Predigt Pfarrfest Lohr 2023 „Begegnung“

(zu einer Ausstellung von Thomas Kohnle, Krystina Kuhn und Nina Pearson)

Bezugstext: Joh 1,35-42 (2. Sonntag B)

 

Josef Emmert auf dem Fußballplatz –

Hedi Herteux in ihrem Garten hinter dem Kapuzinerkirche mit Blick auf dem Bayersturm –

Hildegard Englert an der Kreuzung Kapuzinerstraße und kleine Kirchgasse, einer der belebtesten Orte unserer Stadt. Wenn nirgends mehr jemand unterwegs ist, durch die Gässchen zur Kirche schleicht immer noch ein Tourist

Wer die Bilder von Thomas Kohnle auf dem Kirchplatz anschaut und die Texte von Krystyna Kuhn dazu liest, wird in der Regel sagen: „Ja, das passt. Josef gehört auf den Fußballplatz der. Das kleine Paradies an der Stadtmauer ist Frau Herteux’s Reich und die Idylle rund um das Haus in der kleinen Kirchgasse haben Hildegard und Rudolf Englert wirklich zu einem der schönsten Orte in unserer Stadt gemacht. Jeder von denen, die uns auf den Fotos anschauen, ist an seinem/ihren Platz, am Ort seines / ihres Lebens. Manche Dargestellten haben schon einige Stationen hinter sich, die Jüngeren vielleicht noch viele vor sich, aber jetzt gehören sie hierher. In der Regel führen sie uns nie an ihre gemeldete Adresse, sondern an Lieblingsplätze. Es ist oft Orte in unserer Stadt, die zu Corona-Zeiten gemieden wurden, weil jede Begegnung eine Gefahr darstellte. Jetzt aber laden Menschen wieder ein, sie dort zu treffen, weil sie hier ihren Platz im Leben der Stadt haben.

 

Wenn die Jünger im heutigen Evangelium fragen „wo wohnst du?“, dann geht es ihnen mehr als um die übliche Frage nach der Anschrift, die wir von Behörden, Anmeldungen und Verträgen kennen. Es ist nicht die Frage nach einer genauen Lokalisierung und ggf. zielgerichteten Zuleitung von Post. Richtig übersetzt heißt die Frage im heutigen Evangelium „Wo ist deine Bleibe?“ und nicht „Wo wohnst du?“ Die Jünger fragen nicht nach einem Dach über dem Kopf, sondern nach einem Ort, wo man bleiben und aushalten kann. Sie sind überzeugt, dass Jesus diese „Bleibe“ schon gefunden hat und ihnen helfen kann, es ihm gleich zu tun. Bleibe weckt schon den Gedanken, dass es nicht um die ewige Heimat geht, sondern um einen vorläufigen Ort, der aber dennoch ein Gegenentwurf zur Erfahrung von Flüchtigkeit und Unbeständigkeit ist, die viele Menschen geistig heimatlos und verloren erscheinen lässt. Die eigentliche Frage heißt „Wo lebst du?“, wo ist dein Zuhause, der Raum und das Umfeld, in dem du dich geborgen weißt, dich wohlfühlst und du so sein kannst, wie du bist. Wo erlebe ich dich, wie du dich wirklich siehst und lebst wie es deinen Vorstellungen entspricht. Manchmal haben wir unser Traumhaus gebaut und eingerichtet als kleines Paradies. Öfters aber zwingen uns die Umstände, uns auch mit vorgegebenem Wohnraum zu arrangieren. Wer zur Miete wohnt, kann zwar einrichten wie er / sie will, aber bauliche Veränderungen werden nicht gerne gesehen. Wer ein Haus erbt, oder mit der Familie über Generationen zusammenlebt, der muss sich beschränken und das Beste aus dem machen, was da ist. Mitunter ist der Ort, an dem wir wirklich leben, nicht die Wohnadresse, mit der sich unser Name verbindet, sondern ein Garten, eine Ecke im Wald, wo ich meine Ruhe habe, eine Küchenbank, eine Sitzgelegenheit auf dem Marktplatz, der Brunnen in der Fischergasse, an dem man sich abends trifft und die vielen Orte, die wir auf den Bildern von Thomas Kohnle sehen können. Menschen jeden Alters haben uns eingeladen, ihnen zu begegnen und dorthin zu kommen, wo sie leben: hier auf den Kirchplatz, vor das Schloss, vor Cafés, in die Wöhrde, zu Häusern in unserer Stadt. Die Frage „Wo ist deine Bleibe?“ ist auch eine Frage nach dem Lebensstil des Anderen, nach den Dingen, die ihm / ihr wichtig sind und was ihn / sie geprägt hat.

