Liebe Schwestern und Brüder
Sie war die Lady Diana des Mittelalters: Elisabeth von Thüringen. Ihre 24 Lebensjahre waren ein Leben wie ein Roman. Heute würde sie regelmäßig die Klatschspalten der Hochglanzmagazine füllen.
Geboren und aufgewachsen im europäischen Hochadel: Tochter des ungarischen Königs und von mütterlicher Seite her Nachfahrin einer der vornehmsten Familien ihrer Zeit, dem Haus Andechs-Meran, gegen die die Windsors in England wie billige Emporkömmlinge erscheinen. Tanten und Onkel aus diesem Geschlecht besetzen Königs- und Fürstenthrone in ganz Europa oder stehen als Bischöfe und Äbtissinnen den reichsten Bistümern und Klöstern des Abendlandes vor. Ihre Mutter Gertrud, standesbewusste Tochter des Grafen Berthold IV von Andechs, der seine Macht ausdehnen konnte von Franken bis zur Adria, galt als politisch äußerst ehrgeizig und bereit, die eigenen Ziele mit allen Mitteln durchzusetzen. Eine Familie von Heiligen und Verbrechern, in der Elisabeth aufwächst.
Wahrscheinlich wäre schon ihre Geburt und die Feierlichkeiten den einschlägigen Magazinen eine Schlagzeile wert gewesen, mehr noch ihre Verlobung im Alter von vier Jahren mit Hermann von Thüringen, dem künftigen Herrscher über Thüringen und Abkömmling der Ludowinger, die in der gleichen Liga des Hochadels wie das Haus Andechs-Meran spielten. Auf die Wartburg zieht eine kindliche Fürstin ein, für die sich das Leben von einem Tag auf den anderen verändern wird. Sie kommt in eine zerrissene Welt: Ihre künftige Schwiegermutter Sophie, streng und fromm, übernimmt ihre Erziehung, lehrt sie das Benehmen einer Herrscherin und v.a. auch Gottesfurcht. Ihr Schwiegervater Hermann ist verstrickt in alle politischen Händel auf deutschen Boden und bestrebt, seine eigene Familie immer auf der Seite des Gewinners im Streit um die Kaiserkrone zu positionieren. Seine Hofhaltung auf der Wartburg zählt zu den Zentren des kulturellen Lebens in Europa. Er war bestimmt kein Kind von Traurigkeit und weltlichen Genüssen sehr zugetan.
Schon früh erlebt Elisabeth den Zusammenprall von gegensätzlichen Strömungen: Auf der einen Seite das selbstbewusste Aufbegehren des Adels gegen die Kirche, die Blüte einer weltlichen Kultur und einer überbordenden Freude am Leben. Auf der anderen Seite stehen eine intensive Suche nach Gott, die Beschäftigung mit der Frage, was der Wille Gottes ist, und die Armutsbewegung der Dominikaner und v.a. der Franziskaner lässt als Gegenentwurf zum unüberlegten Leben im Rausch an vielen Höfen und zu apokalyptischem Fanatismus der Sekten. Das Kind Elisabeth wächst in diesen Spannungen nicht unbeschwert auf. Ihre Mutter wird ermordet und die Aussteuer bleibt aus. Als der künftige Ehemann früh stirbt, sackt sie auf der Rangliste des Hofes ganz tief ab. Wer kann mit dem armen Kind, das keine Zukunft mehr hat, noch etwas anfangen? Dann aber – wie das Happy End eines Sonntag-abend-Films – findet sie im jüngeren Bruder, Ludwig, dem neuen Thronfolger, die Liebe ihres Lebens. Es ist wirklich eine Liebesheirat, denn es hätte für ihn „bessere“ Partien gegeben. Ludwig ist ein typischer Herrscher seiner Zeit, verflochten in alle politischen Ränkespiele des Reiches, alles andere als ein Heiliger, aber er steht voll und ganz zu seiner Elisabeth, die als junge Frau langsam ihren Platz im Leben gefunden hat. Auch sie erfüllt ihre Standesaufgaben, repräsentiert bei offiziellen Anlässen als Landgräfin, bringt drei Kinder zu Welt und übernimmt in Zeiten der Abwesenheit ihres Mannes die Regentschaft. Die Sorge um die Armen ist für eine mittelalterliche Landesfürstin Pflichtaufgabe, aber Elisabeth geht weiter: Sie lässt nicht nur Almosen verteilen, sie packt an. Sie baut unterhalb der Wartburg ein erstes Hospital, pflegt die Kranken selbst und wäscht die Verstorbenen. Die Empörung am Hof ist groß, aber die vorbehaltlose Unterstützung ihres Mannes kann sie weiterhin das verwirklichen lassen, was sie als ihren Auftrag Gottes erkannt hat.
Sie ist geradezu vorbildhaft die Entfaltung des Gleichnisses von den anvertrauten Talenten. Elisabeth ist ein Mensch, der Angst hat: Angst vor dem Gericht Gottes. Sie unternimmt Bußübungen, die uns heute den Kopf schütteln lassen. Der ungute Einfluss ihres Beichtvaters Konrad von Marburg, der sie regelrecht quälte, von ihren Freundinnen isolierte und sie dazu brachte, später ihre Kinder anderen anzuvertrauen, hat immer Anlass zu Spekulationen gegeben, ob sie nicht auch psychisch manipulierbar war. Ohne Zweifel es gab eine Angst in Elisabeth, die in uns Befremden erregt. Aber Elisabeth wurde nicht von Konrad zur Heiligen geformt, sie hat ihren Weg dazu gefunden. Sie hatte ihren eigenen Kopf, entzog sich auch mitunter den Anweisungen ihres geistlichen Ratgebers und entwickelte aus ihrem Glauben und Denken heraus eine Vorstellung von ihrem Weg vor Gott. Stark geprägt hat sie das Beispiel des Franziskus. In ihr war ein starker Drang nach einer Lebensweise, die Gott gefällt, aber auch ein selbstbewusste Geist, der ihr Handeln als freie Entscheidung erkennbar macht. Sie war eine begnadete Frau, der die Heiligkeit nicht in die Schoss fiel, sondern die ihre menschlichen Fähigkeiten hingab für Gott und die Menschen. Sie konnte voll Wärme sein und gleichzeitig unsensibel und zupackend, zart und zerbrechlich und voller Energie und Ausdauer. V.a. war ihre eine Gabe zuteil, die der verstorbene Religionspädagoge Dieter Wagner aus Fulda so beschrieb: „Sie konnte weinen, während sie weitentrückt lächelte. Traurigkeit und Fröhlichkeit klangen bei ihr ineinander, waren gleichzeitig vorhanden.Heiterkeit war in ihren Tränen, und Tränen waren in ihrer Heiterkeit. Sie, die mit dem Herzen lebte, doch dabei niemals den Kopf verlor, war im Leid zu Hause und vermochte dennoch, ungezwungenen Frohsinn auszustrahlen“ (https://www.bistum-erfurt.de/presse_archiv/elisabethjahr_2007) Diese wunderbare Gabe Gottes war der fruchtbare Boden ihrer große Talenten: ihre Wärme, Sensibilität für kranke, gebrechliche und alte Menschen, ihr Fähigkeit zur Liebe gerade gegenüber Schwangeren und Müttern, und eine zuversichtliche Gelassenheit, die sie auch mit Undank gut umgehen ließ. Nach dem überraschenden Tod ihres Mannes 1227 auf dem Weg in den V. Kreuzzug wird die Situation auf der Burg unerträglich. Gemobbt und ausgegrenzt von den neuen Herrschern verlässt sie die Wartburg, findet keine Aufnahme in Eisenach und muss mit ihren Kindern in einem Stall unterkommen. Eine Anekdote erzählt: Auf dem Weg zur Kirche begegnet Elisabeth einer alten Frau, die sie in der Vergangenheit auf ihrem Krankenlager betreute. Man erwartet, dass die wieder zu Kräften Gekommene ihre Wohltäterin freundlich grüßt und sich ihr gegenüber als dankbar erweist. Doch das Gegenteil ist der Fall. Die Alte rempelt Elisabeth in der engen Gasse, durch die stinkendes Abwasser fließt, an und stößt sie absichtlich in die Kloake. Elisabeth stolpert, fällt hinein und ist von Kopf bis Fuß voll Dreck. Doch sie reagiert nicht wütend oder drohend, sondern rappelt sich auf, geht zum Brunnen und wäscht ihre Kleider. Trotz dieser bodenlosen Gemeinheit bewahrt Elisabeth die Fassung und ihr heiteres Gemüt. Was diese junge Frau, die alles hinter sich lassen wird, ihre Kinder anderen Familien anvertraut, an den Rand des Fürstentum nach Marburg geht und dort ein Hospital gründet, auszeichnet, ist der Umgang mit ihrer Angst, von der sie sich nicht besiegen lässt. Sie wird sich verzehren und bereits mit 24 Jahren sterben, aber sie war keine Verliererin trotz vieler Rückschläge. Sie hat den Weg vollendet, den sie immer einschlagen wollte. Das lässt sich gut erkennen in der Wahrnehmung durch andere Menschen, die sie als lebensfroh und zuversichtlich erlebten. Sie war nicht verbittert über das „böse Spiel“, das man mit ihr getrieben hatte, den Undank von Menschen oder verzweifelt an einem Schicksal, das ihr alles raubte und sie früh an ihre Grenzen brachte. Sie lehrte ihren Freundinnen und Mitschwestern im Hospital in Marburg die wegweisende Maxime: „Wir müssen die Menschen froh machen.“ Sie hatte die Gabe dazu und nützte sie. Der emeritierte Bischof von Erfurt, Joachim Wanke, sagte über sie: „Weil Gott das Wichtigste in ihrem Leben war, waren ihr die Menschen, ungeachtet ihrer sozialen Stellung, wichtig.“
