„So ist Versöhnung“ – Predigt 24. Sonntag A

Liebe Schwestern und Brüder

 

Eine schreckliche Woche liegt hinter uns und den Menschen in unserer Stadt. Die furchtbare Nachricht von den Ereignissen am 8.9.2023 haben diese Tage wi eine dunkle Wolke überschattet. Es war aber auch die Woche, in der die Schulen wieder ihren Unterricht aufnahmen. Zu dieser ersten Schulwoche gehören auch die Gottesdienste, die die Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer mit den Seelsorgern feiern.

Anfangs waren wir der Meinung, dass die vorbereiteten Konzepte völlig verworfen werden und die Schulgottesdienste mehr den Charakter von Trauergottesdiensten annehmen müssten. Dieser Eindruck hat sich dann seit Dienstag, dem Tag der großen Trauerfeier, stark verändert, so dass mit Ausnahme der Mittelschule alle anderen Schulen zwar in den Fürbitten oder an anderer Stelle des getöteten Schülers gedacht haben, aber weitgehend doch ihre Gottesdienste als Eröffnungsfeier für das neue Schuljahr begangen haben. Ist das herzlos? Ich hoffe einmal, dass die Mehrheit von Ihnen sagen wird, dass das richtig war. Mancher wird sogar der Meinung sein, dass es Zeit war, einen Schlussstrich zu ziehen und sich wieder ganz der Zukunft zuzuwenden. Ganz so so sehe ich es nicht.

Es war deutlich spürbar, dass nach den ersten Tagen der Trauer, des Erschreckens, der Unruhe und Ratlosigkeit, die gerade Jugendliche und junge Erwachsene in Lohr ergriffen hatten und oft ziellos zwischen Kirche und Schule umhertrieb, das Requiem und die anschließende Verabschiedung zwar emotional sehr schwierige Momente waren, aber auch für viele Trauernden eine Befreiung darstellten. Das gemeinsame Weinen in der Kirche und auf dem Friedhof war sicher ein äußerst bewegender und auch schmerzhafter Augenblick, aber dennoch ein wichtiger Schritt nach vorne. Ein Schüler hat im Anschluss einem unserer Seelsorger gesagt, dass er sich jetzt gelöst fühlt. Tatsächlich haben Lehrerinnen und Lehrer, aber auch wir Seelsorgerinnen und Seelsorger gespürt, dass sich die Atmosphäre in der Stadt und in den Schule verändert. Die Tür zur Zukunft ist aufgetan. Das heißt nicht, dass jetzt das, was geschehen ist, Geschichte ist, die wir hinter uns lassen, sondern dass wir mit dieser Last im Rucksack uns auf den Weg nach vorne begeben in ein neues Schuljahr und in daas alltägliche Leben unserer Stadt.

Deutlich habe ich das empfunden während der Feier der Mittelschule, die ja am stärksten von den Empfindungen der Trauer und des Erschreckens betroffen ist. Mit der Schulfamilie haben wir am Freitag zum Schulschluss eine Feier an der Stelle gestaltet, an der viele Menschen seit Samstag Blumen, Kerzen und Fotos abgelegt haben. Wir haben uns noch einmal erinnert an alles, was Jugendliche und Erwachsene in dieser Woche durchlebt haben, vom Erschrecken, der Trauer über unsere Hilflosigkeit und Wut bis hin zu einer unvergleichlichen Erfahrung von Solidarität, Menschlichkeit und Zusammenhalt, die gerade die Mittelschule auszeichnen. Dann aber kam ein schwieriger Moment: Die Erinnerungsstelle soll geräumt werden, damit das Schulgelände wieder vom Tatort zum Lebensort der Schülerinnen und Schüler werden kann. Stattdessen wird die Schulgemeinschaft mit der Familie später einen Baum pflanzen als Zeichen der Erinnerung und der Hoffnung. Wir haben den Schülerinnen und Schüler erklärt, dass der Boden für das Pflanzen des Baumes bereitet und gelockert werden muss, und sie und ihre Lehrerinnen und Lehrer eingeladen, eine Blume, eine Kerze, ein Bild mitzunehmen und an einen vorbereiteten Ort im Schulhaus zu tragen, wo sie noch einige Zeit stehen können. Ein Boden, der hart wie Beton ist, kann keine Stelle sein, auf der etwas wachsen kann. Es kommt, so unser Impuls, auf ihre Bereitschaft an, diese Stelle wieder freizugeben und so von einem Gefängnis der Trauer zu einem fruchtbaren Boden der Hoffnung zu machen. Es war beeindruckend zu sehen, wie die Schülerinnen und Schüler sich darauf einließen und alle Erinnerungsgegenstände in die Schule übertrugen. Nichts ist vergessen, aber der Boden ist bereitet, dass Zukunft möglich wird.

Ich glaube, dass in diesem einfachen Gestus die Botschaft des heutigen Evangeliums anschaulich verstehbar wird: Vergebung ist der Weg zu einer neuen Freiheit, die mich löst aus den Fesseln der Trauer und der Wut.
Das Evangelium fordert zur Vergebung auf in einem Maße, die Menschen völlig überfordert: grenzenlos und in jedem Fall. Können wir das? Können das die Menschen, die jetzt in besonderer Weise von der Tat auf dem Gelände unseres Schulzentrums betroffen sind? Dürfen wir das überhaupt von ihnen verlangen?

Zunächst einmal gilt es, der Botschaft des Evangeliums genau auf die Spur zu kommen. Es scheint ja, dass wir uns im ersten Schuldner wiedererkennen sollen, der zur Vergebung aufgefordert wird mit der Drohung des Gerichts. Heutige Exegeten tendieren dazu, dieser Identifikation nicht zu folgen.

Wir lesen zur Zeit die sog. „Gemeinderegel“ des Matthäus, in der der Evangelist seiner Gemeinde Themen ans Herz legt, die ihm besonders wichtig in der Nachfolge Jesu sind. Zu ihnen gehört die Überzeugung, dass ohne Vergebung keine Gemeinschaft gelingt. Aber, so sieht es z.B. der Neutestamentler Ulrich Lutz, die Gemeinde findet sich wohl kaum in der Schuldsituation des ersten Dieners wieder. Die Summe, die er seinem Herren schuldet, ist so astronomisch hoch, dass sie nicht an die Wirklichkeit der Gemeindemitglieder anschließen kann. Von 10.000 Talenten ist die Rede. Das Jahreseineinkommen von König Herodes d. Großen, der in der Bevölkerung als sagenhaft reich galt, wird auf ungefähr 900 Talente geschätzt. Ganz Israel brachte zu dieser Zeit eine Steuerlast von 200 Talenten auf. (Uta Poplutz, Das Matthäusevangelium, Stuttgart 2016 ) Wenn Jesus diese Schuld auf seine Jünger bezogen hätte, dann wird sich wohl kaum jemand davon angesprochen gefühlt haben. Anders ist es im Falle des zweiten Dieners, dessen Schuld durchaus im Bereich des Vorstellbaren lag, bei ca. 1500 Euro. Das Gleichnis Jesu ist auch eine Mahnung an die Mächtigen und Reichen, aber nicht eine Drohung an seine Jünger.

Vielmehr bilden die Worte Jesu eine Ermutigung an seine Gemeinde, dass sie die Kraft zur Vergebung hat, auch wenn es schmerzhaft ist. Jesus lässt aber offen, zu welchem Zeitpunkt sie gelingen kann.

Versöhnung und Vergebung können nicht übereilt geschehen. Ein ganz einfaches Beispiel aus den Grundschulen: Wenn sich zwei Schüler auf dem Pausenhof heftig streiten, dann fordern wir sie meist am Beginn der nächsten Stunde auf, sich die Hände zu reichen und hoffen, dass dann alles gut ist. Das ist es aber oft nicht. Der, der angegriffen wurde, fühlt sich in seinem Schmerz nicht wahrgenommen, der „Angreifer“ ist weiterhin überzeugt, dass er im Recht war. Es dauert nicht lange, meist nach Schulende, und der Streit geht von neuem los. Wenn eine Aufarbeitung unterbleibt, ist eine erzwungene Versöhnung nutzlos. Es muss allen Beteiligten deutlich werden, dass es nach der Eskalation ein gemeinsames Ziel geben muss: Die Umstände wieder zum Bessern zu verändern und Beziehungen zu heilen. Dafür braucht es mitunter auch eine lange Distanz, gerade dann wenn Gewalt im Spiel war. In unserer Stadt ist es nicht die Zeit, schon von Vergebung und Versöhnung zu reden. Vielmehr steht das Bemühen im Vordergrund, erste Schritte zu gehen, aus der Spirale von Gewalt und Gegengewalt und der Fixierung auf die Vergangenheit auszubrechen. Wir können nicht vorschnell Schritte fordern, zu denen Menschen zu diesem Zeitpunkt nicht in der Lage sind. Das ist auch nicht die Absicht des Evangeliums. Matthäus macht deutlich, dass alle, denen die Gemeinschaft am Herzen liegt, auch schwere Schritte zugemutet werden.

Vor einigen Jahren veröffentlichte der verstorbene Erzbischof Desmond Tutu mit seiner Tochter Mpho das „Buch des Vergebens“. Desmond Tutu, ehemals anglikanischer Erzbischof von Kapstadt, Freund Nelson Mandelas und späterer Träger des Friedensnobelpreises, war lange selbst Opfer der Apartheid-Politik in Südafrika und Anführer des gewaltfreien Widerstands gegen die diskriminierende Rassentrennung. Ab 1995 war er Vorsitzender der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission. Sein ganzes Leben stellte er unter das Ziel, eine Basis für die gemeinsame Zukunft aller Menschen in Südafrika aufzubauen. Schlüsselwort war für ihn dabei immer der Begriff „Versöhnung“. Sie ist nur denkbar, wenn das Opfer vergeben kann und der Täter Vergebung möglich macht, also zu einer neuen Sicht auf sein Handeln findet und seine Haltung ändert. Vergeben heißt nicht, zu vergessen. Die Geschichte der Verletzung muss benannt und erzählt werden, erst danach ist an Vergebung zu denken.
In seinem Buch schreibt er:

Der Zyklus der Vergebung kann nur in Gang gesetzt und abgeschlossen werden, wenn absolute Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit herrschen. Vergebung erfordert, die Verbrechen laut auszusprechen und das Leid beim Namen zu nennen, das wir erlitten haben. (…) Ich bin verletzt, sagen wir. Ich wurde betrogen, erklären wir. Ich leide und trauere (…) Vielleicht kann ich niemals vergessen, was ihr mir angetan habt, aber ich werde euch vergeben. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, damit ihr mir nie wieder Leid zufügt. Ich werde keine Vergeltung üben, nicht gegen euch und nicht gegen mich selbst.“

Es ist gut vorstellbar, dass ein Mensch, dem großes Leid zugefügt wurde, oft einen langen Weg zurücklegen muss bis zu dieser Haltung. Sie gipfelt letztlich in der Entscheidung, von der Vergeltung zur Versöhnung hinüberzugehen. Sie verlangt Mut und Kraft, so dass Desmond Tutu schreiben kann:

Es ist klar, dass Vergebung und Versöhnung keine sentimentalen Dinge sind. Versöhnung ist nichts für Weichlinge. Das ist eine harte Sache. Und wenn es uns nur darum geht, uns selbst zurückzukriegen, Auge um Auge, wie es heißt, dann werden wir die Welt ziemlich blind verlassen.“ (Desmond Tutu, Das Buch des Vergebens)

Wenn das aber gelingt, dann sind wir am Ziel einer langen Reise, auf der das Gebrochene und Zerrissen zu heilen beginnt. Daran ist im Augenblick hier nicht zu denken, aber die Hoffnung dürfen wir bewahren. Dann aber feiern wir, wie es ein neues geistliches Lied beschreibt, das Fest nach langer Trauer, entzünden das Feuer in der Nacht und öffnen das Tor in einer Mauer, damit die Sonne wieder leuchten kann. Denn so ist Versöhnung, Vergeben und Verzeih’n. Amen

(Pfarrer Sven Johannsen)

24_Vergebung_Tutu.pdf