Predigt Michaelsfest 2023 „Ohne Falschheit“

Liebe Schwestern und Brüder

 

Die Schildkröte Kassiopeia, Meister Secundus Minutius Hora, Gigi Fremdenführer, der Friseur Herr Fusi und Nicola, der Maurer – erinnern Sie sich noch an diese Figuren? Sie alle gehören in das Umfeld von Momo, einem neunjährigen Mädchen und Titelheldin von Michael Endes gleichnamigen Märchen-Roman „Momo oder die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte“.

Vor genau 50 Jahren erschien der Roman und wurde 1986 mit Radost Bokel, Armin Mueller-Stahl als Anführer der Grauen Herren, Mario Adorf und John Huston als Meister Hora wunderbar verfilmt. Es erzählt die anrührende Geschichte von einem kleinen Mädchen mit dunklem Lockenkopf, der noch nie einen Kamm gesehen hat, pechschwarzen Augen und pechschwarzen Füßen, in einem kunterbunt zusammengenähten Flickenrock und einer viel zu großen Männerjacke, die eines Tages in einer italienischen Stadt in der Ruine eines Amphitheaters auftaucht und die Menschen zu Lebensfreude und Gemeinsinn bewegt. Dann muss sie ihren großen Kampf kämpfen gegen die grauen Herren, die die Menschen antreiben, Zeit zu sparen, die sie ihnen dann rauben. Die Welt wird grau, hektisch und freudlos. Aber mit Hilfe einer Stundenblume bringt Momo die Farbe in das Leben der Menschen zurück. Neben der Schildkröte Kassiopeia sind es ihre Freunde, die ihr in diesem Kampf zur Seite stehen. Unter ihnen nimmt Beppo Straßenkehrer eine besonders vertraute Stellung ein. Er ist für die anderen ein sonderbarer Kauz, weil er sich mit Antworten auf Fragen oft sehr viel Zeit lässt, manchmal Stunden oder sogar Tage. Meist haben die Leute ihre Frage schon vergessen, wenn Beppo ihnen endlich Auskunft gibt über das, was sie wissen wollten. Wenn er es nicht für nötig hält, gibt er keine Antwort, ansonsten denkt er lange nach, um nichts Unwahres zu sagen. Momo allein kennt dieses Geheimnis und kennt den Grund für Beppos Schweigen. „Denn nach seiner Meinung kam alles Unglück in der Welt von den vielen Lügen, den absichtlichen, aber auch den unabsichtlichen, die nur aus Eile oder Ungenauigkeit entstehen.“ (Momo Viertes Kapitel)

 

In diesem einen Satz steckt so viel Weisheit und Wahrheit, dass, würden sich mehr Menschen daran halten, die Welt durchaus anders aussehen könnte. Ich will jetzt niemanden als „Lügner“ diffamieren. Ich bin überzeugt, dass die meisten Menschen sich bemühen, ehrlich und aufrichtig zu leben und sich so gut wie möglich an die Wahrheit halten, aber wie oft sagen auch sie unüberlegte Dinge, weil sie sich nicht die Zeit nehmen, nachzudenken? Und wie oft geschieht es uns selbst?

Im Johannes-Evangelium wird der Satan von Jesus als Vater der Lüge bezeichnet, weil sie, ob absichtlich oder unabsichtlich, Menschen verwirrt, täuscht und spaltet.