Elisabeth, so Bischof Joachim Wanke, hätte über sich selbst gesagt: „Ich kann nicht anders als lieben!“ Das ist das Talent, das Gott ihr anvertraute, und das sie einsetzte für Gott und die Menschen. Sie hat den Kern der christlichen Religion offengelegt: „Sie ist Einladung zur Liebe – zur Liebe, die auf Gottes Liebesofferte antwortet, zur Liebe, die jene liebt, die Gott in seine Liebe einschließt – den Mitmenschen, den Nächsten.“
Es wäre völlig falsch, einen Menschen wie Elisabeth mit frommen und romantischen Legenden zu überdecken und sie so verklärt auf einen Sockel zu erheben, so dass man sie nur bewundern, aber nichts von ihre lernen kann. Auf Altären hat eine Frau, die sich hinunterbeugte in die Pfützen Eisenachs und zu den Krankenbetten in Marburg gar nichts verloren. Da wirkt sie fremd und entrückt. Sie gehört an unsere Seite als Ratgeberin, wie wir in diesem Leben unsere Talente, die Gott uns gibt, entfalten können: Durch eine Liebe zu den Menschen, die nicht ausschließt und uns wach sein lässt für die Not und die Armut des anderen.
Ich möchte noch einen weiten Bogen schlagen zu den aktuellen Ereignissen, die viele von uns in diesem Tagen beschäftigen, wenn sie die Bilder aus dem Heiligen Land sehen. Auf welche Seite soll man sich stellen? Auf die Seite Israels, das einen unvergleichlich schrecklichen Terroranschlag erlebt hat? Auf die Seite der Menschen im Gaza-Streifen, die alles verloren haben und in Angst leben? Ich glaube, dass sich solche Alternativen verbieten, weil sie das Leid von Menschen relativieren. Wir leben in einer Welt, in der Gewalt zu einem täglichen Phänomen geworden ist. Es ist utopisch zu glauben, dass wir so viel Einsicht schaffen, dass alle Waffen schweigen. Ein Staat muss das Recht haben, sich gegen Terror zu verteidigen im Rahmen des Erlaubten. Eine Gesellschaftsordnung, die Freiheit und Gleichheit der Menschen garantieren will, muss auch fähig sein, sich zu verteidigen. Wir können auch nicht das Leid der einen gegen das Leid der anderen ausspielen und so Begründungen schaffen, die den Schrecken erklären wollen. Die wahrhaft Schuldigen sitzen in sicheren Unterkünften im Iran und in anderen Staaten. Von dort aus instrumentalisieren sie Menschen für ihre Zwecke.
Wenn die Liebe die Gabe ist, die Gott uns gibt, dann öffnet sie unser Herz sowohl für das Leid der Familien in Israel als auch für die Familien im Gaza-Streifen. Jüdische Familien, die um Geiseln bangen und um Opfer trauern, leben in Angst, weil sie sehen wie in allen Teilen der Welt sich fanatisierte Bewegungen Gehör verschaffen und die Zerstörung Israels und die Auslöschung des jüdischen Volkes als Forderung skandieren. Keine Kritik an der Politik des Staates Israel darf uns je überhören lassen, dass jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger auch in unserem Land voller Sorgen sind, nicht mehr den Mut haben, sich in der Öffentlichkeit zu ihrem Glauben zu bekennen und drohende Wolken eines wachsenden Antisemitismus aufziehen sehen. Es gibt hier kein „ja, aber“. Aber auch die Not der palästinensischen Familien, die gerade alles verlieren, abgeschnitten sind von Hilfsgütern, Strom und ausreichender medizinischer Versorgung, muss uns zu Herzen gehen. Ich glaube nicht, dass man Mitleid mit den einen haben und die anderen übersehen kann. Man muss kein Freund der israelischen Regierung sein, wenn man das Leid jüdischer Familien betrauert. Man muss kein Anhänger der Hamas sein, wenn man die Not palästinensischer Familien in einem Kriegs- und Krisengebiet beklagt. Es ist Gottes Gabe an den Menschen, dass wir aus Liebe zu ihm lieben können ohne Unterschied, ohne Menschen einzuteilen in Freund und Feind, und dass wir als höchste Maxime des Menschseins das Wort der heiligen Elisabeth anerkennen: „Wir müssen die Menschen froh machen.“ Dazu sind wir in der Welt und dazu dienen Religion, Politik, Wirtschaft und Militär. Amen. Sven Johannsen, Pfarrer