Predigt zum 12. Sonntag im Jahreskreis 2025 – Wer hat nun Recht im Streit?

 

An jenem Tag wird die Klage in Jerusalem so groß sein […]“ (Sach 12,11a)

Als ich mich auf diesen Sonntag und dessen biblische Texte vorbereitet habe, dachte ich mir, daß die prophetischen Worte des Sachárja in der Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts angekommen sind. Daß es Krisen und Konflikte im Heiligen Land gibt, ist nichts Neues und leider auch für die Menschen dort nichts Außergewöhnliches. Jedoch daß die Lage so eskaliert ist, daß seit dem 07. Oktober 2023 Krieg in diesen Gebieten herrscht, Menschen aussichtlos gegeneinander kämpfen und sinnlos sterben müssen, ohne daß eine Lösung in Aussicht ist, ist eine menschliche und globale Katastrophe. Wer hat denn da nun Recht?

Sachárja, der in seiner Vision als Mahner auftreten will, lebte von 1.500 Jahren. Für die Israeliten der damals waren die Erfahrungen der Babylonischen Gefangenschaft mit den Verschleppungen, den Misshandlungen und den Kult- und Kulturentfremdungen prägend und vor allem verstörend. Dorthinein bringt Sachárja seine Beschreibung eines Sohnes, der von den Mächtigen verstoßen und ermordet wird. Er nennt sogar die Todesursache: Durchbohrung. Wer hat da nun Recht die Verurteiler oder der Gemarterte?

Sachárja läßt zunächst diese Frage offen, weil ihre Beantwortung einem Urteil gleichkommt. Was geschehen ist in dieser Katastrophe, die der Prophet beschreibt, ist nicht mehr rückgängig zu machen. Auffallend ist in den Worten des Sachárja allerdings die Sicht- und Sprechweise dessen, der so Grausames erleidet: Er ist ein »Ich«. Das macht er gleich viermal deutlich:

  • Ich werde Mitleid ausgießen.
  • Auf mich werden sie blicken.
  • Um mich werden sie klagen.
  • Über mich werden sie weinen.

 

Das Leid des Menschen bekommt ein Gesicht, kann personell angesprochen werden und wird menschlich greifbar. Damit soll erreicht werden, daß der Leser und der Zuhörer des Textes sich besser mit ihm identifizieren kann. Vielleicht sogar, daß er die Emotionen und Gefühle dessen mitempfindet, der im Text zu Wort kommt. Jerusalem erhält eine Ansprechperson auf Augenhöhe, die die Missstände ganz klar aus eigener Sicht benennt. Ist der Text tatsächlich erst vor 2.000 Jahren verfasst worden oder doch erst vor zwei?

 

Eine heutige mahnende Stimme im Heiligen Land, die diplomatisches Geschick, wie auch eine gewisse Einsicht in beide Kriegsparteien besitzt, ist der dortige Patriarch Pierbattista Kardinal Pizzaballa. (Die meisten von uns haben seinen Namen wahrscheinlich in den Medien als einen Favorit für das Konklave gehört.) In einem Interview mit Domradio.de vor vier Wochen äußerte er, daß es im Heiligen Land immer Konflikte geben wird. Seit es Menschen dort gibt mit verschiedenen Ansichten und Meinungen von der richtigen Religion und deren Auslegung und Auslebung, wird es Streitigkeiten geben! Und der Kardinal nennt die Lage dort „dramatisch“. Einen anderen treffenderen Begriff gibt es wohl kaum. Wer hat da denn Recht?

Eine abschließende und allgemein gültige Antwort auf diese Frage wird es nicht geben! Auch Kardinal Pizzaballa wagt nicht, sich auf eine Seite zu stellen. Er fordert zu Recht aber zunächst eine Waffenruhe auf beiden Seiten, weil er weiß, daß ein echter Frieden nicht sofort erreichbar ist. Krieg ist immer sinnlos auf allen Seiten und in allen Absichten. Und wichtiger als die Frage nach dem „Recht“ oder dem „Unrecht“ ist die nach meiner Grundhaltung. Diese Einstellung hat mich persönlich im Interview Pizzaballas mit Domradio.de beeindruckt. Ich darf ihn zitieren: „[…] es gibt auch viel Gutes“. Er meint, daß eine innere Entmutigung durch die äußeren Umstände nichts bringe. Während all der Aussichtslosigkeit schöpft er Kraft in seinem Glauben und ermutigt damit auch die Menschen, die wie er direkt vom Krieg betroffen sind. Bei allem Schlechten sieht der Kardinal doch den Gott, der den Menschen erst recht in den Notzeiten des Lebens beisteht.

Ich meine, daß es dem Kardinal und allen Kriegsbetroffenen nicht um die Frage geht: Wer hat denn da nun Recht? Es geht vielmehr darum, daß im Heiligen Land und darüber hinaus Kriegstreiber denken, daß sie sie Messias sind und sich für gottgleich halten. Ich weiß, daß es das psycho-pathologische Phänomen des Messias-Syndroms gibt. Es tritt besonders in Jerusalem nachweislich auf. Aber in Zusammenhang mit diesen kriegerischen Auseinandersetzungen geht es um Größenwahn. Und das ist das Schlimme daran: Einzelne Menschen oder Menschengruppen entscheiden über das Leben und das Schicksal eines Einzelnen.

 

Das ist der Unterschied zu demjenigen, den Sachárja schon vor 1.500 Jahren zu Wort kommen läßt: Er läßt nicht töten, er läßt sich töten. Er erhebt nicht zwangsläufig den Anspruch gottgleich zu sein, sondern er ordnet sich unter. Mit diesem Beispiel will er den Mächtigen zeigen: Jetzt ist die Zeit des Mitleids und Entschuldigung gekommen. Für die einfachen und unschuldigen Zivilisten wie auch Soldaten steht die Zeit des Friedens, der Ruhepause und der Versöhnung an. Gott ruft das immer wieder durch alle Zeiten zu auf unterschiedliche Weise und durch verschiedene Personen. Nur der Mensch hört ihn nicht, weil er selbst denkt, er hat Recht. Das mag er denken, aber Gott hat das letzte Wort in der Geschichte und vor allem in unserer Zukunft.

Hören wir bitte nicht auf, für die Menschen in Israel und in Palästina und in den anderen Kriegs- und Krisengebieten auf unserer Erde zu beten. Sie brauchen unsere Unterstützung! Sie brauchen ihren Messias, den die Mächtigen durchbohrt haben! Sie brauchen ihren Gott, der darin das Recht besitzt!

 

Kaplan Tommy Reißig.

Interview mit Pierbattista Pizzaballa: Domradio.de, URL: https://www.domradio.de/artikel/patriarch-pizzaballa-sieht-nahost-ein-vorbild (letzter Zugriff: 02.06.2025).
Bild: Sylvio Krüger, in: Pfarrbriefservice.de