Predigt zum 15. Sonntag im Jahreskreis 2025 – Perspektivwechsel: Ein Verletzer erkennt seinen Gott

 

Vor zwei Wochen, am 02. Juli, war der neunte Todestag des Schriftstellers und Friedensnobelpreisträger Elieser Wiesel. Er wurde 1928 in Rumänien geboren und ist einer der Überlebenden des Holocaustes. Zahlreiche Werke hatte er verfasst und ist bis heute unter den Kennern seiner Geschichten und Romane sehr geschätzt. In seinen Buch „Geschichten gegen die Melancholie. Die Weisheit der chassidischen Meister“ schrieb er 1994:

„Jedes Wesen steht im Mittelpunkt der Schöpfung, jedes Wesen rechtfertigt die Schöpfung.“

Zunächst scheint dieser Satz für uns alle verständlich und zudem auch selbstverständlich zu sein. Schauen wir aber in die Geschichte hinein, in die Geschichte der Menschheit, in die Zeit Elie Wiesels vor 90 Jahren – und vielleicht nicht in die weite Geschichte, sondern in die Tragik vor zwei Wochen nach Mellrichstadt –, ist darin ein Apell zu verstehen und zu erkennen. Und wir brauchen auch nicht in die Geschichte zu schauen, denn auch in der vergangenen Woche ging es ja um den Lebensschutz des ungeborenen Kindes, als es um die Entscheidung der Zulassung einer Juristin zur Bundesverfassungsrichterin ging, die den Lebensschutz nicht unbedingt mit der Empfängnis eines Embryos ansetzen würde. Geistliche Haupt- und Ehrenamtliche und auch Stimmen des ZdK waren sich hierin einig: Es gilt nicht nur die Schöpfung zu achten und zu bewahren, wie wir immer wieder von allen politischen wie auch humanitären Seiten her hören. Es gilt, der ganzen Schöpfung eine göttliche Würde zuzugestehen! Eine ihr von Gott gegebene Bestimmung zum Existieren. Und das ist ein großes Problem, was es nicht erst seit gestern gibt, und das immer wieder scheitert.

 


Ein Mann, der überfallen worden ist, liegt schwer verletzt am Straßenrand. Er blutet, hat Schmerzen und weiß nicht, ob er die nächsten Stunden überleben wird. Möglichweise zieht sein Leben noch einmal an ihn vorbei, die guten wie auch die schlechten Begebenheiten; seine Kindheit, seine Jugend, seine letzten Tage. Ob er eine Mitschuld an seiner jetzigen Situation trägt, wird nicht verraten. Aber es ist auch nicht wichtig, denn jeder hat immer wieder meine Hilfe verdient!

In dieser aussichtlosen Lage sieht er von weitem her einen obersten Sprecher des Volkes auf sich zukommen. Vielleicht hilft er ihm. Die Hoffnung bleibt… – Doch er geht schnell weiter, als ob er nichts gesehen hätte. „Gut, denkt sich der Verletzte… Er hat es bestimmt eilig! Er meint es sicher nicht böse. Und für mein Leid kann er nichts.“

Danach kommt ein weiterer Mann über die Straße. Er ist auch ein angesehener Mensch. Er muß nun aber den Verwundeten sehen und ihm helfen. „Ihn habe ich schon öfters in der Stadt gesehen. Er erkennt mich bestimmt wieder. Ich versuche mich mit aller Kraft bemerkbar zu machen…“ Dieser Mann schaut kurz hin, verdeckt sein Gesicht, dreht sich ein wenig zur Seite und geht schnell vorbei.

 „Nun ist alles aus!“, denkt sich der Verletzte. Er muß wohl sterben und beginnt zu beten. Plötzlich kommt noch jemand die Straße entlang. Aber dieser wird wohl kaum behilflich sein. Dieser ist ein Fremder und von Fremden kann ich ja nichts erwarten. Doch dieser bleibt stehen! Er überlegt nicht lange, versorgt die Wunden des Verletzten und kümmert sich weiter um ihn. Der Fremde scheint in der Erzählung Jesu der Nächste zu sein!


 

Liebe Schwestern und Brüder Christi!

Ihr habt Euch nicht verhört; ein Perspektivenwechsel ist heute am Sonntag angesagt! Der Leser des Gleichnisses Jesu meint, daß der Verletzte mein Nächster ist, dem ich helfen soll. Das ist auch nicht falsch. Oftmals identifiziere ich mich mit dem Samariter, der Erste Hilfe leistet. Eine Verurteilung der beiden anderen ist dabei sehr einfach. Aber ist es nicht zu einfach?

Wenn ich in mich hineinschaue, wird es immer wieder Situationen geben, in denen ich anders handle, als es von mir erwartet wird. In der Rückschau hätte ich auch anders gehandelt. Aber in diesem Moment war das, was ich getan habe, für mich wichtiger. Zudem ist es auch im Leben so, daß es kein „Richtig“ und kein „Falsch“ gibt, sondern einen Spielraum des Möglichen. Jesus gebraucht sicher ein hartes und ernstes Beispiel und die Antwort scheint einfach zu sein, was zu tun gewesen wäre. Es werden aber nicht die anderen gemahnt, sondern ich selbst! Und wenn ich gedanklich nicht die Perspektive des Samariters, sondern des Verletzten einnehme, dem geholfen wird, verschiebt sich die Rechtfertigung des Menschen. Denn der Mittelpunkt, der zu bewahrenden Schöpfung, bin dann ich selbst. Und der »Fremde«, der auf dem Lebensweg vorbeikommt und mir Gutes tut, kann nur derjenige sein, der durch Mose spricht: „Der Herr wird dir Gutes tun.“ [Dtn 30,9c] Der Herr kommt vorbei. Ich traue es ihm nicht zu. Er sieht bestimmt auch anders aus, als ich ihn mir vorstelle. Aber gerade im Leid ist er nahe, würde Elie Wiesel bestätigen.

„Jedes Wesen steht im Mittelpunkt der Schöpfung, jedes Wesen rechtfertigt die Schöpfung.“

Gottes verletzte Schöpfung ist immer wieder Sein Mittelpunkt von Beginn des menschlichen Lebens bis hin zum Tod und darüber hinaus. Und wenn ich die Würde der Schöpfung anerkenne, kommt auch durch mich das Gute die Straße des Lebens für den Anderen entlang.

 

Kaplan Tommy Reißig.

 

Bild: Martha Gahbauer, in: Pfarrbriefservice.de

Zitate von Elie Wiesel: Geschichten gegen die Melancholie – Die Weisheit der chassidischen Meister. Freiburg, 1994. Übersetzer: Hanns Bücker. Quelle: https://beruhmte-zitate.de/zitate/125989-elie-wiesel-jedes-wesen-steht-im-mittelpunkt-der-schopfung-je/ [letzter Zugriff: 04.07.2025].

Zur Wahl einer Bundesverfasungsrichterin: Volker Resing, https://www.cicero.de/innenpolitik/richterwahl-im-bundestag-zerrbild-oder-argernis [letzter Zugriff: 10.07.2025]. Und: https://katholisch.de/artikel/62944-zdk-besorgt-ueber-moegliche-verfassungsrichterin [letzter Zugriff: 04.07.2025].