Predigt Gründonnerstag 2024 „Wer betet, kennt keine Furcht“

Predigt Gründonnerstag

Wer betet, kennt keine Furcht“

Liebe Schwestern und Brüder

Wer betet, kennt keine Furcht“, diese steile These ist keine naive Weisheit für ihr Poesiealbum, sondern eine eindringliche Mahnung von Papst Franziskus an die ganze Welt. Immer wieder taucht diese kurze Botschaft in seinen Katechesen über das Gebet auf. Sie klingt sehr fromm und überzeugend und kann leicht verstanden werden als gute Worte und ermutigende Aufmunterung eines gütigen Seelsorgers. Erstmals aber sprach er diese Überzeugung „Wer betet, kennt keine Furcht“ in einem Moment aus, als die Menschheit, unabhängig davon ob gläubig oder nicht, in blinder Angst wie in Schockstarre gelähmt war: Im Herbst 2020, als die zweite Welle der Coronapandemie die Welt in Furcht und Schrecken versetzte und die Politiker sich sogar gezwungen sahen, abendliche Ausgangssperren über Weihnachten zu verhängen. Es wäre schön, wenn es wirklich so wäre: „Wer betet, kennt keine Furcht.“ Aber ist das die Wirklichkeit? Noch bedrängender erscheint mir die Frage, die sich aus dem Rückschluss ergibt: Wenn ich trotz meines Betens Ängste verspüre, bete ich dann nicht richtig oder nicht intensiv genug?

Ich bin überzeugt, dass viel mehr Menschen beten als wir an der Zahl von Gottesdienstbesuchern messen können. In was für einer furchtlosen Welt müssten wir dann eigentlich im Sinne des Papstes leben? Aber Angst ist gefühlt die ständige Wegbegleiterin der Menschheit von Anfang an. Es geht um mehr als panisches Erschrecken, wenn eine Spinne in der Ecke auftaucht oder eine Maus durchs Haus huscht. Auch oder sogar vor allem moderne Menschen haben ganz konkrete Existenzängste. Dabei werden die Menschen in unserem Land in erster Linie von Geldsorgen getrieben. Am größten sind laut Untersuchungen die Angst vor steigenden Lebenshaltungskosten und die Sorge um bezahlbaren Wohnraum. Dazu kommen aber auch die Angst vor einer Spaltung der Gesellschaft und v.a. auch die Befürchtung, im Alter ein Pflegefall zu werden. Diese hauptsächlichen Gefahren beunruhigen einen Großteil der Menschen in unserem Land. Ich will ihnen nichts einreden oder gar Panik machen, aber es ist wohl so, dass jeder von uns Angst hat. Wovor wir uns fürchten, kann sehr verschieden sein, immer aber geht es um die Frage nach der Zukunft unseres Lebens in dieser Welt. Angst ist die Spaßverderberin der Menschheit und bis heute die schlechteste Ratgeberin, wenn wir fragen, was künftig zu tun ist. In der Regel verleitet uns die Angst zu irrationalen, feindseligen und abwehrenden Handlungen, die uns eher von anderen Menschen abgrenzen und uns selbst einsperren in ein Gefängnis von scheinbaren, doch oft trügerischen Schutzmechanismen.

Jeder hat Angst, auch der Mensch Jesus. Das erleben wir am Gründonnerstag in besonders intensiver Weise. Zum heutigen Abend gehören nicht nur die Erzählungen vom Letzten Abendmahl und der Fußwaschung sondern auch der sich daran anschließende Weg zum Garten Getsemani am Fuße des Ölbergs. Nach dem Mahl geht Jesus mit den Jüngern durchs Kidrontal zu dem Ort, an dem durch seine Gefangennahme die Passion ihrem dramatischen Höhepunkt zustrebt. Bevor die Soldaten kommen, schildern die Evangelisten eine der bewegendsten Szenen im Leben Jesu. Er wird sich später vor den Richtern wieder als der souveräne Herr des Verfahrens zeigen, aber im Garten Getsemani erleben wir mit den drei Jüngern Petrus, Jakobus und Johannes einen ganz anderen Jesus. Sie waren schon zuvor bei der Verklärung Jesu in Galiläa Zeugen seiner Verwandlung und haben ihn in seiner österlichen Gestalt gesehen. Aber jetzt werden sie mit der gänzlich gegensätzlichen Veränderung Jesu konfrontiert. Der Neutestamentler Ludger Schenke übersetzt die Überlieferung des Markusevangeliums vom Weg zu Ölberg sehr eindringlich: „Dann kommen sie zu einem Landgut mit Namen Getsemani. Und er sagt zu seinen Jüngern: „Setzt euch hierhin, bis ich gebetet habe. Dann nimmt er den Petrus und den Jakobus und den Johannes mit sich und fing an zu zittern und vor Angst zu schlottern und sagt zu ihnen: „Meine Seele ist zu Tode betrübt; bleibt hier und wacht.“