Dagegen wird uns heute im Evangelium ein Mensch, Nathanael, vorgestellt, den Jesus ausdrücklich charakterisiert als „ein echter Israelit, ein Mann ohne Falschheit“. Das klingt nach einem sehr perfekten Menschen, der sich streng an die Wahrheit hält. Solche Charaktere können einem Angst machen, weil sie mitunter völlig humorlos und unbarmherzig erscheinen. Oder sie werden verlacht als gutmütige, arglose und einfältige Narren, die man ausnutzen kann. Tugenden wie „Aufrichtigkeit“ und „Lauterkeit“ sind lobenswert, aber in unserer Zeit kein Erfolgsrezept. Es gilt die These, die Ulrich Wickert in Kritik auf den Verlust von Werten in unserer Gesellschaft aufgestellt hat: „Der Ehrliche ist der Dumme.“ Das will aber wohl keiner von uns sein. Grundsätzlich ist die Wahrheit und die Wahrhaftigkeit als dazugehörende Haltung ein hohes Gut, aber im alltägliche Leben im Beruf und im gesellschaftlichen Miteinander ein Luxus, den sich kaum einer leisten kann. Vielleicht übertreibt es die Kirche auch mit ihrer Mahnung zur Ehrlichkeit und stellt eine Forderung auf, die Menschen gar nicht erfüllen können, weil die Lüge zu unserem Wesen gehört? Ganz sicher ist sie in der Natur immer präsent. Tiere tarnen sich, verstellen sich und geben zur Abwehr von Feinden vor, stärker und gefährlicher zu sein als sie es wirklich sind. Schwebfliegen haben die gleichen Warnfarben wie Wespen, um ihrer Umwelt Wehrhaftigkeit vorzutäuschen. Ist der Mensch auch auf diese Überlebensstrategie angelegt, zu der die Unwahrheit als Mittel gehört? Müssen wir vielleicht sogar lügen? Immer mehr Wissenschaftler bestätigen diese These. Der verstorbene Freiburger Moraltheologe Eberhard Schockenhoff fasste schon vor Jahren in seinem Buch „Zur Lüge verdammt“ den wissenschaftlichen Befund sehr nüchtern zusammen: „Es ist aufgrund unseres biologischen Erbes von vorneherein zu erwarten, dass Kinder ihre Eltern belügen, Ehepartner einander betrügen oder Verwandte einander das Leben schwer machen.“ Im Gegenteil sind Kooperation und Solidarität eher überraschend. An dieser Feststellung kommen wir nicht vorbei, aber dennoch haben wir uns im Laufe unserer Entwicklung von dieser rein biologischen Bestimmung gelöst und sind heute überzeugt, dass es die Würde eines Menschen verletzt, wenn man ihn belügt. Auch wenn es Grauzonen gibt, wie z.B. im Fall einer schlimmen Erkrankung, hat nach unserem Verständnis jeder Mensch das Recht, in der Wahrheit zu leben.

„Fake News“ machen die Runde, gesteuert auch von mächtigen Politikern, nicht nur in den USA. Gezielte Falschmeldungen werden eingesetzt, um politische Entscheidungen herbeizuführen, und die Medien werden von immer größeren Kreisen pauschal als „Lügenpresse“ diffamiert. Wir schauen uns um und haben den Eindruck, dass Täuschung und Vertuschung in der Kirche, in der Gesellschaft und in der Politik zwar immer noch für Aufregung sorgen, uns aber nicht mehr überraschen. Viele Menschen hegen den dauernden Verdacht, von „denen da oben“ getäuscht und hinters Licht geführt zu werden, und folgern daraus für sich die Rechtfertigung, es ebenfalls nicht zu ernst nehmen zu müssen mit Ehrlichkeit im privaten und beruflichen Bereich, um nicht unter die Räder zu kommen oder von Nachbar und Kollegen über den Tisch gezogen zu werden. Die Lüge ist schon längst nicht mehr ein fehlerhafte Handlung, die ich in der Beichte mit Häufigkeit bekennen und bereuen kann, sie wird immer mehr zu bestimmenden Kriterium von Beziehungen im privaten und im öffentlichen Bereich, begleitet von Misstrauen und Relativierung.

Aber eigentlich wollen wir das nicht. Lüge kann doch nicht zum System werden. Ich will doch nicht ständig in der Haltung leben, dass man keinem Menschen mehr glauben und selbst nur noch durch Falschheit erfolgreich sein kann. Das entspricht nicht unserem Menschsein.

 

Die Szenerie des heutigen Festtages sieht den Erzengel Michael im Kampf mit dem Drachen, dem die Offenbarung entlarvende Namen gibt: „alte Schlange, Teufel oder Satan.“ Immer weisen sie auf Verschleierung, Versuchung und Spaltung hin. Jesus selbst spricht davon, dass es einen Lügner von Anbeginn gibt (Joh 8,44). Ihm stellt sich jetzt der Engel in den Weg, der in seinem Namen eine anspruchsvolle Frage trägt: „Wer ist wie Gott?“ Zu Recht wird dieser Name „Michael“ interpretiert als Warnung, sich nicht an Gottes Stelle zu setzen, aber vielleicht ist er auch ein Anspruch: Wer wird seiner Würde als Abbild Gottes gerecht und steht ein für das, was das Wesen Gottes ist: die Wahrheit.

In Nathanael scheint Jesus einen solchen Menschen gefunden zu haben, denn er beschreibt ihn als „Mensch ohne Falschheit“. Wahrscheinlich wird er nicht so schrullig wie der Straßenkehrer Beppo darauf achten, nichts Unbedachtes zu sagen, aber offensichtlich erkennt Jesus in ihm einen Menschen, der sich um Aufrichtigkeit vor Gott und den Menschen bemüht.

