Predigt Neujahr 2024 „Unser neues Jahr nimmt wieder in der Krippe seinen Anfang“

Weihnachten 2023 in der Geburtsstadt Jesu, in Bethlehem: leere Straßen, gedrückte Stimmung in den Gottesdiensten, keine fröhliche Prozession mit Pfadfindern, Micky Maus, Weihnachtsmann, Dudelsack und vielen Touristen, kein Weihnachtsbaum auf dem Krippenplatz, dem zentralen Platz vor der Geburtskirche, stattdessen an der Mauer der Kirche eine schwarze Figurengruppe, die die Geburt in Trümmern darstellt. An diesem bedrückenden Ort beginnt auch dieses neue Jahr. Denn wir rechnen unsere Kalenderjahre immer nach dem Geburtsfest Jesu. Können wir uns nicht schönere Orte vorstellen?

Früher haben Sonnenanbeter in den Weihnachtstagen neidisch nach Australien geschaut, aber in diesem Jahr wird der Kontinent auf der Südhalbkugel unserer Erde von Unwettern und Naturkatastrophen erschüttert.

Wie wäre es denn mit einem der Trump-Tower in den USA? Auch dort passt der Anfang der Zeit nicht hin: Fanatismus, Populismus, Hass und Menschenverachtung wollen wir nicht als Quelle unserer Zeit haben. Ähnliches gilt für Moskau, Peking und andere Metropolen der Welt. Wir finden wohl keinen Ort der Erde, der besser geeignet ist als Anfang unserer Zeitrechnung als Betlehem.

Einem frommen Mönch, Dionysius Exiguus, verdanken wir diese Verortung. Er begründete im Jahr 525 n. Chr. unsere noch immer gültige Zeitrechnung, indem er bei der Berechnung des nächsten Ostertermins feststellte, dass die Geburt Jesu im 754 Jahr nach der Gründung der Stadt Rom stattfand. So hat er den Anstoß gegeben, unsere Zeit einzuteilen in die Epochen „ante Christum natum“, also „vor Christi Geburt“ und „post Christum natum“, also „nach Christi Geburt“. Auch wenn man mitunter heute auf Formulierungen  wie „vor bzw. nach unserer Zeitrechnung“ stößt, bleibt für uns die Geburt Jesu im Stall von Bethlehem der Ursprung für unsere Jahre. Wir lesen sogar noch manchmal die Angabe „anno Domini“, „im Jahr des Herrn“. Es scheint uns selbstverständlich zu sein, dass wir die Geburt Jesu zum Ausgangspunkt für die Zählung unserer Jahre nehmen, aber ist das so logisch? Zunächst einmal liegen die dreißig Jahre nach seiner Geburt bis zu seinem ersten öffentlichen Auftreten völlig im Dunkeln. Mit Ausnahme der Wallfahrt des 12jährigen Jesu zum Tempel berichten uns die biblischen Autoren nichts über sein Leben in Nazareth.  man ein wenig anders erwarten, wenn hier die Berechnung der Zeit beginnt. Nicht nur dass sich Dionysius um ein paar Jahre verrechnet hat, er legt auch kein Datum fest. Der 25. Dezember ist zu seiner Zeit schon der selbstverständliche Festtag für die Feier der Menschwerdung, aber keineswegs rechnerisch im Kalender belegt. Vergleicht man andere Kulturen, dann ist der Beginn mit der Geburt eines Menschen eher ungewöhnlich. Die Römer haben ihre Jahre nach den Amtszeiten von Konsuln gezählt. Der Buddhismus orientiert sich am Todestag von Siddhartha Gautama und Muslime starten ihre Zeit mit der Übersiedelung Mohammeds von Mekka nach Medina im Jahr 622 n. Chr. Legen sich von ihrer Bedeutung nicht auch für uns die Ereignisse von Tod und Auferstehung Jesu näher? Das hätte sogar den Vorteil, dass wir sie ziemlich sicher bestimmen könnten. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder wurde Jesus am Freitag, den 7. April, des Jahres 30 oder am Freitag, den 3. April, des Jahres 33 gekreuzigt. Der Ostertag wäre dann entweder der 9. oder 5. April des jeweiligen Jahren. Das sind verlässliche Daten und werden nicht bestritten wie das Geburtsdatum. Der 1. Januar ist noch dazu römisches Erbe. An diesem Tag traten die neuen Konsuln jeweils ihre Amtszeit an. Wer auch immer in der Folgezeit eine neue Ära einläuten wollte, wählte dafür ein besonderes Ereignis oder die Erinnerung an eine Heldentat, so auch die französischen Revolutionäre und die italienischen Faschisten. An Versuchen hat es nie gemangelt, aber sie sind alle gescheitert. Daher kehren wir wieder zurück in den Stall von Bethlehem. Nur hier kann unsere Zeit in rechter Weise beginnen, auch wenn der Geburtsort Jesu schwierige Zeiten erlebt und vom Dunkel umgeben ist.

