Predigt zum 30. Sonntag im Jahreskreis – Das Gebet der Buchstaben

 

Liebe Schwestern und Brüder im Gebet verbunden,
Es gibt eine alte jüdische Geschichte, die schon oft weitererzählt wurde und auch schon in anderen Predigten Erwähnung fand. Doch weil ich denke, dass sie heute gut passt, erzähle ich sie noch einmal nach. Möglicherweise kennt sie doch nicht jeder von Ihnen: Ein kleiner Junge geht an einem hohen jüdischen Feiertag in die Synagoge. Dort waren sehr viele Menschen zum Gebet versammelt, die ganz angestrengt mit Gott sprechen wollen. Aber irgendwie haben sie das Gefühl, dass ihre Gebete nicht so richtig von Gott verstanden werden. Die Türe zum Himmel scheint geschlossen zu sein. Weil der kleine Junge lernen will, wie es denn »richtig« geht, mit dem Beten, versucht er, genauso konzentriert zu sein, wie die Erwachsenen. Nur hat der Kleine ein großes Problem: Lesen kann er bisher nur die zwei ersten Buchstaben des Gebetsbuches. Darum schickt er frei ein Gebet von sich selbst formuliert in den Himmel hinauf.

Dann sagte er zu Gott: „Mehr kann ich leider nicht! Sei bitte so gut und füge die einzelnen Buchstaben des Alphabetes so gut zusammen, dass Du sie als ein Gebet verstehst – von A bis Z.“ Und dieses Gebet wird von Gott angenommen und gehört. Es ist das Gebet, das mit dem Herzen gesprochen wird, was zu Gott gelangt und nicht das vorgelesene Gebet den Buchstaben nach aus einem Buch.

 

Es handelt sich dabei um eine sehr schöne und ansprechende Geschichte, wie ich persönlich finde. Und sie besitzt eine wertvolle Weisheit: Wie ich bete, ob im Stehen oder im Sitzen oder auf dem Bett, ist zweitrangig. Wie ich meine Hände falte oder halte auch. Aber womit ich bete, ob rein mit dem Kopf oder in meinem Inneren – das ist entscheidend. Der Pharisäer in der Geschichte, dessen Berufsstand es wieder einmal von Jesus abbekommt, spricht kein Gebet zu Gott, sondern hält eine glänzende Lobrede auf sich selbst. Er will nur sich vergewissern, dass er ein besserer Mensch in seinen eigenen Augen zu sein scheint. Und er zählt Gott auf, was er alles kann. Er definiert sich darüber, was er alles nicht ist.

Ihm gegenüber steht ein armer Mensch, der große Gewissensbisse hat. Er schämt sich vor Gott und es ist ihm sogar unangenehm, zu beten. Sein Gebet ist keine Dankesrede, sondern ein geheimer Hilfeschrei im Stillen: Ich habe viele Dinge getan, die Dich Gott, die andere Menschen und sich selbst geschadet hat. Er hat das aber selbst für sich erkannt und nicht durch das Urteil eines anderen. Das ist der Grund, warum er von Gott gehört wurde, weil er ehrlich zu sich selbst war. Mehr braucht es nicht!

Es passiert selbstverständlich im normalen Gebetsleben, dass ich nicht immer gleich und nicht durchgängig mit den Gedanken an jedem Wort hängen kann. Das wird oft bedauert; aber es geht wahrscheinlich jedem von uns so. Das ist auch nicht die Voraussetzung dessen, dass es ein gutes Ansprechen an Gott ist oder nicht. Es kommt auf meine Absicht dahinter an und nicht auf jeden Buchstaben, den ich einzeln bedenken muss. Auch wenn mir das schwer fällt und ich unbedingt konzentriert sein möchte. Das ist auch verständlich! Im Gespräch mit meinen Mitmenschen bin ich zumindest aber auch nicht immer voll und ganz bei der Sache dabei und verstehe dennoch meist, was sie von mir möchten oder mir erzählen – es geht um den Zusammenhang des Gesagten. Und ich bin der Überzeugung, dass auch Gott weiß, was ich von ihm im Moment meines Gebetes möchte. Er kennt schließlich die Buchstaben, die wir Menschen untereinander verwenden.

 

Liebe Schwestern und Brüder!
Aufrichtigkeit und Mut, die schlechten Ereignisse in meinem Leben selbst zu erkennen, sind die „Schlüssel für die Himmelstüre“, wenn ich es so ausdrücken darf. Gott möchte nicht, dass ich mich ohne Grund herunter rede, aber er möchte auch nicht, dass ich über die anderen Menschen stelle. Vor Ihm bin ich ihnen gleich; auch ich habe Fehler genauso wie sie. Eventuell ist es auch nur ein kleiner Fehler, wie einen Buchstaben nicht lesen zu können, wie der kleine Junge aus der jüdischen Geschichte. Trotzdem kann es ein Sache sein, die ich nicht gut erfüllen kann. Doch darauf kommt es nicht an. Es kommt darauf an, mit welcher Absicht und welcher inneren Einstellung ich das erledige, was mir wichtig ist – sei es das Sprechen mit Gott oder auch die täglich Begegnung mit den Menschen. Da muss nicht alles perfekt sein von A bis Z; das wird es auch nicht. Perfektion wird aber im Himmel nicht verlangt. Es wird geschaut, mit wie viel Herzblut ich mein Leben vor Gott gelebt habe und wie aufrichtig ich mit mir selbst umgegangen bin. Amen.

Kaplan Tommy Reißig.

 

Bild: Peter Weidemann, in: Pfarrbriefservice.de