Pater Anselm Grün hat die Berufung des Nathanael einmal auf unser Christsein übertragen und formuliert: „Nathanael ist ein Symbol für jeden Christen. Wir können uns Jesus nicht nähern, ohne durchschaut, ohne mit unserer eigenen Wahrheit konfrontiert zu werden.“ (A. Grün, Jesus – Wege zum Leben; Freiburg 2015, 476). Jesus ist die Wahrheit in Person und hat uns vorgelebt, dass ein Leben ohne Täuschung und Lüge gelingt. In seiner Nachfolge haben diesen Weg viele Menschen eingeschlagen, Edith Stein, Dietrich Bonhoeffer, Dag Hammerskjöd u.v.a. Sie haben es gewagt, in einer Welt, die von vielen als „verlogen“ angesehen wird, das wahre Leben zu verwirklichen und Gott, den Menschen und sich treu zu bleiben. Wer Gott in die Tiefe seines Herzens schauen lässt und so sich selbst öffnet, wird sich selbst gewahr, wie er leben will und was wirklich zählt. Ihnen gilt die Seligpreisung Jesu „Selig sind die, die reinen Herzens sind, sie werden Gott schauen“ (Mt 5,8).

Ein Mensch ohne Falschheit zu sein, bedeutet nicht, perfekt zu sein, aber sich immer wieder zu fragen, wofür ich leben will, und sich bewusst zu machen, dass ich nur Ehrlichkeit erwarten kann, wenn ich selbst ehrlich bin.

Wenn der Erzengel Michael fragt „Wer ist wie Gott“, dann wird man sagen müssen, dass der Mensch, der sich seine eigene Wahrheit schafft und verkündet, der Versuchung erliegt, sich an Gottes Stelle zu stellen. Der Mensch, der sich von Gott durchschauen lässt und nach seiner Wahrheit sucht, stellt sich seiner Würde als Abbild Gottes, in dem sein Geist der Wahrheit wirkt.

Das gilt auch für unser ganz alltägliches Leben, wenn wir auf die letzten zwei Wochen in unserer Stadt zurückblicken: Ohne Lügen verbreiten zu wollen, haben viele nach der Tötung eines Jugendlichen Gerüchte und Halbwahrheiten, die über soziale Medien gestreut wurde, aufgenommen und sie auch weitergegeben ohne zu prüfen, ob sie wirklich so bestätigt sind. Damit wurde auch Unruhe geschaffen, Menschen verunsichert und v.a. auch in jungen Menschen Wut geschürt. Wenn behauptet wurde, dass die Polizei den Vorfall nicht ernst genommen habe und erst spät gekommen sei, dann schaffe ich mit diesem Gerücht auch eine Plattform von Misstrauen und Feindseligkeit.

Zum Bekenntnis zu Gott gehört auch das Bemühen um die Wahrheit, denn er ist die Wahrheit, und die Wahrhaftigkeit als Haltung des Glaubens, auch in den alltäglichen Dingen und in unserem Zusammenleben.

 

Es gibt eine Geschichte, die man dem griechischen Philosophen Sokrates zuschreibt, und diese Vorsicht vor leichtfertigem Reden und unbedachten Weitertragen von unüberlegten Dingen, gut auf den Punkt bringt:

Zum weisen Sokrates kam einer gelaufen und sagte: „Höre, Sokrates, das muss ich dir erzählen!“ „Halte ein!“ unterbrach ihn der Weise, „hast du das, was du mir sagen willst, durch die drei Siebe gesiebt?“ „Drei Siebe?“, fragte der andere voller Verwunderung. „Ja, guter Freund! Lass sehen, ob das, was du mir sagen willst, durch die drei Siebe hindurchgeht: Das erste ist die Wahrheit. Hast du alles, was du mir erzählen willst, geprüft, ob es wahr ist?“ „Nein, ich hörte es erzählen und…“

So, so! Aber sicher hast du es im zweiten Sieb geprüft. Es ist das Sieb der Güte. Ist das, was du mir erzählen willst gut?“ Zögernd sagte der andere: „Nein, im Gegenteil…“ „Hm“, unterbrach ihn der Weise, „so lasst uns auch das dritte Sieb noch anwenden. Ist es notwendig, dass du mir das erzählst?“ „Notwendig nun gerade nicht…“ „Also, sagte lächelnd der Weise, „wenn es weder wahr noch gut noch notwendig ist, so lass es begraben sein und belaste dich und mich nicht damit.“

 

Ich glaube, dass sich dahinter eine Haltung der Wahrhaftigkeit abzeichnet, die im Kampf gegen das Böse und den Vater der Lüge diese Welt besser und lebenswerter macht. Bitten wir den Erzengel Michael, uns in diesem Bemühen zu stärken, der uns immer wieder daran erinnert, dass wir in unserem Reden, Handeln und Leben Maß nehmen sollen an Gott, der die Wahrheit ist. Amen. – Sven Johannsen, Pfarrer

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