Krystyna Kuhn hat zu den Porträts von Thomas Kohnle kurze Lebensbilder verfasst, die Einblicke in Herz und Seele eröffnen. In einem kann man lesen: „Mit fünfzehn wurde er bereits Mitglied im TSV Lohr und ist dem Verein nun schon seit sechzig Jahren treu. Er geht immer wieder zu den Spielen der Lohrer Mannschaften und hilft mit, wo er nur kann. Der Verein, sagt er, hat ihm viel gegeben – sowohl als Spieler wie auch als Jugendleiter. Dafür möchte er sich revanchieren.“ Ich muss jetzt nicht explizit den Namen nennen, weil jeder Lohrer weiß, von wem diese Worte stammen. Unsere Vereine, Chöre, Kirchengemeinden, Gruppen, Verbände, Stammtische sind geistige Heimatsorte, an die wir führen können, wenn wir gefragt werden: „Wo ist deine Bleibe?“ Um das zu gewährleisten, müssen sie auch weiterhin mehr als Zweckbündnisse sein, vielmehr Gemeinschaften, in denen Menschen unterschiedlicher Generationen ein Obdach für die Seele finden, geprägt werden vom Vorbild anderer Menschen und ermutigt durch das Miteinander mit ihnen. Ich glaube, dass man eine solche Haltung, die geprägt ist von Geben und Nehmen, aus der Lebensart eines Menschen ablesen kann. Wir werden keinen lebenswerten Ort schaffen, wenn wir einseitig auf „Konsumieren“ ausgerichtet sind, und wir werden nicht attraktiv für andere sein, wenn in unseren Gruppen alle einen gestressten und gehetzten Eindruck machen und das Gefühl vermitteln, dass ihnen alles zu viel wird. Die Möglichkeit zum Engagement und die Erfahrung von Bereicherung sind die Grundlagen, dass Menschen bei uns bleiben.

Im heutigen Evangelium klingt zum ersten Mal ein Wort an, das für den Evangelisten Johannes zum Schlüsselwort für die Nachfolge Jesu wird: „Bleiben“. Bleiben heißt „da sein“, sich gegenwärtig und ansprechbar für andere zeigen, und auch mitunter aushalten, wenn es routiniert oder schwierig wird. Das ist eine menschliche Haltung, die zum Wesensmerkmal für die Verbindung mit Gott wird.

Wir haben Jahre der Corona-Angst hinter uns, in denen nicht „Bleiben“ und „Begegnen“, sondern Distanz und Wegbleiben zur Überlebensstrategie wurden. Man musste uns oft ermahnen, Kontakte zu vermeiden, bei uns zu bleiben und anderen Menschen aus dem Weg zu gehen. Wir haben erlebt, wie Verbände und Vereine in die Existenzkrise gerieten und Lohr zur Geisterstadt mutierte. Nach dem Ende haben wir uns m.E. täuschen lassen durch die Feierlust, die viele Menschen wieder auf Feste getrieben hat. Wirkliche Nähe und Begegnung haben wir nicht neu gelernt. Wir laufen in Massen aneinander vorbei, wir sitzen auf den Bierbänke nebeneinander, wir sehen volle Festivals, Konzerte und Events, aber m.E. gelingt es uns nur sehr schlecht, einander zu begegnen, uns zu interessieren für das Leben des anderen Menschen und ihm eine Tür zu öffnen in unser eigenes Leben. Ich sehe unsere Gemeinde auch im Dienst des Türöffners, der Menschen ins Gespräch miteinander bringt über das Leben, über Kultur, Kunst, die Zukunft unserer Stadt und die Art, wie wir miteinander leben wollen.

