Predigt Weihnachtstag 2023 „Jesus nicht Barbie“

Barbie“ – der fleischgewordene Traum zahlreicher Generationen von Mädchen und vieler Männerphantasien. Hollywood feierte in diesem Jahr die sensationelle Menschwerdung der blonden Puppe mit Idealmaßen, die ein zweifelhaftes Frauenbild vorgibt und im Laufe der Jahrzehnte das Selbstbewusstsein vieler junger Frauen zerstört hat, weil ihre Proportionen niemals diesem trügerischen Vorbild entsprechen konnten.

Im Juli 2023 kam der erste Realfilm über eine Puppe nach mehr als zehn Jahren Planung und mit Kosten von über 260 Millionen Dollar in die Kinos. Er katapultierte sich sehr schnell an eine der Spitzenpositionen in der Liste der erfolgreichsten Spielfilme. 2023 war die Komödie um die blonde Superpuppe in auffallendem Pink der weltweit umsatzstärkste Film des Jahres und flutete rund 1,5 Mrd. Dollar in die Kassen der Filmgesellschaft Warner Bros. Noch mehr staunt ein in Sachen Barbie völlig ignoranter Zeitgenosse wie ich darüber, dass die Kritiken für den Film ausgesprochen gut sind und die Deutsche Film- und Medienbewertung das Prädikat „besonders wertvoll“ verlieh. Tatsächlich nutzen die Autoren die Klischee-Figur schlechthin, um in humoriger Weise die Spannung zwischen den Geschlechtern zu thematisieren. Wie Wikipedia zu berichten weiß, verlässt Barbie mit ihrem Begleiter Ken das perfektes Leben in Barbieland, um in der realen Welt von Los Angeles Heilung für ihre Selbstzweifel zu finden. Barbie wird Mensch, schrill, arglos und sehr tough. Während Barbie tapfer im Kampf gegen die bösen Manager der Herstellerfirma Mattell bestehen muss, kehrt Ken in die Traumwelt zurück und führt dort das System männlicher Dominanz ein, das er in der wirklichen Welt kennengelernt hat und äußerst verlockend findet. Gerettet aus den Fängen der männlichen Unternehmer kehrt die Heldin zurück und befreit alle anderen Barbies aus dem Joch des Patriarchats, das Ken errichtet hat. Das große Happy-End mündet dann in einer Versöhnung zwischen den Barbies und Kens, die ab jetzt nicht mehr nur Anhängsel der schönen Blondinen sein sollen. Barbie selbst aber entscheidet sich, künftig als Mensch in der realen Welt zu leben. Klingt unterhaltsam und lustig.
Ganz neu ist die Idee nicht, Puppen, Comic-Helden oder fiktive Personen in die Welt der Menschen eintreten zu lassen. Das berühmteste Vorbild dürfte wohl das Kinderbuch „Der Zauberer von Oz“ sein, das auch heute noch auf Bühnen noch Kinderherzen bewegt. Aber auch die Komödie „Die Truman-Show“, in der ein Serienheld aus einer künstlich erschaffenen Heimat nach 29 Jahren ausbricht und in die wirkliche Welt kommt, diente als Vorlage.
„Menschwerdung“ ist ein Thema für Hollywood und die Phantasie der Menschheit. Die Griechen wussten darum, dass ihre Götter, allen voran der Göttervater Zeus, immer wieder menschliche Gestalt annahmen, um die Erde zu betreten und in der Regel amouröse Abenteuer zu erleben. Ein Monopol haben wir Christen also auf das Thema „Menschwerdung“ nicht. Daher stellt sich heute auch die Frage, warum der Festinhalt des heutigen Weihnachtstages, an dem wir die Menschwerdung des Gottessohnes feiern, nicht auch nur eine phantastische Erfindung von cleveren Autoren sein soll. Durch alle Jahrhunderte hindurch gab es in den eigenen Reihen Zweifel an der Vorstellung, dass uns in Jesus der wahre Mensch und der wahre Gott erscheint. Eine Gruppe sah in Jesus nur eine Rolle, die Gott wie ein Schauspieler nutzte, also eine Art menschliche Hülle, um auf der Erde zu wandeln. Eine andere Gruppe sah in Jesus nur einen Mensch, den Gott nach seinem Tod mit der Auferstehung „belohnte“ und zu sich in den Himmel aufnahm. Die Kirche aber feiert heute, dass der ewige Sohn Gottes in Jesus unser Fleisch annimmt, geboren wird aus Maria und so unser Menschsein teilt. Was spricht dafür? Die Argumentation übernimmt der Prolog des Johannes-Evangeliums, der uns Jahr für Jahr am Weihnachtstag als Evangelium verkündet wird.

Der sehr abstrakt erscheinende Text hat eine lange Entstehungsgeschichte. Am Anfang steht ein Gedicht auf die Weisheit Gottes, die schon Paulus mit Christus identifizierte, so dass der Ursprungstext bald als Christuslied diente, das später angefüllt wurde um Texte, die von Johannes dem Täufer erzählen, und das Bekenntnis derer, die Christus als das fleischgewordene Wort Gottes erkannt haben. Der Evangelist stellt den Prolog an den Anfang seines Evangeliums als Schlüssel und Lesehilfe für alle Erzählungen und Reden Jesu, die er im Folgenden überliefert. Der Leser bekommt also von Anfang die Brille an die Hand, durch die er Heilungen, Auseinandersetzungen, Jesu Reden über sich selbst verstehen kann. Nicht erst am Ende kommt als überraschender Schluss die Offenbarung Jesu als Sohn Gottes. Er ist wahrer Mensch und wahrer Gott in jeder Zeile. Für Johannes stolpert er nicht unvorhergesehen aus einer erfundenen Welt in das wirkliche Leben. Er ist von Anfang an das Wort Gottes, durch das der Vater alles, was lebt schuf. Es ist kein Durchgang von der Fiktion in die Realität, vielmehr kommt Gott in Jesus in sein Eigentum, also dorthin, wo er hingehört. Er ist hier kein Fremder, sondern der Urgrund, durch den alles geworden ist und ohne den nichts sein kann: „Alles ist durch das Wort geworden
und ohne es wurde nichts, was geworden ist. In ihm war Leben und das Leben war das Licht der Menschen.“

Jenseits aller theologischen Reflexionen über das Mensch- und Gottsein Jesu bestätigt die Erfahrungen derer, die erkannt haben, dass hier kein Schauspiel geboten wird, sondern das Leben der Menschen verändert wird. Der Mensch bleibt bei der Menschwerdung Jesu nicht unbeteiligter Zuschauer in einem Kino oder Leser unterhaltsamer Sagen, sondern wird herausgefordert zur Entscheidung. Die Menschwerdung Jesu wirkt sich aus auf die, zu denen er kommt: Sie erkennen und kommen zum Licht oder sie verwehren sich und bleiben im Dunkel. Wer ihn aber annimmt, der wird selbst Kind Gottes, also ihm gleichförmig. So können die Glaubenden im Prolog des Johannes-Evangelium am Ende bekennen: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt und wir haben seine Herrlichkeit geschaut, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit.“

Das „Wir“ der Menschen wird zum Garanten, dass die Fleischwerdung des Wortes Gottes keine Idee von Hollywood-Machern oder antiken Komödianten ist, sondern eine Erfahrung, die uns zu einer neuen Sicht auf das Leben einlädt.

Die Bilder von Nina Pearson und Thomas Kohnle, die uns in diesem Jahr durch den Advent und die Weihnachtszeit begleiten, konkretisieren diesen neuen Zugang zu allem, was lebt. Wir haben ihnen schon am ersten Advent die Überschrift „Würde“ gegeben. Würde ist ein Wert, den alles Leben in sich trägt, den sich niemand verdienen muss oder den ein anderer rauben kann. „Gott kommt in sein Eigentum“, nicht nur ins Fleisch des Menschen, sondern auch in seine Beziehungen zu den Mitgeschöpfen und in eine Welt, die er gut geschaffen hat. Würde des Lebens kann der Mensch feststellen, aber nicht geben durch Gesetze, Philosophien und Weltanschauungen.