Die Jünger, die beim Seesturm voller Entsetzen Jesus vorgeworfen haben, dass ihn der Untergang des Bootes scheinbar nicht kümmere, werden jetzt Zeugen, wie ihr Meister, der Christus und Gottessohn vor ihnen zu einem „Häufchen Elend, zu einem um sein Leben zitternden und zagenden Menschenkind“ wird (Ludger Schenke). Angst bestimmt die Stunde und wirft alle Ordnungen über den Haufen. Jesus wird die Jünger anflehen, ihn nicht zu verlassen, obwohl er doch jetzt schon weiß, dass sie sich in heilloser Panik in alle Himmelsrichtungen zerstreuen werden. Dreimal wird er den Vater bitten, seinen Plan zu ändern und diese Stunde nicht geschehen zu lassen, obwohl ihm bewusst ist, dass es ein unmögliches Anliegen ist, denn letztlich bliebe so die Schrift unerfüllt und alle Verheißungen würden ins Leere laufen. Aber Angst raubt dem Menschen Vernunft, Stärke, Kraft und Vertrauen. Das erlebt für einen Augenblick auch der Sohn Gottes.


Auf zwei Momente möchte ich in der Ölbergerzählung des Gründonnerstag hinweisen:

Zuerst leidet Jesus ganz menschlich unsere Ängste. Diese Ängste, ob sie uns mitunter lächerlich erscheinen oder ob sie uns existentiell einschränken, lassen sich nicht einfach „weg-beten“, sie sind da, überfallen uns und wirken auf unser Leben ein. Der Mensch darf Angst haben, auch wenn er gläubig ist. In diesem Sinn kennt auch der Mensch, der glaubt, die Angst.

In einem Interview mit der Wochenzeitschrift DIE ZEIT wurde die Benediktinerin und Frauenrechtlerin Schwester Philippa Rat OSB gefragt: „Wovor haben Sie Angst?“ Schwester Philippa, die in der Öffentlichkeit sehr selbstbewusst und mutig auftritt, erzählt davon, dass sie einmal als kleines Kind mit einer Freundin im Garten spielte und vertieft ins Spiel in eine Jauchegrube einbrach. Der Vater der Freundin war glücklicherweise in der Nähe und zog sie rechtzeitig heraus. Drei Jahre später widerfuhr ihr ein ähnliches Erlebnis. Vor ihrer Grundschule lag ein kleiner Teich, der im Winter zugefroren war. Als sie aber versucht, darüber zu laufen, bricht sie erneut ein und bleibt zwischen den Eisschollen hängen. Diesmal rettet ihre Lehrerin das Kind. Sie bekennt, dass sie aufgrund dieser Erfahrungen heute Angst verspürt vor unsicherem Boden, offenen Treppen oder Baustellen-gruben. Angst macht Lebensräume enger. Schwester Philippa äußert sich in ihrem Interview: Ich würde niemals mehr auf einen zugefrorenen See gehen. Obwohl ich natürlich weiß, dass das der falsche Umgang mit der Angst ist. Schon der Begriff Angst ist ja mit dem lateinischen Wort angustia verwandt, das bedeutet Enge. Und genau so ist es: Wenn ich allem aus dem Weg gehe, wovor ich mich fürchte, dann enge ich meinen Lebensraum immer weiter ein. Man muss sich der Angst stellen! Damit nicht das Gefährlichste überhaupt passiert: nicht, dass ich Angst habe. Sondern dass die Angst mich hat. Dass ich aus ihren Klauen nicht mehr herauskomme.“ (Die Zeit vom 24. März 2024)