Dieser Ort redet uns nicht ein, dass wir Menschen die Zeit in Händen haben, sondern dass sie ein Geschenk ist von dem, der vor, über und nach aller Zeit ist, der Ewige, unser Gott. Bethlehem ändert so die Blickrichtung für unser Verständnis von Zeit. Wir mühen uns, die Zeit  effizient zu nutzen, zu sparen, zu investieren und zu gewinnen. Aus Zeit muss man etwas machen. Dabei haben wir kein Ahnung, was morgen sein wird. Wir verlassen uns auf das Gewohnte, aber können doch nicht sagen, ob uns nicht schon der morgige Tag völlig aus der Bahn wirft oder zum glücklichsten Menschen der Welt macht. Wir können die Zeit nicht steuern, wir können sie nur füllen. Der ehemalige UNO-Generalsekretär Dag Hammarskjöld, der ja auch ein glaubender Mensch war, hat den schönen Gedanken formuliert: „Den Rahmen unseres Schicksals dürfen wir nicht wählen. Des Rahmens Inhalt aber geben wir.“

Der Rahmen für 2024 ist grob schon gesteckt. Wir sehen die Bilder, die den Auftakt markieren und wir müssen ernüchternd eingestehen, dass manche von ihnen uns noch das ganze Jahr begleiten werden oder in ähnlicher Weise durch andere Ereignisse sich aufdrängen werden.

Wir verfolgen die militärischen Konflikte im Heiligen Land und in der Ukraine und können jetzt schon vorhersehen, dass wir auch am Ende des Jahres 2024 noch mit ihnen konfrontiert sein werden.

Die ganzen Weihnachtstage erschrecken uns Bilder vom Hochwasser in Niedersachsen und anderen Teilen unseres Landes und lassen uns ahnen, dass auch 2024 wieder Naturkatastrophen die Welt und auch unser Land heimsuchen werden, und dass unsere Gesellschaft Menschen braucht, die selbstlos sich als Helfer in den Dienst anderer Menschen in Not stellen. Neben den schrecklichen Bildern von Wassermassen und flüchtenden Menschen sind es auch die von Rettungskräften, Hilfsdiensten und Freiwilligen, die unser Herz berühren.

Wir haben wieder eine Nacht hinter uns, die von Angst vor Gewaltexzessen und dem Erschrecken über Bombendrohungen gegen den Kölner Dom begleitet waren. Auch 2024 werden wir von sinnlosen Gewaltausbrüchen weltweit und auch in unserem eigenen Land erschüttert werden.

An diesem Rahmen für 2024 können wir nichts ändern. Aber wie wir mit der Zeit umgehen, das liegt weitgehend in unserer Hand. Wir können nicht alles kontrollieren, aber eine Haltung entwickeln, die uns in allen Tiefen bestehen und in allen Höhen nicht übermütig werden lässt. Dazu ist die Rückkehr in den Stall am Neujahrstag eine gute Hilfe. Hier begegnen wir Menschen, die uns gute Begleiter sein können.

 

Maria:

Wir treffen eine junge Frau, die nach der Begegnung mit dem Engel wahrscheinlich in kürzester Zeit reif und erwachsen wurde. Die behütete Atmosphäre des Elternhauses ist im Stall von Bethlehem nur noch eine schöne Erinnerung. Hier stellt sie sich der Wirklichkeit als Mutter eines Kindes, für das sie Verantwortung übernommen hat, als Heimatlose, die von hier nach Ägypten flüchten muss, und als glaubende Frau, die sich bereit erklärt hat, in den Plan Gottes einzutreten, und spätestens jetzt erlebt, wie herausfordernd ihr „Ja“ wird. Da steht keine verklärte, süßlich wirkende Krippenfigur vor uns, sondern eine starke Persönlichkeit, die beim Besuch im Haus ihrer Cousine Elisabeth selbstbewusst das Magnificat anstimmt, das große Loblied auf Gott, der die „Mächtigen vom Thron stoßen und die Niedrigen erhöhen wird.“

Sie lässt sich auf einen Weg ein, den sie sich so nicht vorgestellt hat und der sie noch viele Tränen kosten wird. Die stellvertretende Chefredakteurin der ZEIT, Sabine Rückert, die gemeinsam mit ihrer Schwester Johanna Haberer im Podcast „Unter Pfarrerstöchtern“ über die Bibel spricht, erkennt in Maria eine Frau an ihrer Seite und schreibt:

„Doch wie so viele Mütter muss auch Maria sich später verabschieden von all den Plänen, die sie für ihr Kind gemacht hat. Keiner ihrer Träume wird wahr. Noch keine fünfzig Jahre alt, hält sie den toten Sohn im Arm. Die Pietà. Wahrzeichen aller Mütter, durch deren Seele ein Schwert gedrungen ist. Nein – in der holden Jungfrau am Kripplein erschöpft Maria sich nicht. Sie steht auch für alle Abgründe, die sich auftun im Leben einer Frau.“

Am Beginn dieses Jahres ist sie eine gute Helferin, mit all den unvorhersehbaren Herausforderungen umzugehen, die auf uns warten. „Sie bewahrte alles in ihrem Herzen und dachte darüber nach.“ Sie ist ein Mensch, der aus der Schatzkiste der Erfahrung mit Gott die Stärke zieht, auch unter dem Kreuz nicht zu wanken.

 

Josef und die Hirten:

Sie stehen immer ein wenig am Rande, dabei sind sie durchaus wichtig. Josef ist der Mensch, der sich nicht in die erste Reihe drängt, aber da ist, wenn er gebraucht wird. Er denkt nach und handelt dann konsequent. Er ist einer, der im Hintergrund steht, aber auf den man sich verlassen kann in allen Wechselfällen des Lebens, auch dann wenn er selbst Zweifel hat.

Zu ihm stellen sich die Hirten als weitere Randfiguren. In der Krippen dürfen sie nie direkt vor dem Jesuskind stehen, denn sonst verstellen sie ja den Blick. Sie wirken mitgenommen vom Leben und kommen völlig unvorbereitet auf das Wort des Engels hin. Aber sie haben den Weg zum Kind nicht aufgeschoben, wie wir es in vielen wichtigen Anliegen oft tun. Sie sind da: mit Schlapphut, Flicken an den Kleidern und ihren Krummstäben.

Josef und die Hirten haben die Botschaft des Engels gehört: „Fürchtet euch nicht!“ Am Beginn dieses Jahres können sie uns helfen, nicht sorglos zu sein, aber ohne Angst diese Tage zu leben. Zu viele Menschen sehen schwarz und lassen sich von der Furcht lähmen. Josef und die Hirten, Menschen im Hintergrund, treten dann hervor, wenn sie gebraucht werden, und handeln ohne Furcht.

 

Schließlich liegt vor uns das Kind in der Krippe:

Bis ins 18. Jahrhundert hinein haben die Päpste versucht, den Weihnachtstag als Neujahr durchzusetzen. Zeitweise war es sogar von der Kirche strikt verboten, den 1. Januar zu feiern. Aber irgendwann hat man sich mit dem Datum ausgesöhnt und diesen Tag gedeutet als Oktavtag von Weihnachten und als Tag der Namensgebung Jesu, also eindeutig auf das Geheimnis seiner Menschwerdung hin geordnet. Oben habe ich schon die Überlegung eingeworfen, ob nicht der Ostertag der bessere Neujahrstag wäre. Aber die Rückkehr zum Kind im Stall ruft uns in Erinnerung, dass das Leben nicht seinen Wert durch Erfolg bekommt, sondern durch sein Dasein. Dieses Kind wird unter schwierigen Bedingungen aufwachsen. Dennoch hat es alles, was es braucht: Menschen, die es lieben und alles tun, damit es ihm gut geht. Ein Kind, so unbeschadet von den Hinterhältigkeit der Welt, ruft uns in Erinnerung, wie wenig wir brauchen, um glücklich zu sein, und wir arglos wir sein dürfen, um zum Segen zu werden. Dieses Kind lädt ein, uns mit Paul Gerhardt am Anfang des Jahres  zu freuen:

„Da ich noch nicht geboren war,/ da bist du mir geboren/ und hast mich dir zu eigen gar,/ eh ich dich kannt, erkoren./ Eh ich durch deine Hand gemacht,/ da hast du schon bei dir bedacht,/ wie du mein wolltest werden“ 

Trotz aller Übeltäter, die 2024 von sich reden machen, wird es wieder sein Jahr, ein Jahr des Herrn“ und wir dürfen mit Gerhardt bekennen:

„Ich sehe dich mit Freuden an/ und kann mich nicht sattsehen;/ und weil ich nun nichts weiter kann,/ bleib ich anbetend stehen./ O dass mein Sinn ein Abgrund wär/ und meine Seel ein weites Meer,/ dass ich dich möchte fassen!“

Ihn zu fassen, wird uns auch 2024 nicht gelingen, aber vielleicht gelingt es uns, in seiner Spur zu bleiben und so zu spüren, dass es ein Jahr des Herrn ist, das wir leben. Amen.           Sven Johannsen, Pfr.

Die Predigt als Download:

24 Das neu Jahr beginnt in Bethlehem