In keinem Fall kann die Ausstellung auf dem Kirchplatz der Versuch sein, eine Utopie vom alten „idyllischen“ Lohr zu bedienen. Die Menschen, denen wir auf den Bildern begegnen, sind „Mopper“ und „Schnüdel“, die oft eine lange Lebensreise hinter sich haben, aus beruflichen Gründen hier in den Spessart kamen, ihrem Partner oder ihrer Partnerin folgten oder aber nach Flucht und Vertreibung hier auf einen neuen Anfang hoffen dürfen.
Die Ausstellung „Begegnung“ lädt ein, einen neuen Blick auf die Gemeinschaft von Menschen zu wagen, die mit uns „Lohr“ bilden. Jeder hat seine Lebensgeschichte und Lebensart, aber wir sind keine zufällige Anhäufung von Einzelkämpfern.

„Wo kannst du bleiben?“, vielleicht gibt es auch einen Ort für mich, über den wir in den Austausch kommen können. Das ist mehr als ein netter sozialer Appell an die Menschlichkeit. Am Anfang seiner Bekenntnisse betet der Heilige Augustinus: Du hast uns auf dich hin geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet dir“. Es ist unser göttliches Wesensmerkmal, dass wir nicht allein in uns ruhen, sondern über uns hinausschreiten, nicht neugierig, aber interessiert sind und dass wir Suchende bleiben nach der letzten großen Heimat, in der wir bleiben können. Diese aber ist mehr als ein himmlisches Haus mit vier Wänden, es ist die Begegnung mit Gott, in der ich zur Fülle komme.

Schrittweise gehen wir darauf zu, wenn wir uns hier schon einlassen auf den anderen, in dem uns eine Botschaft Gottes erreicht, und hier beginnen einen Ort zu schaffen, in dem wir zumindest für einige Zeit eine Bleibe finden, damit wir nicht ewig auf der Flucht vor einander und dem Tod sind.

Martin Buber hat unser Leben gerade in der Begegnung mit anderen als ein Wachsen und Reifen gedeutet und festgehalten: „Am Du wird der Mensch erst zum Ich.“ Wer immer auf der Flucht ist, am anderen vorbeiläuft und sich nicht einlässt auf das Leben, der wird auch nie der werden, den Gottes Plan in ihm angelegt hat.

Häufig wird bei Hochzeiten eine kleine Geschichte vorgetragen, die ausdrückt, dass wir Menschen durchaus ein Gespür haben, wo Gott wohnt und wo wir bleiben können. Sie ist überschrieben mit dem Titel

Der Ort, wo Himmel und Erde sich berühren…“

Es waren einmal zwei Mönche, die lasen miteinander in einem alten Buch, am Ende der Welt 

gäbe es einen Ort, an dem Himmel und Erde sich berührten und das Reich Gottes begänne. Sie beschlossen, ihn zu suchen und nicht umzukehren, ehe sie ihn gefunden hätten. Sie durchwanderten die Welt, bestanden unzählige Gefahren, erlitten alle Entbehrungen, die eine Wanderung durch die ganze Welt fordert und alle Versuchungen, die einen Menschen von seinem Ziel abbringen können. Eine Tür sei dort, so hatten sie gelesen. Man brauche nur anzuklopfen und befände sich im Reich Gottes.

Schließlich fanden sie, was sie suchten. Sie klopften an die Tür, bebenden Herzens sahen 

sie, wie sie sich öffnete. Und als sie eintraten, standen sie zuhause in ihrer Klosterzelle und 

sahen sich gegenseitig an. Da begriffen sie: Der Ort, an dem das Reich Gottes beginnt, befindet sich auf der Erde, an der Stelle, die Gott uns zugewiesen hat.

Diese Tür kann überall sich öffnen: auf dem Kirchplatz, vor dem Schloss, in der Wöhrde, auf dem Fußballplatz, an der vielbesuchten Kreuzung Kapuzinergasse / Kleine Kirchgasse oder im Garten hinter der Kapuzinerkirche…

Amen. Sven Johannsen, Pfr.

Pfarrfest_2023.pdf