Predigt Ostersonntag 2024 „Eine neue Lebenskultur“

Liebe Schwestern und Brüder,

 

Wenn Sie heute Nachmittag auf Ihrem Osterspaziergang einen Abstecher über den Altstadtfriedhof machen, dann werden Sie wohl auch wieder erstaunt feststellen, wie sehr er sich verändert hat. Bei jeder Beerdigung habe ich den Eindruck, dass wieder ein Grab verschwunden und eine neue freie Grünfläche gewachsen ist. Längst liegt nicht mehr Grabplatte an Grabplatte, sondern zwischen den traditionellen Familiengräbern, die über Generationen gepflegt werden, spannen sich immer häufiger Rasenelemente mit wild wachsenden Blumen für Urnen-beisetzungen. Oft sehen Sie nur noch ein schlichtes Holzkreuz mit Blumenschmuck als Hinweis, dass hier ein Mensch seine letzte Ruhestätte gefunden hat. Wir stecken mitten im Wandel der Friedhofskultur in unserer Gesellschaft. Die bisherige Friedhofsgestaltung in Deutschland zählt zum immateriellen Weltkulturerbe, bricht aber immer mehr auf und verändert sich. Scheinbar wird in diese Liste aufgenommen, was schon den Keim des Untergangs in sich trägt. Wir haben heute ganz neue Wünsche im Umgang mit unseren Verstorbenen. Schon lange haben sich Ruhefort und Friedwald etabliert. Immer öfter kaufen Familien für die Beisetzung einen Baum auf dem örtlichen Friedhof. Als Pfarrer bin ich dankbar, dass anonyme Beisetzungen, die nicht einmal mehr den Ort der Bestattung erkennen lassen, auf den Rückzug sind. Neue kreative Formen werden unter Umgehung der deutschen Gesetze umgesetzt: Die Asche von Verstorbenen wird zu einem Diamant gepresst oder mit einem Baum in Erde gesetzt, so dass sie miteinander verwachsen und später einmal im Garten eingepflanzt werden können. Der Umgang mit unseren Verstorbenen bildet den Anfang menschlicher Kultur. Die existenziellen Fragen „Was ist mit unseren Verstorbenen nach dem Tod“ und „Wie können wir die Erinnerung pflegen“ hat die Menschen immer beschäftigt und sich auch in der Kultur der Bestattung ausgedrückt: Ob Verbrennung, Pyramiden als monumentale Gräber, Grabbeigaben, Statuen, Amulette zur Abwehr von Fetischen u.v.m. – immer geht es um mehr als eine künstlerische Leistung. Es geht um Kultur, also den Versuch, durch äußere Zeichen das eigene Verständnis auszudrücken und zu deuten, was man hofft und empfindet.

Gräber und Friedhöfe waren nie reine Verschlusssache. Sie sind Orte der Beziehungspflege. Das erleben wir jeden Samstagvormittag auf unserem Friedhof: Man begegnet sich, hilft sich beim Herrichten der Gräber, tauscht sich aus und erzählt. Hier fühlt man sich den Menschen nahe, die man vermisst. Hier kann ich ohne Angst, verlacht zu werden, etwas wagen, was viele sonst nur daheim vor dem Bild ihres Verstorbenen tun: Ich kann mit dem Menschen, der hier ruht, reden. Das machen die Nachbarin oder der Nachbar am nächsten Grab auch. Wenn ich aber mit einem Menschen rede, dann widerspreche ich dem Tod als dem großen Schlusspunkt. Es wären ja krankhafte Selbstgespräche, wenn ich erzähle, was in der Familie geschieht oder was mich freut bzw. belastet, wenn ich nicht überzeugt wäre, dass der Mensch, zu dem ich rede, mir zuhört. So paradox es klingt, bin ich überzeugt, dass Friedhöfe viel mehr Osterorte sind als manche schön geschmückte Kirche, in der kein Wort geredet wird. Wahrscheinlich ist das auch ein Grund, warum der erste Weg nach dem Fest und der Sabbatruhe für Maria von Magdala nicht zum Tempel führt, sondern zum Grab. Markus, Matthäus und Lukas begründen den Weg der Frauen am Ostermorgen mit dem frommen Wunsch, den Leichnam Jesu zu salben. Diesen Hinweis vermeidet Johannes. Maria kommt, obwohl sie einen Toten sucht, getrieben von der Sehnsucht nach dem Leben, nach Begegnung, Berührung und Gespräch. Sie will keinen kalten Stein anschauen. Sie will dem nahe sein, der ihr Herz berührt und ihr Leben verändert hat. Von ihm kommt sie nicht los und seinen Tod kann sie nicht akzeptieren. Wie nahe ist sie da dem Empfinden heutiger Trauernder. Dann aber wird es schwierig für sie, den Auferstandenen zu erkennen. Obwohl sie sich körperlich schon zum ihm gewendet hat, braucht es eine erneute Hinwendung des Herzens zum Lebenden. Sie muss glauben, was es nicht geben kann, das ist ein Akt der Liebe, nicht der Vernunft.