Sie kann aber auch feststellen, dass diese Ängste aus Kindertagen ihren Alltag nicht einschränken. Als glaubender Mensch ist ihr Leben von Gottvertrauen geprägt, nicht von Furcht beherrscht. Sie gibt zu, das kann ich gut teilen, dass in ihr manchmal die Angst aufkommt, dass sie wie Mitglieder ihre Familie dement werden könnte. Das beunruhigt, aber lähmt sie nicht. Es ist eine Gefahr, aber die Möglichkeit dieser Krankheit bestimmt nicht ihr Leben. Die Angst ist da, aber sie bekommt nicht den Raum, das Herz eng zu machen und die Lebensmöglichkeiten einzuschränken.

Das ist der zweite Gedanke im Blick auf die heutige Nacht. Auch Jesus muss das Schweigen Gottes in seiner Angst aushalten und sich quälen mit dem Zweifel, ob sein Beten ins Leere läuft. Aber gleichzeitig hat er etwas erfahren, das ihn verändert. Nach dem Gebet in Getsemani hat er seine Stärke zurückgewonnen und geht den Jüngern voraus: „Die Stunde ist da, der Menschensohn wird den Händen der Sünder ausgeliefert. Steht auf, lasst uns gehen! Siehe, mein Verräter ist nahe!“ (14,41)“

Der Theologe Eugen Biser hat als zentrales Anliegen der christlichen Verkündigung an die Menschheit immer die Befreiung von der Lebensangst herausgestellt. Es gibt sie, der Mensch erlebt sie in vielfältiger Weise, aber die Botschaft von Ostern, die schon durch die Nacht am Ölberg tönt, ist stärker: „Am Ende steht die Freiheit und das Leben. Ihr seid erlöst.“

In einem Beitrag für die ZEIT betont die Redakteurin Evelyn Finger, dass die Botschaft von Ostern heute wichtiger denn je ist. In dieser Nacht bereits klingt sie an im Abendmahlssaal. Bevor Jesus in die Finsternis der Angst hinausgeht, wird er Zeichen setzen, die zeigen, dass er nicht panisch an seinem Leben hängt und nur um sein Schicksal kreist. Er setzt in der Eucharistie die Erfahrung seiner Gegenwart über alle Zeiten hinweg ein und macht den Einsatz für andere in der Fußwaschung zum Kriterium für ein gelingendes Leben. Den Ängsten, die diese Nacht überschatten und das Herz eng machen wollen, setzt er Zeichen der Liebe entgegen, die Weite schaffen und neue Möglichkeiten zum Leben aufzeigen.

Ich verstehe das Wort von Papst Franziskus „Wer betet, kennt keine Angst“ daher nicht als Tadel für unsere Zweifel, sondern als Perspektive für unser Leben, die aus dieser Nacht kommt. Wie Jesus können uns Ängste überfallen, aber sie dürfen uns niemals beherrschen. Sie sind nicht Teil unseres Wesens, sondern fremde Diebe, die wir nicht kennen müssen. Pater Anselm Grün ermutigt uns im Blick auf Jesus am Ölberg zu einem ehrlichen Umgang mit dem, was uns ängstigt, wenn er schreibt:

Wir sehen Jesus in seiner Angst und Einsamkeit. So dürfen auch wir Angst haben und uns einsam fühlen. Wir sollen im Blick auf Jesus die eigene Angst und Einsamkeit annehmen, eine Einsamkeit, in die uns kein Mensch mehr begleiten kann, in der aber Christus schon auf uns wartet.“ (Anselm Grün; Heilendes Kirchenjahr, Münsterschwarzach 1985)

Überfallen uns die dunklen Gedanken, dann müssen wir nicht vor ihnen fliehen oder sie ignorieren, um gute Jüngerinnen und Jünger Jesu zu sein. Wir können uns ihnen stellen, damit wir nicht von ihnen eingeengt und versklavt werden. Denn wir leben im Vertrauen, dass Christus in dieser Nacht alle Bedrängnis überwunden und sich dem Tod gestellt hat, damit wir befreit werden von der Angst vor dem Leben und so in der Freiheit der Kinder Gottes leben können. Amen

Sven Johannsen, Pfarrer

2024 Wer betet kennt keine Furcht