Die Bilder deuten diese Würde des Lebens in drei Dimensionen.
Das letzte Bild zeigt uns den Menschen in einer erschreckenden
Radikalität. Jesus wird Mensch und es ist für uns selbstverständlich, dass er ein schöner Mensch sein muss. Haben Sie schon einmal ein Christusbild gesehen, das ihn mit Glatze oder ungeraden Gesichtszügen zeigt, auf dem er zu groß oder zu klein wirkt? Kein Künstler hätte sich über die Jahrhunderte getraut, Jesus nicht als perfekt darzustellen: weiche Gesichtszüge, attraktive Statur, jugendliche Haltung und personifizierte Autorität. Wie Jesus wirklich aussah, können wir von einige archäologischen Zeugnissen erahnen, aber nicht rekonstruieren. Dennoch muss Jesus schön sein. Denn er verkörpert das Gute und es legt sich nahe, dass die innere Schönheit nur durch äußere Attraktion wiedergegeben werden kann. Dennoch sollte uns immer bewusst sein, dass Jesus nicht das männliche Pendant zu Barbie war und auch eine gebrechliche Frau wie Mutter Teresa, die äußerlich wirklich nicht viel hermachte, die Güte in Person sein kann. V.a. macht Jesus deutlich, in welchen Menschen er erkannt werden will: „Was ihr dem Geringsten getan habt, das habt ihr für mich getan.“ Das fällt mir leicht zu verstehen im Blick auf Menschen, die unschuldig in Not geraten sind: Kranke, Hungernde, Trauernde. Schwieriger wird diese Identifikation mit anderen Menschen, so mit denen im Gefängnis, in denen Jesus nach der großen Weltgerichtsrede eben auch entdeckt werden will. Natürlich kann ein Mensch unschuldig im Gefängnis sitzen, aber zunächst unterstellen wir, dass es einen berechtigten Grund gibt, dass er weggesperrt ist. Wir können wenig über den jungen Mann auf dem Bild sagen. Vielleicht war er einmal sehr erfolgreich und hat dann alles verloren, weil eine Beziehung in Brüche ging, er im Beruf überfordert war oder in Abhängigkeiten geriet, die sein Leben zerstörten. Auch er hat noch seine Würde. Das wird in der solidarischen Tat des Haarschneidens gut angedeutet. Auch ihm Leben zu schenken, ist Jesus Mensch geworden.

Tiere gehören zu Weihnachten: Ochs und Esel, Schafe, später Kamel, Elefant und Pferd. Sie alle ziehen mit den Hirten und den Königen zur Krippe oder sind schon vorher da. Das Verhältnis der heutigen Menschheit zur Welt der Tiere ist extrem zwiespältig. Zum einen werden Tiere ausgenutzt als Mittel zur Forschung oder werden unter erschreckenden Bedingungen gehalten, weil sie nur als billige Nahrungsmittel gesehen werden. Zum anderen ist die Tierliebe so groß wie wohl zu keiner Zeit. Mancher will in Tieren bessere Menschen erkennen und weiß in einem Tier den besten Freund, während er Menschen misstraut und ihnen feindselig begegnet. Tierliebe kann auch eine Form von Egoismus sein. Zwei Extreme unserer Tage, die die Würde des Lebens von Tieren als Nutzobjekt oder Menschenersatz bedrohen. Das Tier ist Mitgeschöpf und darf nie verzweckt werden. Entscheidend ist die rechte Beziehung zwischen Mensch und Tier. Der Mensch darf Tiere nutzen, aber seine Interessen müssen immer auch so begrenzt werden, dass er auch die Bedürfnisse des Tieres im Blick hat. Auch das Tier, das alt und krank wird, hat eine Würde und ein Recht darauf, dass der Mensch sich ihm in Liebe zuwendet. Das Kind von Betlehem ist von Anfang an von Tieren umgeben und wird sich selbst als das Lamm Gottes verstehen, das sich hingibt für die Menschen.

Schließlich weitet das Mittelbild noch einmal das Kommen Jesu in die Welt auf die ganze Schöpfung. Wir haben Verantwortung für diese Erde als Lebensraum, den wir nutzen dürfen, aber auch verpflichtet sind, den kommenden Generationen zu erhalten. Ich erinnere an den Gedanken des ersten Advents: Der Mensch ist „Nachbar des Himmels“, er ist eingehüllt in die Unendlichkeit Gottes und steht doch mit beiden Füßen auf der Erde, die Gott heute betritt, heiligt und zu seiner Wohnung macht. Sie ist nicht das Jammertal, von dem alte Kirchenlieder singen, sondern Lebensraum für den Menschen und Ort der Menschwerdung des Gottessohnes. Gott selbst wird in Jesus diese Erde als den Festsaal des Lebens heiligen. Weil wir auf ihr eine Zeitspanne als „Nachbarn des Himmels“ leben dürfen und sie Gott gewürdigt hat, seinen Sohn Heimat zu sein, ist sie mehr als ein Supermarkt zur Stillung menschlicher Bedürfnisse, vielmehr Lebenshaus, das Gott geschaffen hat. Das ist ihre Würde.

Die Menschwerdung Jesu ist deshalb die entscheidende Wende der Weltgeschichte, weil sie uns aus Zuschauern zu Handelnden macht, uns berührt und verändert, weil wir erkennen , was Karl Rahner so unübertrefflich ins Wort gebracht hat:

Gott hat sein letztes, sein tiefstes, sein schönstes Wort im fleischgewordenen Wort in die Welt hinein-gesagt, ein Wort, das nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, weil es Gottes endgültige Tat, weil es Gott selbst in der Welt ist. Und dieses Wort heißt: Ich liebe dich, du Welt und du Mensch.“ (Karl Rahner)

Sven Johannsen, Pfr.

Barbie oder Jesus