Sie kann aber auch dann Jesus nicht festhalten.Es geht nicht einfach weiter wie zuvor. Auferstehung ist nicht Wiederbelebung, sondern eine neue Qualität von Leben. Irdisches Leben bleibt endlich, ist aber schon längst Stoff für die Ewigkeit. Weil wir den Keim des ewigen Lebens schon in unseren Erdenjahren in uns tragen, geht es nicht mehr um Zeitverlängerung oder gar Unsterblichkeit, sondern darum so zu leben, dass wir fähig für die Ewigkeit werden.

Am Stephanstag des vergangenen Jahres verstarb mit Wolfgang Schäuble einer der verdientermaßen angesehensten Politiker unseres Landes, der durch seine badische Nüchternheit die Dinge oft sehr klar auf den Punkt bringen konnte. Er war auch  ein profilierter und überzeugter evangelischer Christ, dessen Glaube in seiner Politik und in seiner Haltung zur Welt und zu den Menschen immer wieder spürbar wurde. In der Hochzeit der Corona-Pandemie galt für Politiker die Maxime der Vorsicht. Ansteckungen mussten vermieden und so das Leben von Menschen gerettet werden. Dafür wurden rigide und einschneidende Gesetze erlassen, die soziale Kontakte begrenzten, Menschen einsperrten und Lebensmöglichkeiten beschnitten. Heute wissen wir, dass manche Einschränkung unser Freiheit nicht notwendig waren. Aber schon im April 2020 meinte Wolfgang Schäuble, der ja nach einem Attentat und aufgrund seines Alter zur Hochrisiko-Gruppe zählte, in einem Interview mit dem Tagesspiegel: „Aber wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.“ (Der Tagesspiegel 26.4.20). Ich denke, dass so nur ein Mensch sprechen kann, der nicht in Panik um jeden Atemzug seines Daseins lebt, sondern einen Horizont hat, der über unsere irdischen Lebensdaten hinausschreitet. Nicht die Dauer unseres Lebens entscheidet, sondern die Würde und die Qualität. Ich finde das Leitmotiv der Hospizbewegung eine wirklich österliche Botschaft: „Nicht dem Leben mehr Tage geben, sondern den Tage mehr Leben geben.“ Darauf kommt es an. Unser Leben hier ist Stoff für die Ewigkeit. Wir nehmen alles mit, Freude, Sorgen, Glück und Misserfolg, Liebe und Scheitern, damit sie österlich durchstrahlt und vollendet werden. Dazu aber müssen wir gelebt haben und dürfen uns nicht nur sorgen, angstvoll bedacht zu sein, so viel Zeit wie möglich herauszuholen. Maria sieht an Jesus, dass diese Angst unbegründet ist und Leben immer ein Geschenkt Gottes bleibt, nicht unsere Leistung, sowohl das irdische wie auch das ewige Leben.

 

Der Friedhof ist aber auch der perfekte Osterort, um uns bewusst zu machen, wie zerbrechlich die Osterhoffnung ist. Wo wenn nicht hier, treffen wir auf die Gefährdung unseres Osterglaubens. Auf dem Friedhof feiern wir Ostern nicht wie hier in der Kirche mit Pauken und Trompeten, mit Orgeln und Triumphgesängen. Dort begegnen wir Menschen, die wohl an die Auferstehung glauben wollen, aber nicht auf Befehl österlich sein können. Und der Blick auf die Namen, die dort in Stein geschrieben sind, macht auch den fröhlichsten Pfarrer demütig und zurückhaltend. Wie viel spricht hier gegen gelungenes Leben: Jugendliche, die verunglückt sind, Vermisste aus Kriegszeiten, Menschen, die mitten aus dem Leben gerissen wurden, und Kranken, denen ein Tumor die Zukunft mit ihrer Familie geraubt hat. Im Angesicht dieser Name ist es nicht möglich, lautstark das Leben zu feiern. Sie machen nachdenklich und fragen, ob nicht Menschen durch das Netz von Ostern durchrutschen?

Paulus sagt einmal über unseren Osterglauben: „Denn Gott, der sprach: Aus Finsternis soll Licht aufleuchten!, er ist in unseren Herzen aufgeleuchtet, damit aufstrahlt die Erkenntnis des göttlichen Glanzes auf dem Antlitz Christi. Diesen Schatz tragen wir in zerbrechlichen Gefäßen; so wird deutlich, dass das Übermaß der Kraft von Gott und nicht von uns kommt.“ (2 Kor 4,6f) Ein Kommentator der Wochenzeitschrift „Christ in der Gegenwart“ hat Ostern die „Zerbrechliche Sehnsucht“ bezeichnet und die These aufgestellt, dass die Kirche sich lange ihrer Verkündigung viel zu gewiss war, und deshalb zumindest eine Teilschuld daran trägt, dass sie vor dem Scherbenhaufen des Auferstehungsglaubens steht: „Nur knapp ein Fünftel der deutschen Bevölkerung glaubt laut jüngsten Studien, „dass es einen Gott gibt, der sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat“. Das sind deutlich weniger Menschen, als katholische und evangelische Kirche gemeinsam Mitglieder haben. Selbst viele Christinnen und Christen haben offenbar den Glauben an Christus verloren. Auch glaubt nur noch zwischen einem Viertel (evangelisch) und einem Drittel (katholisch) der Kirchenmitglieder an die leibliche Auferstehung. Das lässt sich nicht als Lappalie abtun, hier erodiert der Kern des Glaubens. Keine besonders österlichen Aussichten.“ (Moritz Findeisen „Zerbrechliche Sehnsucht“ in: CiG 14/2024)

