Es fehlen nur noch rund 400 Meter, dann sie sich einen Lebenstraum erfüllt. Aber leider sind es nicht ein paar Schritte auf einer Laufstrecke, sondern die Höhenmeter, die Alix von Melle und ihr Ehemann, der Extrembergsteiger Luis Stitzinger, noch überwinden müssen, um den Makalu in Nepal, den fünfthöchsten Berg der Welt zu besteigen.
Im Mai 2010 steht das Bergsteigerehepaar mit einem Freund vor der Entscheidung: Minus 45 Grad – es ist eindeutig zu kalt und wenn sie nicht rechtzeitig absteigen, drohen Erfrierungen, die auch den Tod bedeuten können. Von Melle und ihr Mann werden so kurz vor dem Ziel umkehren, ihr Freund weitergehen und ankommen. Sie werden es noch ein zweites Mal versuchen, vier Jahre später, und zweihundert Meter höher steigen, dann aber erneut abbrechen und umkehren, weil sie Symptome einer Höhenkrankheit bemerken. Alix von Melle muss nicht enttäuscht sein. Sie ist die erfolgreichste Höhenbergsteigerin Deutschlands und hat bis heute sieben Achttausender bestiegen. Aber auch noch viele Jahre später kommen ihr die Tränen, wenn sie vom „Scheitern“ am Makalu spricht. Die Nähe des Gipfels zieht an, doch im Vorfeld hatte sie schon entschieden, umzukehren, wenn die Tour zu gefährlich wird. Bergsteiger, die solche Höhen erreichen wollen, brauchen als Lebensversicherung eine Umkehrzeit, die sie vorher festlegen und sie abbrechen lässt, auch wenn sie ihr Zielt noch nicht erreicht haben. 1996 schreckt der Tod von acht Bergsteigern als „Unglück vom Mount Everest“ auf, weil sie diese Umkehrzeit verstreichen ließen. Als Alix von Melle Jahre später kurz vorm Gipfel des Makalu in Nepal aufgibt, rettet ihr das womöglich das Leben. Und dennoch schmerzt es. (Vgl. ZEIT WISSEN 5/2023: Katharina Kunert; Soll ich das jetzt durchziehen)
Psychologen sagen uns, dass die Entscheidung, gegebenenfalls ein Vorhaben abzubrechen, sinnvollerweise vorher festgelegt wird. Wenn das Ziel zum Greifen nahe ist, ist man am wenigsten in der Lage, eine klare Entscheidung zu treffen, ob man aufgeben oder weitermachen soll. (s.o.)
Wir Menschen sind ehrgeizig und wollen unserer Ziele umsetzen. Das Umfeld sagt es uns immer wieder: „Wer aufgibt, hat verloren. Du musst auch mal durchhalten, wenn du etwas erreichen willst. Geh an die Grenzen.“ In der Regel ist Aufgeben keine Option für uns, aber manchmal doch die einzig richtige Entscheidung. Diese Entscheidung aber kostet dann mehr Mut als das „Durchziehen“. Keiner will als „Verlierer“ verlacht werden oder zum Gespött werden für Stammtische und Gespräche hinter dem Rücken.
Dabei verlangt die Vereinbarung einer Umkehrzeit einen mutigen Blick auf uns selbst, auf die Fähigkeiten, Begrenzungen und realistischen Möglichkeiten, v.a. auch ein kritisches Überprüfen der Träume, in denen wir uns möglicherweise selbst überschätzen. Die Versuchung, uns zu Wagnissen hinreißen zu lassen, die uns am Ende überfordern und nicht glücklich werden lassen, gehört zu unserer Natur. Eine Umkehrzeit verlangt von mir, dass ich weiß, wer ich bin, was ich kann und wo meine Grenzen sind.
