verhaltens und eine verweigerten Änderung hinzuweisen. Dennoch aber scheint die Botschaft nicht anzukommen, geschieht keine Verhaltensänderung zu mehr Nachhaltigkeit und werden jährlich zwölf Millionen Tonnen Lebensmittel allein in Deutschland weggeschmissen, der größte Teil davon in Privathaushalten, aber auch im Handel.

Ich will nicht behaupten, dass in Israel die Dinge besser laufen, aber Juden haben einen interessanten Zugang zur Schöpfung, der gerade in diesen Tagen wieder greifbar wird: Unsere älteren Brüder und Schwestern im Volk Israel begehen jetzt Sukkot, das Laubhüttenfest, das große Erntefest am Ende der Weinlese. Es bildet mit Pessach, gefeiert im Umfeld unseres Osterfestes, und Schawuot, dem jüdischen Pfingstfest, das Dreigestirn der jüdischen Wallfahrtsfeste. Noch mehr steht an diesem Herbstfest die Einladung zur Freude im Mittelpunkt. Das lässt sich leicht erklären. Direkt vorausgehen das eher besinnliche Neujahrsfest, Rosh-Hashana, und der düstere Versöhnungstag, Jom Kippur, der dem großen Schuldbekenntnis des Einzelnen und der Gemeinschaft dient. Eine Woche später folgt dann das Erntefest Sukkot in ausgelassener Freude und Dankbarkeit. Geprägt wird das Fest durch die Besonderheit der Laubhütten. In jüdischen Haushalten zieht man jetzt, zumindest über Tag, in Gartenhütten um, die zu diesem Fest errichtet werden. Die Tradition folgt einer Anweisung im Buch Levitikus: „Sieben Tage sollt ihr in Laubhütten wohnen, […] damit künftige Generationen erfahren, dass ich die Kinder Israel habe in Hütten wohnen lassen, als ich sie aus Ägypten herausführte.“ In der Laubhütte unter freiem Himmel wird getrunken, gegessen und in Israel auch geschlafen. Wichtig ist dabei, dass der Blick durch das Dach nicht verstellt wird. Es soll möglich bleiben, den Sternenhimmel zu erkennen und so die Weite des Kosmos und die Güte des Schöpfers zu erahnen. Schöpfung erleben, erhebende Bilder im Herzen sammeln und Verantwortung für die Gabe Gottes übernehmen, so könnten wir den inneren Vorgang am Erntefest Sukkot deuten. Ich denke, dass auch unser Erntealtar dazu einlädt. Er erinnert uns ja nicht nur an die Bilanz der diesjährigen Ernte, die wohl in der Sicht der bayerischen Bauern eher unterdurchschnittlich ausfällt, sondern dass wir erfahren dürfen, dass alles, was wir zum Leben brauchen, uns in überreicher Fülle geschenkt wird. Der Erntealtar erinnert uns daran, dass wir auch in diesem Herbst am Ende des landwirtschaftlichen Jahres trotz aller vorherigen Sorgen und düsteren Prognosen festhalten dürfen: Es ist wieder etwas dabei herauskommen, was Psalm 104 voller Gottvertrauen besingt: „Du tränkst die Berge aus deinen Kammern, von der Frucht deiner Werke wird die Erde satt. Du lässt Gras wachsen für das Vieh und Pflanzen für den Ackerbau des Menschen, die er anbaut, damit er Brot gewinnt von der Erde und Wein, der das Herz des Menschen erfreut, damit er das Angesicht erglänzen lässt mit Öl und Brot das Herz des Menschen stärkt.“

Natürlich reicht der Erntealtar in der Kirche nicht aus, um eine Haltung der Dankbarkeit und der Nachhaltigkeit zu erlernen. Er ist eine „Dank“-Stelle, „danken“ selbst lernen wir in der Begegnung mit der Schöpfung und im Staunen. Die Dankbarkeit aber wird zur Voraussetzung für die Achtsamkeit im Umgang mit dem Leben. Das, was wir in unserem visuellen Gedächtnis verankern, ist unsere Fähigkeit, nicht nur von Dankbarkeit zu reden, sondern dankbar zu leben.

Reden wir nicht nur, wie gut es ist, dass es wenigstens einen Tag der Ruhe in der Woche gibt, gestalten wir den Sonntag als Tag der Gemeinschaft und des Erholens, des Ausbremsen aus der ungehemmten Hektik des Kaufen und Verbrauchen-Müssen.

Loben wir Kinder nicht nur für die reichen Erntekörbchen, die sie mit ihren Eltern zusammenstellen, sondern lassen wir uns wieder ein auf den Zusammenhang von Säen und Ernten, Wetter und Wachsen, Pflegen und Wachsen lassen. Wir werden sehen: Es ist Gottes Wirken. Ich bin völlig unbegabt im Blick auf Gartenarbeit, aber ich wage die Vermutung, dass der Mensch, der die Mühen auf sich nimmt, im eigenen Garten oder auf dem Fensterbrett Obst und Gemüse zu ziehen, nicht so schnell achtlos damit umgehen wird. In vielen Familien wird das gemeinsam mit Kindern getan. Ich bin sicher, dass das geduldige Warten auf das Wachsen und das Hoffen auf ein gutes Gedeihen, Einfluss nimmt, Obst und Gemüse, das wir im Supermarkt kaufen nicht nur als Konsumprodukt zu sehen, das man wegwerfen kann, wenn es nicht mehr strahlt und schön aussieht.

Bestaunen wir nicht nur den schönen Erntealtar in der Kirche, gehen wir hinaus und nutzen diesen Tag, um zu entdecken, was auf dem Weg zur Sohlhöhe, zur Bayerischen Schanz, zum Steinernen Haus, zum Schlossmann-Blick, zur Aurora an Schönheiten zu entdecken sind und welche faszinierende Blicke auf die Straßen und Wohnviertel unseres Alltags die Pfade freigeben.

Ich denke, dass das durchaus als Erntedank-Prozession bestehen kann und sich ausprägt in unseren Herzen und so in unserem Verhalten. Nicht die Reden von Politikern und die Predigten von Kirchenleuten bewegen uns zum Umdenken, sondern die tief sich eingeprägten Bilder von Erinnerungen an schöne Momente in der Schöpfung, also unser visuelles Gedächtnis, das in uns die Sehnsucht weckt, diese Schönheit zu bewahren und den Zugang zu ihr auch der nächsten Generation zu ermöglichen.

Sven Johannsen, Pfarrer

Erntedank_2023_Visuelles_Gedächtnis.pdf