Tatsächlich fällt es vielen Menschen schwer, „österlich sicher“ zu sein, auch wenn sie es gerne wären. So viele spricht dagegen in der Welt und im eigenen Leben. Nachrichten und Ereignisse lassen uns darüber nachdenken, ob hier wirklich das Leben den Sieg über den Tod errungen hat.

Wir können Ostern nicht beweisen, weder durch ein leeres Grab, noch durch theologische Konstrukte. Ostern braucht auch die Bereitschaft zum Glauben. Da geht es nicht darum, sich einzureden, was es nicht geben kann, sondern sich zu öffnen für das, was möglich ist. Maria von Magdala macht die grundlegende Ostererfahrung. Sie erkennt Jesus nicht aus eigener Kraft, weil sie ihn „an der falschen Stelle und in der falschen Form“ sucht: als einen Toten im Grab. „Finden konnte sie ihn erst, als er sich finden ließ. Erkannt hat sie ihn erst, als er sich zu erkennen gab, indem er ihren Namen nannte.“ (Veronika Hoffmann; „Österliche Melancholie“ – CiG 14/2024). Auch danach ist nicht einfach alles gut und geht so weiter wir zuvor. Es ist eine neue Kultur des Lebens, bedrängt vom Schrecken des Todes und doch ermutigt von der Macht des Lebens.

 

Zur Zeit reden viele den Untergang des christlichen Glaubens herbei. Wir sehen die Zeichen der Säkularisierung an vielen Stellen und Untersuchung wie oben genannt belegen es. Manchmal aber zeigen sie auch die Chancen auf, die der Glauben noch hat. Die Autorin Evelyn Finger verweist in einem Beitrag für DIE ZEIT darauf, dass ein Drittel der 18 bis 34-Jährigen an Ostern in die Kirche gehen wollen. Das ist bestimmt keine Pflichterfüllung, sondern auch Ausdruck ihrer Sehnsucht nach Leben, auf die sie nur in der Botschaft des Evangeliums Antwort finden können. Sie schreibt: „Warum ist Ostern so beliebt? Das liegt nicht nur am Frühling und an den Osterhasen. Ostern, wie die Bibel es erzählt, ist eine große Trostgeschichte, aber man muss kein Christ sein, um sie zu verstehen und nachzuempfinden. Sie beginnt mit der Passion und endet mit der Auferstehung. Sie führt von der Kreuzigung des Heilands zur Erlösung der Menschheit, von Tod und Trauer zu Himmel und Leben.“ (DIE ZEIT vom 24.3.2024 14/2024)

 

Auch eine säkulare Welt sehnt sich nach einer Hoffnung auf Leben, das die Grenzen überschreitet. Vor wenigen Wochen hat Deutschland Abschied genommen vom Kaiser. Die Beisetzung der Fußballikone Franz Beckenbauer vollzog sich im kleinen Kreis. Für die Öffentlichkeit aber gab es eine bestens inszenierte Trauerfeier in der Allianzarena. Deutschlands Fußballgrößen nahmen in eindrücklichen Ritualen Abschied von der Lichtgestalt des deutschen Fußballs, die ja nie ganz ohne Schatten war. Uli Hoeneß und viele andere Wegbegleiter und Offizielle würdigten ihn in bewegenden Reden und Rückblicken auf sein Leben. Erinnerungen an vergangene Leistungen wurden aufgerufen, immer aber ging es um einen Rückblick. Dann aber trat der Erzbischof von München, Kardinal Reinhard Marx, ans Mikro und sprach als erster über die Zukunft: Er betete. Beten erinnert an Gottes Taten in der Vergangenheit, ist aber immer ausgerichtet an der Bitte für das Kommende. Während die anderen Redner zwangsläufig das Vergangen hochleben ließen, weitete der betende Kardinal den Blick der Trauernden für die Zukunft. Er nahm den Kaiser ins Gebet und nachdem er Gott für sein Leben dankte, schaute er nach vorne und richtete die Bitte an Gott: „Wir bitten Dich: Nimm ihn jetzt in Deine Arme. Vollende jetzt, was unvollkommen war.“

Auch eine Welt, die scheinbar sich von Gott gelöst hat, wird im Angesicht des Todes still und klammert ihre Hoffnung an den, der allein die Macht hat, dem Tod die Grenzen aufzuzeigen. Das ist Ostern im Angesicht des Grabes. Amen

Sven Johannsen, Pfr.

2024 EIne neue Lebenskultur (1)