Predigt 4. Sonntag der Fastenzeit „Gottes Gericht“

Liebe Schwestern und Brüder

Ein ehrenamtlicher Richter versucht in Hamburg einem Angeklagten einen Freispruch zu verkaufen. Im Dezember 22 wurde ein Schöffe zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt, weil er einige Jahre zuvor einem wegen Bestechung angeklagten Bauunternehmer das Angebot machte, gegen die Bezahlung einer hohen Summe einen Freispruch zu erwirken. Der Bauunternehmer ging zum Schein darauf ein, informierte aber seine Anwältin, die dann schließlich den Fall öffentlich machte. (DIE ZEIT v. 14.122022)

„Ein bestechlicher Laienrichter“ – eine willkommene Skandalgeschichte nicht nur für eine großformatige Tageszeitung, die ihre Überschriften in Blutrot aufmacht. Wir sind zwar sicher, dass wir in einem Land leben, in dem die Justiz unabhängig und frei agieren kann, aber auch in unserem Land gibt es Justizskandale und Fehlurteile. Ralf Eschelbach, Richter am Bundesgerichtshof, schätzt in einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung, dass jedes vierte Strafurteil ein Fehlurteil sei. (SZ vom 17. Mai 2015) In der Regel liegt das nicht an Bestechlichkeit oder Unfähigkeit der Richter, sondern an Irrtümern der Zeugen. Die größte Fehlerquelle für falsche Urteile liegt in den verblassten Erinnerungen von Beteiligten oder Augenzeugen. Es ist eine sprichwörtliche Wahrheit: „Vor Gericht bekommt man selten Gerechtigkeit, sondern ein Urteil.“ Auch wenn wir stolz auf ein funktionierendes Justizsystem sein können, mit Gerichten bekommt man es lieber nicht zu tun. Da ist man bekanntlich wie auf hoher See allein in Gottes Hand. Gott aber muss sich auskennen: Denn Gericht ist ein zentrales Thema der biblischen Überlieferung. Besonders in der prophetischen Verkündigung nimmt es breiten Raum ein. Der Gedanke vom Gericht erklärt das Unheil, das dem Volk Israel widerfährt. Weil Israel von Gott abfällt, nicht auf ihn bedingungslos vertraut, sich anderen Götter zuwendet oder sich fremden Herrschern anbiedert, wird es von Gott zum Exil verurteilt. Die großen Propheten Jesaja, Jeremia, Ezechiel sehen im Gericht Gottes den entscheidenden Grund, warum Jerusalem 587 v. Chr. zerstört und am Ende rund 20.000 Menschen den Weg ins Zweistromland als Exilierte antreten müssen. Nicht die Stärke der fremden Völker besiegt Israel, sondern Gott hat über sein Volk Gericht gehalten und es verurteilt aufgrund seiner Untreue. Der Gedanke vom Gericht Gottes ist bis ins Neue Testament hinein ein wesentlicher Bestandteil der biblischen Überlieferung und durchzieht die Verkündigung der Täufers Johannes, des Apostels Paulus und auch die Predigt Jesu. Jeder aber setzt eigene Akzente: Die Propheten und mit ihnen Johannes der Täufer sehen das Gericht als unausweichlich. Immer wieder ist die Rede vom „Tag des Herrn, dem schrecklichen und furchtbaren Tag“ (Joel 2,11). In der christlichen Liturgie hatte dieser Gedanke bis 1970 seinen festen Platz in der Sequenz der Totenmesse „dies irae, dies illa“, „Tag des Zornes, jener Tag, der die zeitliche Welt in Asche auflöst“. Noch immer durchfährt mich ein leichter Schauder, wenn in Mozarts Requiem Chor und Orchester machtvoll und wuchtig diese Sequenz anstimmen.

Gericht ist weder in profaner noch in religiöser Dimension ein angenehmer Gedanke, wenn man nicht gerade so geblendet ist, dass man es allein auf die anderen Menschen als Racheakt Gottes beschränkt sieht. In der Vorstellung von Gericht kommt der Gedanke zum Tragen, dass auch das, was verborgen ist, zu Tage und kommt und ich weder mich noch andere, v.a. Gott, täuschen kann. Die ganze Wahrheit über mein Leben offenlegen, selbst wenn ich mir keiner großen Geheimnisse bewusst bin, die Vorstellung ist nicht erfreulich. Irgendwo steckt doch der Fehler in mir, der dann unbarmherzig öffentlich gemacht wird und dem ich mich stellen muss. Kein Wunder, dass die heutige Theologie und Verkündigung den Gedanken vom Gericht gerne ausspart. Aber wir werden der Botschaft Jesu nicht gerecht, wenn wir das Gericht übergehen. Eher stellt sich, gerade ausgehend vom heutigen Evangelium, die Frage, was sieht Jesus im Gericht? Wie wichtig ist es für seine Verkündigung?

Für den Täufer Johannes ist das Gericht die zentrale Größe, für Jesus nicht. In seinem ersten Auftreten macht Jesus deutlich, was den Mittelpunkt seiner Predigt bildet: „ Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,15) Inhalt seiner Verkündigung und seines Wirkens ist die Frohbotschaft, dass das Reich Gottes schon unter den Menschen angebrochen und erfahrbar ist als eine neue Lebensmöglichkeit, die die Menschen annehmen und auskosten sollen und dürfen. Gerade im Johannesevangelium wird dieses Angebot aber auch mit der Forderung nach Entscheidung verbunden. So sehr die Güte und Zuwendung Gottes im Vordergrund stehen, unverbindlich bleibt die Predigt Jesu nicht. Aber gegenüber der Verkündigung vor ihm baut Jesus nicht die Drohkulisse eines zornigen und strafenden Gott auf, um seiner Botschaft Nachdruck zu verleihen. Im heutigen Evangelium kommt eine Argumentation zum Tragen, die die Verantwortung ganz beim Menschen sieht: Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird. Wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet; wer nicht glaubt, ist schon gerichtet, weil er nicht an den Namen des einzigen Sohnes Gottes geglaubt hat.“

Jesus legt keinen Fifty-Fifty-Joker vor. Was Gott will, ist eindeutig: Er hat seinen Sohn gesandt, um die Welt zu retten. Gericht geschieht durch die Verweigerung. Der Mensch spricht sich selbst das Urteil, weil er die Möglichkeit zu echtem Leben in der Freiheit der Kinder nicht annimmt. Der Mensch, der sich gegen das Leben entscheidet, hat sich selbst gerichtet. Ich glaube nicht, dass man die Worte Jesus heute so deuten muss, dass aus dem Gericht nur herauskommt, wer eindeutig als getaufter Christ sich zu Jesus bekennt. Damit hätten ja die meisten Menschen schon von vornherein sich selbst ohne eigene Schuld gerichtet. Ich denke eher, dass es um eine Grundhaltung geht, die sich für den glaubenden Menschen so darstellt, dass er sich angstfrei leben kann, weil er sich bewusst auf Jesus Christus und seinen Willen ausrichtet. Er bezieht eindeutig Position für das Leben, das Gott heilig gesprochen hat und das Jesus angenommen hat. Sich für das Leben und die Bewahrung zu entscheiden, ist nicht auf Christen beschränkt. Als Christen halten wir fest, dass Gott jeden Menschen retten will, weil er ihm seine Liebe zuwendet. Diese Liebe Gottes aber macht den Menschen nicht unfrei, so dass er gar keine andere Chance hat, als einmal gerettet zu werden. Wir wären unmündig, wenn Gott, der uns nach seinem Ebenbild als denkende und zur Entscheidung fähige Menschen geschaffen hat, nicht auch die Möglichkeit lässt, anders zu handeln als auf seine Liebe in gleicher Weise zu antworten. Das ist zwar verwunderlich, liegt aber in der Natur des Menschen, dass er unvernünftig sein kann. Deswegen erlaubt die Liebe Gottes zu uns Menschen nicht, dass ich jetzt tun und lassen kann, was ich will, weil ich schon auf der sicheren Seite bin. Gott, der die Welt liebt, überlässt sie nicht ihrem Schicksal. Weder droht er dem Menschen und treibt ihn in die Enge noch wird er am Ende, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, einfach Bilanz ziehen und uns sagen: „Das war zu wenig. Tut mit leid.“ Wir leben in einer Welt, in der man durchaus am Guten zweifeln kann und versucht ist, sich auf den Mainstream von Egoismus einzulassen. Dagegen aber setzt Gott ein Zeichen der Ermutigung in der Sendung seines Sohnes und in seinem bleibenden Lebensbeispiel. Der erfahrene Katechtet Dieter Emeis hat das einmal so ausgelegt: Solange wir noch in der Zeit leben, bleibt das Zeichen der unermüdlichen Liebe Gottes für uns aufgerichtet. Diesem Zeichen sollen wir glauben, dass es die Macht hat zu überwinden, was uns von Gott und voneinander trennt. Wo wir dem Gott dieses Zeichens trauen, öffnen sich Wege in eine gerechte und versöhnte Zukunft der Menschen. Das ist das christliche Evangelium, die frohe Botschaft. Es gibt die Gefahr, an der Bosheit und Grausamkeit mancher Menschen, an der beherrschenden Macht des Geldes, am Egoismus der Habenden, am Wahnsinn des Rüstungswettlaufs, an den sündigen Strukturen vieler Gesellschaften – auch der unseren – zu verzweifeln. Gott – so dürfen wir sagen – verzweifelt nicht an der Welt, die ja immer seine Welt bleibt. Er liebt sie. Und er setzt unermüdlich auf die heilende Kraft seiner Liebe.“

Wenn wir Eucharistie feiern, bekennen wir, dass Gott seinen Sohn gesandt hat, unsere Welt zu retten und dürfen uns ermutigen lassen, auch öffentlich ohne Angst vor Verlusten als Kinder Gottes unsere Freiheit vor kleinlichen Versuchungen und Abhängigkeiten zu leben. Wir sollen die Welt nicht noch dunkler machen, sondern Licht der Hoffnung und der Zuversicht bringen. Dann sind wir schon gerettet. Amen.

Sven Johannsen, Pfr.

2024 Gericht