Wie leicht hätte es heute im Evangelium Johannes, sich größer zu machen als er ist. Wichtige und einflussreiche Menschen legen ihm Worte in den Mund, mit denen er sich schnell in die erste Reihe vordrängen könnte: „Bist du der Messias?“ – „Bist du Elija?“ – „Bist du der Prophet?“
Ein einziges „Ja“ hätte genügt und Johannes wäre zur unbestrittenen moralischen Autorität im Israel der Zeitenwende aufgestiegen. Aber er kennt seine Grenzen. Durch die Zurückweisung dieser drei Titel „Messias, Elija, Prophet“, die fest in der jüdischen Tradition verankert sind, stellt er sich selbst in Frage und provoziert die kritische Rückmeldung: „Warum taufst du dann, wenn du nicht der Christus bist, nicht Elija und nicht der Prophet?“
Johannes rechtfertigt sich nicht, sondern widmet sich der Aufgabe, für die er bestimmt ist, und verweist auf Christus, der unerkannt schon mitten unter ihnen steht. Er provoziert, fasziniert, polarisiert und fällt v.a. auf, aber er hat für sich selbst eine Umkehrzeit, nämlich den Moment, in dem er den Blick auf den verstellt, dessen Bote und Zeuge er ist. Johannes erliegt nicht dem Ruf, die Verkündigung des Gottes-reiches selbst in die Hand zu nehmen und so Israel nach seinen Vorstellungen umzugestalten. Er weiß, wann es richtig ist, abzubrechen und sich an den Rand zu stellen, um Christus den Vortritt zu lassen. Im Rückblick aber macht er sich so für ewige Zeiten zu einem Ankerpunkt des Glaubens. Um die Zeiten-wende traten in den Jahrzehnten vor und nach Jesus viele charismatische Gestalten auf, die den Anspruch erhoben haben, der Messias zu sein. Sie sammelten mitunter für einige Zeit größere Gruppen von Anhängern, sind aber letztlich alle dem Vergessen anheimgefallen, soweit ihnen nicht von Monty Python im Film „Das Leben des Brian“ ein satirisches Denkmal gesetzt wurde. Johannes aber, der sich nicht zum Messias erklärt , ist als Zeuge und Bote zu einer festen Größe in der christlichen Überlieferung geworden. Möglicherweise gab es tatsächlich eine Konkurrenzsituation zwischen den Anhängern des Johannes und den Jüngern Jesu, aber die Überlieferung des Neuen Testaments tilgt ihn nicht aus der Erinnerung, sondern gibt ihm einen festen Platz als Künder des Kommens Jesu. Johannes ruft nicht nur zur Umkehr, er hält sich selbst an seine „Umkehrzeit“, in dem er nicht in Anspruch nimmt, was ihm nicht zusteht. In einem modernen geistlichen Lied hat der Priester Peter Gerloff die Rolle des Johannes treffend beschrieben:
Vorläufer sein, fremd und allein, Zeichen am Weg, aber nicht das Ziel, / Kommendes sehn, Wüsten begehn, Läufer, nicht König im großen Spiel: / dazu rief der Herr der Welten dich, Johannes, in seinen Dienst,/ und du ließest sein Wort gelten, als du mahnend am Fluss erschienst.
Johannes steht für Menschen, die wissen, dass es nicht das oberste Ziel des Lebens sein kann, „die eigene Sache“ durchzuziehen, sondern die ahnen, dass sie durch das Zurücknehmen der eigenen Person und den Verzicht auf den Glanz, ganz vorne zu stehen, einer größeren Sache dienen. Das gilt nicht nur für Bergsteiger und Propheten, sondern auch für uns in unserem Leben in der Familie, in einem Dorf, in einer Gemeinde.
Unser Problem ist dabei immer, dass Ziellinien zum Durchhalten verleiten. In unserm Kopf spielt sich dann schnell ein Denkprozess ab: „Ich habe so viel schon investiert. Alles wäre verloren und umsonst. Was haben all die Schmerzen im Knie gebracht, wenn ich nach 30 km den Marathon abbreche? Das interessiert danach niemanden mehr. Ich bin einfach gescheitert.“ Das gilt nicht nur im Sport: Wer aufgibt, bekommt vielleicht Verständnis und Mitleid, aber eben keine Belohnung und nicht das Gefühl, erfolgreich zu sein. Es sind die Ängste, das Gesicht zu verlieren oder zu kurz zu kommen, die uns manchmal davon abhalten, rechtzeitig die Reißleine zu ziehen: Wenn Kollegen mit der gleichen Ausbildung und dem gleichen Dienstalter mich auf der Karriereleiter überholen, bin ich schnell versucht, nach einem Aufstieg zu streben, obwohl ich mich an meiner Stelle richtig fühle. Wenn Freundinnen oder Freunde beruflich Erfolge vorweisen können, ich selbst aber „nur“ Hausfrau und Mutter oder Hausmann und Vater bin, überfallen mich schnell Sorgen, ob ich nicht auch etwas Besseres hätte bekommen können, auch wenn ich genau in der Aufgabe, die ich habe, mein Lebensziel gefunden habe. Wenn ich als älterer Mensch sehe, dass Gleichaltrige mehr Besuche von ihren Kindern bekommen oder sogar mit ihren zusammenleben, dann verbittern mein Leben schnell die Fragen, ob meine Kinder undankbar sind oder ich etwas in der Erziehung falsch gemacht habe? Unbeachtet bleiben dann der Umstand, dass möglicherweise die eigenen Kinder weiter entfernt leben und sich bemühen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten Zeit für mich zu haben. Möglicherweise habe ich auch viele andere Freunde und Nachbarn, die sich um mich kümmern.
Vielleicht braucht es manchmal auch eine Überprüfung der eigenen Ziele und die Nachfrage, wie will ich eigentlich leben. Johannes der Täufer, der Vorläufer in der zweiten Reihe, erinnert uns daran, dass wir glücklich werden, wenn wir unseren Platz im Leben finden, nicht wenn wir alles erreicht und mitgenommen haben, was sich uns anbietet. Die Ziele zu erreichen, die sich wirklich im Plan des eigenen Lebens offenbaren, ist unsere Lebensaufgabe, in der wir Christus und den Menschen dienen, weil wir nicht in der ständigen Angst leben, dass andere uns in den Schatten stellen oder wir nicht die Erfolgreichsten sind.
Johannes hat seinen Platz am Jordan gefunden. Dort wird er zum Zeugen für Christus. Auch für uns hat Gott einen Platz, an dem wir glücklich werden können, weil wir versöhnt sind mit dem Leben, das viele Erfolge, aber auch manche Enttäuschungen für uns bereithält. Amen.
Sven Johannsen, Pfr.
Download der Predigt: