Liebe Schwestern und Brüder
Seit vielen hundert Jahren begrüßen die zehn jungen Frauen des heutigen Evangeliums in schöner Regelmäßigkeit die Eintretenden in gotischen Kirchen. Im Normalfall stehen sie aufgereiht zu beiden Seiten des Hauptportals und geleiten die Gottesdienstbesucher in die Domkirchen hinein, so in Erfurt, Magdeburg, Bern und Freiburg u.v.a. Welche Botschaft sollten die Menschen mitnehmen, wenn sie an prominenter Stelle auf die Hauptakteurinnen des heutigen Evangeliums trafen?
Frühere Generationen haben es wohl noch besser verstanden, aber auch uns Menschen des 3. Jahrtausends ist ihre Botschaft leicht verständlich. Sie fragen uns beim Überschreiten der Kirchenschwelle: Habt ihr genügend Öl des Glaubens in den Krügen eures Lebens? Rechnet ihr noch immer mit Gott, dem ihr hier in seinem Haus begegnen wollt? Oder seid ihr lau und müde geworden? Bleibt wachsam, damit sich für euch die wirkliche Tür zum Leben bei Gott öffnet.
Ich denke aber auch, dass diese Skulpturengruppe am Eingang so vieler gotischer Kirchen etwas preisgibt über das Selbstverständnis der Kirche in der Welt.
Die Figurengruppe der fünf törichten und der fünf klugen Jungfrauen gehört untrennbar zusammen mit der Kunstepoche der Gotik. Ab 1200 findet man an fast allen Kathedralen und größeren Kirchen die Darstellung der lachenden und weinenden Schönheiten. Zumeist finden sie ihren Platz außerhalb der Kirche an den Marien-, Gerichts- oder Hauptportalen der Gotteshäuser. Sie tragen eine Botschaft mit sich, die eng mit dem Verständnis des gotischen Kirchenbaus verbunden ist. War in der Vorgängerepoche der Romanik der Gedanke von der schützenden Burg Gottes in der Welt ein Schlüssel für den Kirchenbau, so sprengt die Gotik alles Dunkle und Enge und strebt in die Weite. Gott soll auf der Erde erfahrbar werden in seiner Herrlichkeit. Eine gotische Kirche braucht Licht, das den Himmel auf die Erde holt. Die Säulen werden leicht und wachsen in den Himmel hinein. Das Dach öffnet sich und wird selbst zum Himmelszelt. Bunte und leuchtende Fenster lösen die Mauern auf und spiegeln den Glanz der Ewigkeit in den irdischen Alltag der Menschen hinein. „Sursum corda“ – „Erhebet die Herzen“ beten wir am Beginn des Hochgebetes. In der Gotik wird diese zentrale Aufforderung des Glaubens greifbarer Kirchenbau. Pater Anselm Grün hat seine Eindrücke in einer gotischen Kirche einmal so beschrieben:
„In einer gotischen Kirche wird der Himmel erfahrbar und anschaulich, und zugleich wird deutlich, dass dieser Himmel die irdische Wirklichkeit bei weitem übersteigt. … Gott ist der, der mein Herz weitet, der es öffnet für eine andere Wirklichkeit. Das Alltägliche wird relativiert. Der Kirchenbau mit seinen lichtdurchfluteten Fenstern wird zum Ewigkeitsraum. Ich spüre, dass ich nicht nur ein Mensch der Erde bin, sondern auch ein Mensch des Himmels.“ (einfach leben 10/2017)
Die Gotik macht die Kirche auf Erde bereits zum Abbild des himmlischen Festsaals und des ewigen Jerusalems, in dem einmal alles Leid, alle Trauer und alle Tränen weggewischt werden wie es die Offenbarung des Johannes beschreibt: „Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott her aus dem Himmel herabkommen; sie war bereit wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat. … Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen“ (Offb 21,2-4).
Die Kirchen der Gotik öffnen die Türe zum Hochzeitssaal Gottes, zu der Erfahrung der ungetrübten Lebensfreude, der unverlierbaren Nähe Gottes und der Ewigkeit, die mir die Angst nimmt angesichts der verrinnenden Zeit meines Lebens. Hier darf ich die unverbrüchliche Treue Gottes ahnen, die sich darin ausdrückt, dass einmal der Tod seine Macht verliert und alle Trauer, Klage und Mühsal vergessen sein wird. Aber auch gotische Kirchen täuschen den Menschen nicht. Sie sind Abbild, noch nicht das erreichte Ziel. Wenn ihre Eingangsportale die Gegenüberstellung der beiden Figurengruppen des heutigen Evangeliums zieren, dann geben sie damit Einblick in das, was Kirchen in Stein und als Gemeinschaft sein können und wollen.
1. Kirchen sind Ort der Ruhe und laden ein zu Erholung und Aufatmen.
Das Evangelium erzählt, dass die Jungfrauen zusammen aufbrechen und eine Wegstrecke weit gehen bis sie lagern. Erst von diesem Ruheplatz aus werden die einen mit in den Hochzeitssaal gehen und die anderen die Gelegenheit verpassen. Zunächst also ruhen sie zusammen als Gemeinschaft, in der sich die einen noch nicht von den anderen unterscheiden. Wer darf hinein in die Kirche? Nur der, der getauft ist, seinen Glauben bewusst lebt und aktiv den Gottesdienst mitfeiert? Wir öffnen unsere Kirchen nicht nur zu Gottesdiensten. Sie stehen den ganzen Tag offen für alle Menschen, die hier zur Ruhe kommen, beten, ausruhen, nachdenken oder einfach nur dasitzen wollen. Wir fragen nicht, welchen Grund ein Mensch hat, um hier zu sein. In einer Welt, in der für viele Menschen das Leben kompliziert geworden ist, die sich überfordert, gehetzt und unter Druck gesetzt fühlen, ist die kleine Auszeit im Alltag oft ein Moment, Leben tanken zu können: für Angestellte in unseren Firmen, Banken und Verwaltungen, die manchmal kein Land mehr sehen angesichts von Informationsflut und Erwartungen, die auf sie einströmen, für Mütter und Väter, die angesichts der Anforderungen in ihren vielfältigen Rollen kaum noch dazu kommen, über sich selbst nachzudenken und ihr Leben vor Gott zu tragen, für Menschen, die schuldig geworden sind, am Sinn des Lebens zweifeln oder fragen, ob sie nicht aufgrund von Alter und Krankheit anderen zur unerträglichen Last werden. Wer hier unter Tag kniet oder sitzt, muss sich weder rechtfertigen noch als frommer Christ ausweisen. Als Mensch darf ich vor dem sein, der mich nach seinem Bild geschaffen hat, und hören was Jesus mir zuruft: „Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen. (Mt 11,28)
Eines meiner Lieblingsgedichte ist das Abendlied von Matthias Claudius „Der Mond ist aufgegangen“. In der zweiten Strophe formuliert Claudius einen hoffnungsfrohe Erfahrung: „Wie ist die Welt so stille, / Und in der Dämmrung Hülle / So traulich und so hold! /Als eine stille Kammer, / Wo ihr des Tages Jammer / Verschlafen und vergessen sollt.“ Es wäre schön, wenn Menschen, ob glaubend oder nicht, diese Erfahrung in unseren Kirchen machen können: Die Welt mit ihrem Geschrei, Gezeter und Gehetze wird einmal still und ich kann vergessen und vergeben.
2. Kirchen sind Startpunkte für das richtige Leben mit Gott und den Menschen
Mehr als 50 junge Menschen haben am letzten Mittwoch in der Stadtpfarrkirche das Sakrament der Firmung empfangen. Seit Anfang des Jahres haben sie sich in Gruppenstunden, Gottesdiensten und Aktionen vorbereitet. Höhepunkt war dann der eindrucksvolle Gottesdienst mit Weihbischof Ulrich, der den Jugendlichen mit vielen Bezügen auf seine Erfahrungen in Tansania darlegte, dass die „Besiegelung mit dem Heiligen Geist“ nicht das Ende ihres Glaubensweges bildet, sondern die Gabe Gottes ist, mit der sie für ihr Leben ausgestattet werden, um in seinem Sinne zu handeln. Kirchen sind für viele Menschen heute v.a. Orte für Lebensfeiern. Sie suchen hier den Segen Gott für die entscheidenden Wendepunkte in ihrem Leben:
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das Sakrament der Taufe als Dank und Bitte um Segen für das neugeborenen Leben, das den Eltern in ihrem Kind geschenkt wurde;
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das Sakrament der Eucharistie, wenn Erstkommunionkinder heranwachsen und den Sinn von Freundschaft entdecken;
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das Sakrament der Firmung im Umbruch des jugendlichen Menschen zum Erwachsene, der selbständig und mündig sein Leben verantworten will;
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das Sakrament der Ehe, wenn zwei Menschen ihren gemeinsamen Lebensweg beginnen;
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die Feier der Auferstehung, wenn ein irdischer Lebensweg sich geschlossen hat, trauernde Angehörige zurückbleiben und nach einer Brücke zwischen ihnen und den Vorausgegangenen suchen.
Oft erwecken solche Feiern den Eindruck von Schlusspunkten, aber das sind sie für die Kirche nicht. Weihbischof Ulrich hat es den jungen Menschen sehr nahegelegt, aus dem, was sie erfahren haben, und aus der Kraft Gottes heraus nun als begeisterte Menschen in der Welt zu leben und ihren Weg zu gehen.
Kirche ist wie eine Bergstation, in der Wanderer auftanken, aber nicht sesshaft werden. Hier sollen sie gestärkt werden für den weiteren Weg. Das gilt es in allen unseren Feiern und bei allen Vorbereitungen auf die Sakrament im Hinterkopf zu behalten. Wir bereiten die Familien nicht nur auf ein schönes Erstkommunion-Fest vor, sondern führen auch zum Erleben einer Gewissheit, die ein Lied in unserem Gotteslob wunderbar ausdrückt „Wer glaubt, ist nie allein! Du, Herr, wirst mit uns sein, mit deiner Kraft, die Leben schafft.“ Dazu gehört auch Interesse der Gemeinde an den Familien, die hier Taufe und Erstkommunion feiern oder den Jugendlichen, die gefirmt werden. Ich findet es toll, dass es ältere Gemeindemitglieder gibt, die ganz bewusst Jugendliche ansprechen, sich nach ihnen erkundigen und sie ermutigen. Der Startpunkt für den Lebensweg aus dem Glauben, das einmal zum Himmel führen soll, braucht die Fans an der Seite, die ermutigen und anfeuern, damit die Ausdauer nicht verloren geht.
3. Kirchen rufen uns zur Entscheidung
Am vergangenen Freitag war hier viel Leben in der Kirche: Die Familien des Kindergartens haben hier ihren Martinszug begonnen. Unabhängig davon, ob eine KiTa kirchlich oder kommunal getragen wird, feiern wir nicht einen herbstlichen Lichterzug, sondern stellen die Person des Heiligen Martin und seine selbstlose Tat der Mantel-teilung in den Mittelpunkt. So viele Große der Geschichten wollten durch Kriege, Erfindungen, Dokumente unvergessliche Taten hinterlassen. Am Ende ist es eine ganz spontane und vielleicht unüberlegte Aktion, die über alle Jahrhunderte strahlt. Ganz sicher ritt Martin nicht durch Amiens mit der Absicht, heute zum Helden zu werden. Selbst wenn er das vorhatte, dann nicht auf diese Weise. Er wusste bis er vor dem Bettler stand noch nicht, dass er etwas historisch Einmaliges tun wird. Auch danach reitet er einfach weg. Es ist seine Lebensgeschichte, sein Nachdenken und seine Veränderung in der Folgezeit, die diese Aktion so entscheidend machen. Martin handelt selbstlos, d.h. er blickt über sich hinaus und erkennt schließlich, dass sich im konkreten Menschen Christus zeigt. Er wirft nicht achtlos eine Münze in einen Hut eines Bettlers, sondern gibt her, was er selbst braucht, weil er versteht, was jetzt wirklich wichtig ist. Er lässt sich nicht ausbremsen durch die zu erwartende Rüge seiner Vorgesetzten und die Probleme, die die Tat bei seinem Aufstieg auf der Karriereleiter bedeuten könnte.
Wir stoßen uns ein wenig daran, dass die klugen Jungfrauen nicht mit denen teilen wollen, die zu wenig Öl dabei hatten. Ist das nicht unchristlich? Es gibt eine Erklärung, die deutet die Lampen als Fackeln, an deren Ende sich kleine Tongefäße befanden, in die das Öl erst eingefüllt werden muss. Dementsprechend hätten die törichten Jungfrauen überhaupt kein Öl dabei gehabt. Sie hatten genügend Zeit und Gelegenheit, zu den Händlern zu gehen und Öl zu kaufen. Sie haben es nur immer verschoben oder sich einfach nicht gekümmert. Dann aber kommt es zu der bitteren Erfahrung, dass es auch einmal im Leben zu spät sein kann. Es gibt tatsächlich Dinge, die man nicht teilen kann: das Hören auf Gott, das Handeln aus dem Glauben, das rechte Verhalten. Immer wenn es um Verantwortung geht, steh ich alleine da. Ich kann anderen meinen Glauben bezeugen, ich kann für sie beten, ihnen helfen und erklären, aber jeder muss selbst glauben und sich für den richtigen Weg entscheiden. Kirchen weisen auch über den Augenblick hinaus und erinnern daran, dass ich mein Leben als Geschenk empfangen habe und es entsprechend führen muss. Sie sagen uns im Blick auf das heutige Evangelium: Du musst jetzt in diesem Augenblick so leben, wie du am Ende, wenn du zurückschaust auf deinen Weg, gelebt haben möchtest. Es macht keinen Sinn, das Gute auf irgendwann zu verschieben. Jetzt ist der Augenblick, es zu tun. Martin mit seiner Wachsamkeit für den rechten Moment und die klugen Jungfrauen an unseren Kirchen erinnern uns daran, dass das Leben in einem größeren Horizont geschieht, aber dass hier und jetzt die Entscheidung fällt, ob ich getan habe, worauf es ankommt, wenn der Herr kommt. Kirchen mahnen uns zur Wachsamkeit, dass wir nicht töricht in dieser Welt leben und uns benebeln lassen durch den Irrglauben, dass wir alle Zeit der Welt hätten, sondern hinschauen und handeln, wie es vor Gott und den Menschen richtig ist, heute und an jedem Tag. Amen.
Sven Johannsen, Pfarrer Lohr